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Zeitreisen: Vier Frauen, zwei Jahrhunderte, ein Weg
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eBook324 Seiten4 Stunden

Zeitreisen: Vier Frauen, zwei Jahrhunderte, ein Weg

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Über dieses E-Book

1840 reisten die Engländerinnen Anne Lister und Ann Walker im Pferdeschlitten auf der zugefrorenen Wolga bis zum Kaspischen Meer und weiter über den Großen Kaukasus nach Tbilissi und Baku. Anne Lister starb völlig unerwartet auf einer Bergtour in Georgien. Ihre Gefährtin Ann Walker benötigte sieben Monate, um den Sarg mit der Leiche der Geliebten zurück nach Halifax zu bringen. Nach dem Entschluss, eine Biografie über die freizügige Tagebuchautorin und verwegene Reisende Anne Lister zu schreiben, begibt sich Angela Steidele auf die Spuren des außergewöhnlichen Paars, begleitet von ihrer Russisch radebrechenden Frau. Hilft ihre Reise, die Abenteuer von Anne und Ann zu würdigen? Was erzählen die Orte, Landschaften und Menschen heute von fernen Zeiten? Kann man überhaupt in die Vergangenheit reisen? Welche Vergangenheit? Zeitreisen erlaubt einen so anschaulichen wie vergnüglichen Blick in die Werkstatt einer Biografin und bildet den zweiten Teil einer Trilogie von Angela Steidele zu biografischem Schreiben, die mit Anne Lister. Eine erotische Biographie (2017) begonnen hat und mit einer Poetik der Biographie 2019 schließen wird.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum31. Aug. 2018
ISBN9783957576712
Zeitreisen: Vier Frauen, zwei Jahrhunderte, ein Weg
Autor

Angela Steidele

Angela Steidele, 1968 geboren in Bruchsal, erforscht und erzählt historische Liebesgeschichten. Sie veröffentlichte u. a. In Männerkleidern. Das verwegene Leben der Catharina Linck alias Anastasius Rosenstengel, 2004, sowie Geschichte einer Liebe: Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens, 2010. Für ihr literarisches Debüt Rosenstengel erhielt sie 2015 den Bayerischen Buchpreis. Ihre Trilogie zu biographischem Schreiben schließt Angela Steidele nach Anne Lister. Eine erotische Biografie, 2017, und Zeitreisen. Vier Frauen. Zwei Jahrhunderte. Ein Weg mit der Poetik der Biographie ab. Angela Steidele lebt in Köln.

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    Buchvorschau

    Zeitreisen - Angela Steidele

    Anmerkungen

    Georgien 1840

    Seit über einem Jahr waren Anne Lister und Ann Walker bereits auf Reisen, als sie über die Gebirgszüge und durch die dicht bewaldeten Täler des Großen Kaukasus ritten. Am 11. August schlugen die beiden Engländerinnen ihr Lager in einer kleinen Maisscheune auf, und Anne Lister schrieb wie an jedem Abend in den letzten 36 Jahren in ihr Tagebuch; jetzt, um 8:25 Uhr, habe ich gerade die letzten 19 Zeilen geschrieben. Im Norden Berge, davor bewaldete Bergrücken, hier und da kleine bewaldete konische Gipfel. Die Hügel an den Seiten eingekerbt, kleine konische Gipfel auf den seitlichen Bergrücken. Tee usw. jetzt um 8:25 Uhr. Legen uns um 9:30 Uhr hin.¹ Deuten die Wiederholungen der konischen Berge und der Uhrzeit auf eine Konzentrationsschwäche hin? Anne Lister sollte nie wieder Tagebuch schreiben. Sie erkrankte am heißen Fieber und starb sechs Wochen später.

