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Gelobtes Land: Leev
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eBook358 Seiten4 Stunden

Gelobtes Land: Leev

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Über dieses E-Book

Leben oder Überleben: Landesweit gesucht und in die Isolation der Berge gezwungen, muss die 18-jährige Lore sich den sogenannten Aussteigern im Widerstand gegen das Oberhaupt der Neuen Welt anschließen. Der weist jegliche Mitschuld an einem skrupellosen Mord von sich und bezichtigt hingegen die Anführerin der Rebellen der Lüge und Manipulation. Ein Kampf um die Wahrheit beginnt.Lore wähnt sich auf der richtigen Seite, bis sie auf Geheimnisse stößt, die nicht nur ihre, sondern die Sicherheit der gesamten Neuen Welt bedrohen. Mit Hilfe ihrer großen Liebe Jul geht sie ein Risiko ein, dass sowohl ihren, als auch seinen Clan auslöschen könnte.LEEV - Der dritte Band zur Trilogie über Hoffnung, Glaube und Liebe in einem von Klimawandel und Machtspielen geprägten Europa der Zukunft.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum9. März 2020
ISBN9783968586632
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    Buchvorschau

    Gelobtes Land - Christine Heimannsberg

    Liebe

    PROLOG

    Ich bin Teil einer Bewegung.

    Wir haben keinen Namen. Kein Erkennungsmerkmal. Nichts, das uns als eine Gruppe kennzeichnet. Außer den Glauben daran, dass es die Liebe ist, die alles zusammenhält. Aber es ist nicht dieselbe Liebe wie die, von der Jefferson Maklaren spricht. Sondern eine tiefere, reinere Liebe, von der schon Menschen vor vielen tausend Jahren sprachen. Lange vor dem Vorfall und lange bevor es eine Neue Welt und eine Alte Welt gab. Bevor Mauern zerteilten, was zusammengehört und die Natur sich zurücknahm, was wir ihr stahlen.

    Wir machen euch Angst, weil alles, was unbekannt ist, Angst macht. Es liegt in unserer Natur, nach Bekanntem zu suchen, sich dem Gewohnten zu fügen und abzuwehren, was bedrohlich erscheint. Die Gefahr daran ist jedoch, dass wir nicht erkennen, wenn der Feind aus unserem Innersten kommt, aus dem Kern unserer Welt. Weil wir nichts Böses in uns vermuten. Und so kann sich das Ungute, das Bedrohliche ausbreiten.

    So ist es mit der Neuen Welt geschehen. Was gut und stabil erschien, ist in Wahrheit Lüge.

    Ich bin Teil einer Bewegung und ich habe nichts Besonderes zu bieten, außer dass ich nach der Wahrheit suche, um sie mit euch zu teilen. Mir wurde ein Blick hinter den Schleier gewährt und seither kann ich die Augen davor nicht mehr verschließen.

    Ich habe keine Angst. Denn ich weiß, es wird weitergehen. In dem Moment, in dem sich der Schleier hob, fing die Veränderung an.

    Wir sind bereit.

    Wir sind stark.

    Und es liegt in unserer Hand, in unserer Schaffenskraft, die Welt zu formen, die gut für uns ist. Doch wir müssen es wollen und wir müssen bereit sein, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen. Egal wie hässlich, wie erschreckend sie auch sein mag.

    Die Aufgabe der Bewegung ist es, den Schleier für alle zu lüften und gleichzeitig den Weg der Liebe neu zu beschreiten.

    Wen liebst du?

    Was liebst du?

    Für diese Antworten brauchen wir keine Vorgaben und Befehle. Diese Antworten sind in uns selbst, wir müssen nur hinsehen. Wenn wir Angst bekommen und nicht wissen, wem wir glauben sollen, dann müssen wir ebenfalls in uns selbst hineinsehen, denn in uns ist alles verborgen.

    Seht genau hin.

    1

    Die kühle Morgenluft füllt meine Lunge, wandert von dort in meine Glieder und lässt mich wohlig frösteln. Mit geschlossenen Augen und ausgebreiteten Armen lege ich meinen Kopf in den Nacken. Ein – Aus. Nach meinem eigenen Rhythmus.