    Anne Listers unersättliche Reiselust hatte die beiden Frauen an diesen Ort geführt, Tausende Kilometer von ihrer englischen Heimat entfernt. Ann Walker hatte nie hierherkommen wollen, in diese ihrem Verständnis nach äußerst abgelegene Weltgegend, Monate Reisezeit von allem entfernt, was sie als Zivilisation empfand. Jetzt war sie hier allein. Wie wir hören, wurden die sterblichen Überreste dieser bemerkenswerten Dame einbalsamiert. Ihre Freundin und Gefährtin, Miss Walker, wird sie … nach Hause überführen, um sie in der Familiengruft bestatten zu lassen,² berichtete daheim der Halifax Guardian in der Todesanzeige von Anne Lister.

    Mit der Leiche nahm Ann Walker denselben Weg zurück, den sie gekommen waren, über Tbilissi und Moskau nach Yorkshire. Den Großen Kaukasus überquerte sie auf der sogenannten Georgischen Heerstraße, die über den Kreuzpass (2 379 m) am sagenumwobenen Kasbek (5 047 m) vorbeiführt. Der Saumpfad war an vielen Stellen so schmal, dass Wanderer sich kaum ausweichen konnten; neben dem Pfad gähnte bisweilen ein kilometertiefer Abgrund. Im April jenes Jahres war Anne Lister stellenweise zu Fuß gegangen; Ann Walker hatte sich geweigert, aus dem kleinen russischen Wagen zu steigen, vor Angst gelähmt, von einem Weinkrampf geschüttelt. Jetzt musste sie diese steile Wand wieder hinauf. Und Anne lag im Sarg.

    Wie brachte man 1840 einen Sarg über den Großen Kaukasus? Stelle ich mir Ann Walkers Rückreise vor, kommt mir der Flussdampfer in den Sinn, der in Werner Herzogs Fitzcarraldo über einen Bergrücken gezogen wird, oder Das Piano von Jane Campion in den Wäldern Neuseelands. Auf dem Hinweg hatten Anne und Ann allein für ihr Gepäck 17 Träger angeheuert. Kam der Sarg jetzt zu den Kofferkisten? Wurde er von vier Männern getragen oder auf einem Leiterwagen mühsam Stück für Stück den holprigen Gebirgspfad hochgezerrt? Wie schwer war das Ding überhaupt, mit einer mageren mittelgroßen Frau darin, die man vermutlich in Sägespäne gebettet hatte? Ich lese mir an, dass man auch früher schon Zinksärge verwendete, um Leichen über weite Strecken zu transportieren. Sie sind vergleichsweise leicht, von bakterienhemmender Wirkung und, wenn verlötet, tropfdicht; die eilige Präparation von Anne Listers Leiche mag die Verwesung nicht vollständig unterbunden haben. Aber war 1840 in Georgien ein Zinksarg zu haben?

    Den Hinweg hatte Anne Lister ausführlich in ihrem Tagebuch beschrieben. Über den Rückweg ist kaum etwas bekannt. Nur so viel ist sicher: Ann Walker erreichte Moskau vermutlich zu Beginn des Winters und ließ ihre Gefährtin provisorisch bestatten. Im Frühjahr fuhr sie mit dem Sarg nach Yorkshire zurück. Am 29. April 1841 wurde Anne Lister in der Familiengruft in der Halifax Parish Church beigesetzt. Ann Walker war sieben Monate und rund 5 000 Kilometer mit einer Leiche unterwegs gewesen.

    Yorkshire 2014

    Meine Frau und ich betrachten in Shibden Hall Anne Listers Reisewagen, den Ann Walker von Moskau zurückbrachte. Recherchen für eine Biographie über Anne Lister verhelfen uns zu Ferien in Yorkshire, das wir lieben, ohne je dort gewesen zu sein; als Kinder schauten wir beide Der Doktor und das liebe Vieh. Drei Wochen bewegen wir uns zu Fuß und auf dem Tandem in den Moors, den Valleys, den Wolds und auf dem Pennine. Zu Anne Listers und Ann Walkers Zeit war die industrielle Revolution in vollem Schwung; in Halifax wuchs die Zahl der rauchenden Kaminschlote so schnell wie das Elend der Arbeiterinnen. Heute verrotten die Mills; geblieben ist nur die Verwüstung der Natur. Wir werden in Halifax so überrascht begrüßt wie Engländerinnen, die in Gelsenkirchen Urlaub machen. Vor einer Woche hätten wir kommen sollen, da war was los! Die Tour de France, hier, in der Heimat von Chris Froome! Susette zieht ihr neues T-Shirt nicht mehr aus: »Release your inner cyclist.«

    Shibden Hall, Anne Listers Landsitz, liegt auf dem Berg oberhalb von Halifax. Hier glaubt man, die Zeit sei stehengeblieben. Old England. Der alte Gutshof wurde in ein Museum verwandelt. Man kann Anne Listers Esstisch mustern, ihr Schreibzeug und ihre falschen Haarlocken. Hier lebte sie mit Ann Walker. Und doch trügt der Schein: Anne Lister hat dieses Haus nie so gesehen. Nachdem sie umfangreiche Veränderungen angeordnet hatte, floh sie vor der Baustelle. Ich fühle mich in Shibden Hall wie bei Anne Lister zu Hause; aber sie selbst würde ihr Heim kaum wiedererkennen.

    Im Stadtarchiv in Halifax blättere ich in Anne Listers Tagebüchern. Sie gehören mittlerweile dem Weltdokumentenerbe der UNESCO an. Zu einer Zeit, in der Jane Austen und die Brontë-Schwestern ihre Romanheldinnen auf den richtigen Mann warten ließen, schrieb Anne Lister unverblümt von ihrer Lust mit anderen Frauen. Helena Whitbread und Jill Liddington haben die geheimschriftlichen Passagen entziffert und herausgegeben. Unveröffentlicht blieben die Arbeiten von Phyllis Ramsden und Vivien Ingham, beide lange schon verstorben; ihre Studien für ein Buch über Anne Listers Reisen ruhen ebenfalls hier im Archiv. Susette fotografiert rund zweitausend Schreibmaschinenseiten für mich und erstellt ebenso viele Fotokopien. »Hast du dir deinen Sommerurlaub so vorgestellt?«

    Vergeblichkeit

    Während ich Anne Lister. Eine erotische Biographie schreibe, stehen zwei Postkarten aus Shibden Hall auf meinem Schreibtisch: eine Ansicht des Hauses und Anne Listers Porträt. Über ihre Tagebücher und Briefe versuche ich, ihr nahezukommen und mir ihre Lebenswelt vorzustellen. Auf Landkarten markiere ich alle »ihre« Orte mit Leuchtmarker. Verdeutliche mir, wie sich die heutigen Verkehrswege aus den damaligen entwickelt haben. Reise in Gedanken und auf dem Papier an ihrer Seite durch Yorkshire, nach Frankreich, von Schottland bis Norditalien. Freue mich, die meisten Orte und Landschaften aus eigener Anschauung zu kennen. Nur in Russland und im Kaukasus war ich noch nicht. Bücher, Reiseführer, historische Reisebeschreibungen oder gar Google Earth können den persönlichen Eindruck nicht ersetzen. Keine Frage: Um die Biographie schreiben zu können, muss ich dorthin, wo Anne Lister gestorben ist.

    Leider weiß ich schon im Vorhinein: Es ist vergeblich. Wer in die Vergangenheit reisen möchte, kommt nie an. Muss aber dennoch aufbrechen, in der größten Gewissheit, das Reiseziel zu verfehlen. Historische Darstellungen wären noch unvollkommener, als sie es ohnehin sind, versuchte man sich nicht an einer solchen Zeitreise. Wer sich an die Tafel der Vergangenheit setzen möchte, kann nur hoffen, im Stolpern das Tischtuch zu greifen und gewitzt die Scherben aufzuklauben.