    Über mir nimmt ein Specht seine Arbeit auf und wird kurz darauf von dem hohen Pfeifen einer Misteldrossel übertönt. Vergangene Nacht hörte ich sogar das Rufen eines Waldkauzes, was mich kurz in Angst versetzte. Meine Großmutter Mari nannte Waldkauze ›Todesvögel‹. Als einer nahe unseres Hofes nistete – ich war vielleicht sechs Jahre alt – lebte ich wochenlang in Angst, wen von uns der Todesvogel mitnehmen würde. Und heimlich hoffte ich, es würde Harold sein, mein Vater, der Invalide, oder meine Mutter Lida, die mir das Leben schwer machte. Gleichzeitig schämte ich mich für diese Wünsche und fand es eine logische Konsequenz, dass der Todesvogel mich für meine bösen Gedanken auswählen würde. Als im Herbst noch immer alle lebten und der Waldkauz aus unerfindlichen Gründen nicht mehr zu hören war, verblasste die Angst und mit den Jahren die Erinnerung. Bis zur vergangenen Nacht, meiner ersten Nacht in Amals Hütte.

    Ich öffne die Augen und blinzle im hellen Schein der Morgensonne, die es gerade eben über den steinigen Bergkamm des Montagne Maison schafft. Den Namen erhielt der Berg von Sisdals Vater, der vor vier Jahren starb und davor viele Jahre das NW-Educate-Ministerium leitete. Eine Information, die ich schwer mit Sisdal zusammenkriege, der Anführerin unserer kleinen Rebellen-Gruppe und diejenige, die uns dem Neuanfang im Schoße der Neuen Welt entriss. Ein Leben, das sich so gut anfühlte, so richtig – bis sowohl mein dreizehnjähriger Bruder Jame als auch Sim gegen die Regeln verstießen und wir lernten, was die Strafen dafür in der Neuen Welt sind. Sie sind nicht so offensichtlich brutal wie bei uns in der Alten Welt, aber auf subtile Weise genauso tödlich, nur langsamer. Damit es keiner merkt – außer die Bestraften.

    Noch ist Sisdal nicht zu uns gestoßen, aber selbst wenn, würde ich sie nicht über ihren Vater ausfragen. Sisdal und ich sind keine Freundinnen und weit entfernt davon, Vertraute zu sein. Was wir sind, muss ich erst noch herausfinden.

    Ich lasse meinen Blick vom Montagne Maison nach rechts schweifen und drehe mich mit noch immer ausgebreiteten Armen um mich selbst. Hohe Fichten kommen in mein Blickfeld, trockene Wiesen und Bergrücken. Manche sind karg, andere bewaldet als trügen sie einen dunkelgrünen Pelz. Die Landschaft strahlt eine träge Einfachheit aus, als gäbe es nur Ruhe und Frieden. Nichts, wofür man sich beeilen müsste oder das zum Fürchten wäre.

    Ich wünschte, diese Trägheit wäre auch in mir. Stattdessen ist da ein Knäuel an Fragen und Gefühlen, verknotet und verdreht. Ich suche nach einem losen Ende, um daran zu ziehen, mich entlangzuhangeln, die Fäden feinsäuberlich der Länge nach auszubreiten. Vielleicht bin ich auch zu ungeduldig. Ich bin erst seit 36 Stunden hier. Weiß weder, warum, noch ob ich bleibe. Weiß gar nichts. Außer, dass auch Jame hier ist. Dass er nicht redet. Nicht mit mir, nicht mit Sim, die gemeinsam mit ihm kam, nicht mit Amal. Nicht mehr, seit er im Camp in der Reinigung war. Ein Verfahren, das mir keiner erklären kann oder will und das bei denjenigen angewendet wird, die straffällig geworden sind. So wie mein Bruder. Aber er ist hier, er lebt und in diesem Moment kann ihm nichts passieren. Das ist alles, was zählt. Und Jul ist da. Wegen mir. Habe ich es verdient? Ich weiß es nicht.

    Mein Leben Nummer drei. Ein gutes? Ein sicheres?

    Lauf! Bring ihn ins gelobte Land! Lauf!