    Anne und Ann

    Als Anne Lister und Ann Walker 1839 zu ihrer großen Reise aufbrachen, waren sie seit fünf oder sieben Jahren ein Paar – je nachdem, ob man ihre Affäre im Herbst 1832 mitzählt. Ann Walker (1803–1854) hatte sich in die androgyne Anne Lister verliebt, die nur Schwarz trug und beim Flirten mit ihrer Uhrkette spielte. Anne Lister (1791–1840) hatte damals nach mehreren langjährigen, parallel geführten Liebesbeziehungen und zahlreichen Abenteuern Abschied von ihrem Lebenstraum nehmen müssen: Die schöne, junge, reiche und hochadelige Frau, die zu ihr aufsah und bereit war, mit ihr zu leben, würde sie nicht mehr finden. Also verführte sie ihre Nachbarin Ann Walker, die zwar nicht schön und auch nicht von Adel war, aber immerhin zwölf Jahre jünger und wohlhabend. Doch schon 1833 trennten sie sich wieder. Anne Lister reiste nach Kopenhagen, von wo sie weiter nach Russland wollte; wer St. Petersburg nicht gesehen hat, hat gar nichts gesehen,³ hatte ihr jemand gesagt. Wegen einer lebensbedrohlichen Erkrankung ihrer geliebten Patentante brach sie die Reise jedoch ab und kehrte nach Halifax zurück. Die Tante überlebte, Anne Lister und Ann Walker nahmen ihre Affäre wieder auf, und am 10. Februar 1834 begingen sie schließlich heimlich ihren Hochzeitstag. Anne trug fortan einen goldenen Reif, Anns Trauring dagegen war mit einem Onyx besetzt, dessen Schwarz an Anne erinnern sollte. Ihre Flitterwochen verbrachten sie in Paris und in den Alpen, wo sie den Mont Blanc umrundeten. Anschließend zog Ann Walker zu Anne Lister nach Shibden Hall.

    Für Halifax war das ein Skandal, den man jedoch nicht so recht in Worte zu fassen wusste. Über Anne Lister war schon immer getuschelt worden. Gewiss verhalte ich mich eigen, nicht besonders männlich, sondern eher wie ein sanfter Kavalier. Ich weiß, wie man Frauen gefällt.⁴ Ihre Familie und ihre Bekannten wussten, dass sie sich nach einer Frau an ihrer Seite sehnte. Über die sexuelle Natur dieser Sonderlichkeiten,⁵ wie Anne Lister selbst sagte, schwieg sich die bessere Gesellschaft aus. Einfachere Leute nahmen kein Blatt vor den Mund. Oben an der Cannery Lane sagten drei Männer wie üblich »Das ist ja ein Mann«, und einerfragte: »Steht dein Schwanz?«⁶ Als Ann Walker ihren eigenen Hausstand auflöste und mit Anne zusammenzog, erschienen im Leeds Mercury, im York Chronicle und im Halifax Guardian Zeitungsenten unter den Hochzeiten von letztem Mittwoch: »Am selben Tag, in der Pfarrkirche von H-x, Captain Tom Lister von Shibden Hall mit Miss Ann Walker, wohnhaft in Lidgate nahebei.« Das bloßgestellte Brautpaar erhielt anonyme Glückwünsche »zu ihrer glücklichen Vereinigung.«⁷ Andere setzten Geschichten über Adny und mich in die Welt, wie ich sie austrickse und sie um all ihr Geld betrüge.⁸

    Anne Lister und Ann »Adny« Walker trotzten solchen Anfeindungen und nahmen beim Gottesdienst nebeneinander in der ersten Reihe Platz. Anne Listers Adel und Ann Walkers Vermögen schützten sie vor der gesellschaftlichen Ächtung, aber sie bewegten sich auf einem schmalen Grat. Glücklich wurden sie nicht miteinander. Ihre feindselige Umgebung hatte gewiss einen Anteil daran; schwerer wogen die wechselseitigen Enttäuschungen. Ann Walker wollte Liebe, Anne Lister Geld. Von Ann Walkers Erbe kaufte sie Grundstücke, legte zwei Kohleminen an, ließ ein Stadthaus in ein Hotel umbauen und Shibden Hall bedeutend erweitern. Zwistigkeiten bestimmten den Alltag der anlehnungsbedürftigen Ann und der durchsetzungsstarken Anne.

    Am besten verstanden sie sich auf Reisen. Anne Lister reiste leidenschaftlich gern und hatte ganz Großbritannien erkundet, Belgien und die Niederlande, Norditalien und Frankreich. In den Pyrenäen bestieg sie 1830 den Monte Perdido (3 355 m); mit Schlaufen band sie den Saum ihres Kleids und ihrer Unterröcke bis zu den Knien hoch, um die Hände frei zu haben für Wanderstock und Eispickel. Auch Ann Walker war gut in Form; sie bestieg mit Anne 1838 in den Pyrenäen den Pimené (2 801 m) und den Pic du Midi d’Osseau (2 884 m). Ihre Besonnenheit hielt sie jedoch von Gefahren ab, die ihre Partnerin reizten: Anne Lister bezwang auf dieser Reise den Vignemale (3 298 m), den zuvor nur ihre Bergführer bestiegen hatten.

    Zurück in Halifax stritten sich die beiden Frauen im Winter 1838/39 wieder bitterlich. Anne Listers Investitionen warfen kein Geld ab. Ann Walker hatte ohne Ehefrau besser und komfortabler gelebt; mehrfach versuchte sie, sich von ihr zu trennen. Doch Anne konnte sich eine Trennung nicht leisten und umschmeichelte Ann erfolgreich. Da Shibden Hall eine ungemütliche Baustelle geworden war und zudem gesellschaftliche und finanzielle Probleme sie bedrängten, ließ sich Ann schließlich auf Annes Vorschlag ein, gemeinsam eine große Reise zu unternehmen. Die 36-jährige Ann Walker glaubte, es gehe in einem weiten Bogen über Skandinavien bis nach Moskau und wieder zurück. Die 48-jährige Anne Lister betrachtete Moskau als erste Etappe auf dem Weg nach Teheran, ja Bagdad. Davon erzählte sie ihrer Gefährtin vorerst jedoch nichts.

    Susette und Angela

    Susette ist so alt wie Anne, als wir uns auf den Weg machen, und ich muss ein so beklemmendes wie idiotisches Gefühl bekämpfen, ihr könne deshalb etwas zustoßen und ich, die um zwei Jahre Jüngere, würde Witwe werden und sie nach Hause überführen müssen. Ein Paar sind wir schon viel länger als Anne und Ann. Keine von uns hat die andere nur wegen ihres Geldes gewollt. Glaube ich. Auch wir leben zusammen in einem Haus, doch haben wir keine heimliche Zeremonie unter vier Augen vollzogen, sondern unsere Lebenspartnerschaft auf dem Standesamt eintragen lassen. Susette muss mit auf die Reise, denn sie spricht und versteht »Osteuropäisch«. Sie ist Richterin und begleitete die Erneuerung des bulgarischen Prozessrechts in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, damit Bulgarien der EU beitreten konnte. Während der zwei Jahre in Sofia hat Susette »Gastarbeiter-Bulgarisch« gelernt, wie sie sagt. Sie kommt damit überall in Osteuropa durch, sei es in der Loipe im Böhmerwald oder an der Tankstelle in Zopot. Ich weide mich stets am Gesichtsausdruck ihrer Gesprächspartner: Wo hat die bloß so komisches Russisch gelernt?

    Zur Einstimmung auf unsere Reise hören wir Musik (»Kosaken hey! hey! hey! werft die Gläser weg! Natascha ha! ha! ha! du bist schön!«) und nehmen aus der Kölner Stadtbibliothek alle Filme mit, die uns russisch erscheinen. John Hustons Der Brief an den Kreml (1970) ist nur wegen einer Nebenepisode bemerkenswert: Ein Sowjet wird mit Filmsequenzen gefoltert, die seine Tochter zeigen, wie sie von einer dämonischen Lesbe verführt wird. Dem hartgesottenen Russen kommen die Tränen, er schwitzt und flucht und verzweifelt; hätte ihn der gefilmte Mord an seiner Tochter weniger geschmerzt als ihre Lust mit einer Frau? Auch in Liebesgrüße aus Moskau (1963) tritt eine böse russische Lesbe auf. Die alte Lotte Lenya darf noch vor Sean Connery das Bond-Girl befummeln. »Weißt du noch, ich hab dir mal eine Postkarte von der Lenya geschickt, das tolle Jugendporträt mit Zigarette.« »Sind böse Russinnen in westlichen Filmen eigentlich immer lesbisch?«

    Wir schauen uns russische Originalproduktionen an. Oktober (1928) von Sergej Eisenstein zeigt den Sturz der bürgerlichen Regierung Kerenski, die im Sinne der seinen Film finanzierenden Sowjets als erbärmlich und verdorben dargestellt wird: Die Kamera schwelgt in Bildern von dem berühmten Frauenbataillon, das den Winterpalast verteidigt. Die besseren Soldatinnen werden beim Anblick von Rodins Skulptur Der Kuss – man befindet sich in den Kunstsammlungen der Éremitage – nachdenklich, sehnen sich nach einem Mann und geben auf. Die Verruchten dagegen bleiben und schmachten sich gegenseitig an. Blicke werden getauscht, Brüste heben sich. »Vielleicht ist die böse russische Lesbe gar kein Hollywoodklischee, sondern historisch verbürgte Wahrheit?«

    Während ich Flüge und Zimmer buche, bestellt Susette bei einem Berliner Hinterhofladen zwei Häkelbärte; einen aus schwarzer Wolle für sich, einen braunen für mich. Sitzt dank Mundschlitz und zwei Gummibändern perfekt. Die passenden Kopfbedeckungen aus Fell hat Susette schon früher aus Bulgarien mitgebracht. »Warum hast du die in die Karnevalskiste gesteckt?« Aus zwei alten Gürteln bastelt sie sich einen kaukasischen Patronengurt, über der Brust gekreuzt. Als Patronen nimmt sie Tampons. Die Idee ist geklaut. Joana Vasconcelos hat vor Jahren Versailles mit feministischen Kunstwerken hinreißend klug und komisch kommentiert; die Skulptur »A Noiva«, ein riesiger Kronleuchter, bestand aus 25 000 Tampons. Für Susettes kaukasischen Patronengurt reicht eine 64er-Packung. Mit Geduld, ruhiger Hand und Sekundenkleber befestigt sie die Tampons parallel nebeneinander auf den Gürteln. Ich wickele mir einen Schal um den Bauch und ergreife das Plastikschwert, mit dem ich früher immer meinen Bruder totgestochen habe. Kaukasus, wir kommen.

    In der Pferdekutsche

    Anne Lister und Ann Walker brachen am 20. Juni 1839 von Halifax auf, in der Kutsche, von Pferden gezogen. Nur zu Wasser hatte das Dampfzeitalter schon Fahrt aufgenommen; zu Lande vergingen noch zwei, drei Jahrzehnte, bis in England und auf dem Kontinent ein nennenswertes Eisenbahnnetz ausgebaut war. Anne Lister und Ann Walker gehörten der letzten Generation an, die in der Pferdekutsche reiste. Viele Überlandstraßen waren in England und Frankreich mittlerweile chaussiert, d. h. sie waren auf einem erhöhten Damm angelegt, entwässert und mit unterschiedlichen Schichten Schotter befestigt. Je weiter man jedoch in die Provinz, vor allem aber nach Osten kam, desto schlechter wurden die Straßen; das fing schon in den deutschen Ländern an. Doch auch hier waren an den Hauptverkehrswegen die Posthaltereien gut eingerichtet, bei denen man die Pferde wechseln und wo man einkehren und übernachten konnte. Die alten Hotels »Zur Post« erinnern noch an diese Zeit.

    In England wie in Deutschland fuhr man üblicherweise »mit der Post« oder mit einer Diligence, einem Eilwagen. Anne Lister und Ann Walker benutzten jedoch keine öffentlichen Verkehrsmittel, sondern ihren eigenen Reisewagen, der sich schon auf vielen tausend Kilometern bewährt hatte. Fuhr man mit der Post, saß man eng gedrängt zwischen den anderen Reisenden und musste ihr Geschwätz, ihr Schnarchen und ihre Ausdünstungen ertragen. Die eigene Kutsche schenkte nicht nur Privatsphäre; sie erlaubte auch, viel Gepäck mitzunehmen, sich bequem auf der Fahrt einzurichten und Pausen einzulegen, wann immer man wollte. Dennoch nutzten Anne und Ann die Routen der Postkutschen, hatten sie doch keine eigenen Pferde dabei: Das wäre viel teurer und auch langsamer gewesen, weil die Tiere hätten ausruhen müssen. So mieteten sie an jeder Posthalterei frische Pferde für die nächste Strecke und kamen rasch voran.

    Für die Betreuung und Instandhaltung der Kutsche, die Sorge um das Gepäck und alle gröberen Arbeiten benötigten Anne und Ann einen männlichen Diener. Fürs Ankleiden und Frisieren, für das Waschen ihrer Wäsche, das Ausbessern der Kleider usw. war ihnen die Hilfe einer Kammerjungfer unverzichtbar. Auf ihren Reisen hatten Anne und Ann schlechte Erfahrungen mit englischen Dienstboten gemacht, die mangels Sprachkenntnissen im Ausland kaum zurechtkamen. Per Annonce fanden sie für ihre große Reise das Ehepaar Groß. Sie war zwar Engländerin, er aber war Deutscher. Deutsch wurde damals im Norden eher verstanden als Englisch oder Französisch, das die beiden Damen als einzige Fremdsprache beherrschten, Anne besser, Ann schlechter.

    Ihre Ausrüstung stellten sie gemäß ihrer früheren Erfahrungen zusammen. Sie packten Kleidung, Schuhe und Hüte sowohl für Fußmärsche ein als auch für festliche Gelegenheiten, für Sommerhitze und Winterkälte. Bücher kamen in eine eigene Holzkiste, eine andere enthielt einen Spirituskocher, einen Kochtopf, etwas Geschirr und Besteck. Für das Tagebuch- und Briefeschreiben unterwegs besaß Anne einen eigenen Reiseschreibtisch, der Papier, Tinte und Sandbüchse, Briefmesser und Lineal bereithielt sowie eine Uhr und ein Thermometer. Die beiden Messgeräte waren für sie unverzichtbar. Seit vielen Jahren maß Anne Lister bei all ihren Tätigkeiten die Zeit, beim Kirchgang wie beim Sex. Jeden Tagebucheintrag begann sie mit der Schilderung des Vorabends: wann genau und wie oft sie und ihre Partnerin sich geliebt hatten (mit Ann hieß es allerdings oft: Kein Kuss⁹). Danach maß sie die Außentemperatur und notierte, wie am Morgen das Wetter war.

    Von Halifax fuhren Anne und Ann zunächst nach London, wo sie ihre Ausrüstung noch um einen Kompass, ein kleines Fernrohr und einen besonders präzisen watch-chronometer ergänzten. Diese Uhr sollte auf der ganzen Reise stets die Greenwich-Zeit anzeigen. Ihre Alltagsuhr stellte Anne Lister während der Reise auf die jeweils lokale Zeit ein, die noch überall dem Sonnenstand folgte; erst im Eisenbahnzeitalter wurde die Uhrzeit in den Territorialstaaten vereinheitlicht. Anne Lister unternahm daher buchstäblich eine Zeit-Reise: Die hingebungsvolle Sorgfalt, mit der sie einerseits die Greenwich-Zeit hütete und andererseits die lokale Zeit maß, machte ihre Reise zu einem unentwegten Abgleich zweier Zeiten.

    In London führte Anne Lister bei Hammersley an der Pall Mall ein Konto. Das große Bankhaus stellte ihnen Kreditbriefe im Wert von je 25 £ aus, die von Banken in größeren Städten in die lokale Währung umgetauscht werden konnten. Ihre Bank in Halifax war angewiesen, Annes Londoner Konto regelmäßig auszugleichen. Hammersley besorgte ihnen auch einen Reisepass. Das war damals noch kein 32-seitiges Büchlein »Für alle Länder«, sondern ein loses Blatt, vom Foreign Office ausgestellt für Anne Lister, meine Nichte, Mademoiselle Ann Walker¹⁰ und ihre Diener, und galt nur für diese Reise und die Länder des Nordens und Russland.¹¹ Dieses Blatt wurde von einem Mitarbeiter der Bank den jeweiligen Botschaften in London vorgelegt, die mit einem visé die Einreise erlaubten. Diese »Sichtvermerke« kosteten die Reisenden am wenigsten Zeit und Einsatz.

    Visum

    Ein Visum für Russland sei nur schwer zu bekommen, warnen verschiedene Online-Reiseagenturen. Auf der Homepage der Russischen Botschaft lese ich nach, was für ein Touristenvisum verlangt wird:

    1. Reisepass

    2. Visumantrag (mit Link)

    3. Ein Passbild, Format 3,5 × 4,5 cm

    4. Krankenreiseversicherungsnachweis

    5. Garantie der Rückkehrwilligkeit

    6. Einladung bzw. Reisebestätigung des russischen Reiseveranstalters mit folgenden Angaben: Nummer der Reisebestätigung mit der Schreibmaschine oder typographisch lesbar angegeben; Reiseziel und Aufenthaltsort; Adresse des Reiseveranstalters und seine Ref. Nr. gemäß der Liste der touristischen Organisationen, die Reisen nach Russland veranstalten; zusätzliche Angaben. Eine solche Reisebestätigung wird von einem bevollmächtigten Mitarbeiter des Reiseveranstalters unterschrieben und mit einem Stempel dieses Reiseveranstalters versiegelt.

    Aha. Deshalb also hat sich ein unseriöser Markt etabliert, der Visa gegen Geld verspricht. Aber jetzt ist mein Ehrgeiz geweckt. Ich möchte ein Visum ohne Zwischenhändler bekommen, direkt vom russischen Generalkonsulat in Bonn. Reisepass und Passbild verstehen sich von selbst. Die Reisekrankenversicherung muss eine Deckung von mindestens 30 000 € haben und wird nur von denjenigen ausländischen Versicherungsunternehmen akzeptiert, die den Rückversicherungsvertrag mit einem russischen Versicherungsunternehmen abgeschlossen haben. Oh. Ich rufe bei meiner Auslandskrankenversicherung an, die ich für 8 € jährlich mitlaufen lasse. Für ein Visum bräuchte ich so einen komischen Nachweis – da unterbricht mich mein Gesprächspartner lachend: »Ja, ja, kennen wir schon, Kuba und Russland! Kein Problem, schicken wir Ihnen zu.«

    Als nächstes nehme ich mir die Garantie der Rückkehrwilligkeit vor. Die sind ja lustig. Wie kann ich beweisen, dass ich in Russland weder Sozialhilfe noch Asyl beantragen möchte? Soll ich einen bösen Brief über die simulierte Demokratie Putins schreiben? »Hab dich nicht so. Diese Bestimmungen spiegeln nur, was Deutschland von Russen für ein Visum verlangt; im Diplomatensprech heißt

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