    Ist dies noch das gelobte Land? Habe ich die Aufgabe erfüllt? In meinem Kopf erklingt Maris Stimme, die mir ein Schlaflied summt: Hinter den Wäldern mein Kind, liegt das Glück ganz bestimmt …

    Das Lied trägt so viel mehr Wahrheit in sich, als wir wussten. Hinter den Wäldern sind wir. Und bis vor kurzem war es sogar friedlich. Bis Jul sich Sisdal anschloss, Sim deportiert werden sollte, Jame inhaftiert wurde und ich ein weiteres Mal gezwungen war, ein Leben zu verlassen, das noch gar nicht richtig begonnen hatte.

    Die Wut in mir schwillt an, mächtig und zerstörerisch.

    »Haaaaaaaaaaaaaaaaa!«

    Mein Schrei hallt in den Bergen wieder.

    »Haaaaaaaaaaaa!«

    Er vervielfacht sich, kehrt zurück. Es tut gut, mein eigenes Schreien zu hören.

    »Haaaaaaaaaaaaaaa!«

    Das Schreien verwandelt sich in Lachen, sodass es mich schüttelt und ich das Gefühl habe, mich gleich übergeben zu müssen. Ich lache, bis ich mich nicht mehr aufrechthalten kann. Über meine Wangen rollen Tränen, heiß und salzig. Ich hocke mich erschöpft ins Gras, nun nur noch kichernd, und wische mir die feuchten Wangen ab. Wenn Kyron mich jetzt sehen könnte.

    Oh Lore, du hast Gefühle, darüber musst du reden. Was sagt dein Armband dazu? Ist es rot, blau oder gar lila verfärbt?

    Ich reibe mir über das linke Handgelenk, an dem ich noch bis vor drei Tagen das Armband trug, das meine Gefühle aufzeichnete und anzeigte. Nur für den Fall, dass ich sie selber nicht mitbekomme.

    Wieder muss ich kichern. Egal, ich bin alleine, deswegen reiße ich mich nicht zusammen.

    »Lore?«

    Erschrocken presse ich die Lippen aufeinander.

    »Lore?«

    Ich unterdrücke mühsam die nächste Lachattacke und halte den Kopf gesenkt, als Juls Schuhe in mein Blickfeld treten.

    »Lore?«

    Ich kneife die Lider zusammen, drücke meine brennenden Tränen zurück in die Tiefe und spanne die Kiefermuskeln an, damit meine Gefühle den Tränen folgen. Jul lässt sich in das Gras fallen und zieht mich an sich.

    »Ist das Lachen oder Weinen?«

    Ich antworte nicht und genieße, mich eingerollt wie ein Kleinkind an seine Brust zu lehnen und seinen Kastanienduft einzusaugen. Jul streicht über meine Haare, liebevoll, unaufdringlich. »Pst«, höre ich ihn wispern.

    »Alles gut«, murmle ich und lasse die Augen zu, weil es schön ist, so in seinem Arm zu liegen. Unter meinem Ohr hebt und senkt sich sein Brustkorb, dumpf höre ich seinen Herzschlag.

    »Hey, nicht einschlafen«, flüstert Jul.

    »Nur kurz«, sage ich leise, fast zu mir selbst.

    Ein paar Momente lang schweigen wir, dann richtet Jul sich auf. »Bei dem Schrei dachte ich, du seiest einem Bären begegnet. Bei dem Lachen, dass du jetzt verrückt geworden bist.«

    »Wär das so verwunderlich?« Ich setze mich hin. »Kam so über mich. Ich dachte, ich bin allein.«

    »Schon mal was von Echos gehört?« Jul grinst.

    »Oh.«

    Jul schüttelt den Kopf. »Wir alle haben diese Momente.«

    »Du auch?«

    »Nur leiser. Du weißt schon, Papierfiguren und so.« Jul lächelt, aber darunter wirkt er ernst. Ich muss an die Spirale denken, die er im Camp gebastelt hat und die über seinem Bett hing. Sie war eine Kopie der Spirale, die ihm seine Mutter als kleiner Junge schenkte.

    »Es gibt Frühstück. Bist du so weit?«, fragt Jul.

    Ich nicke. Er steht auf und zieht mich vom Boden hoch. Hand in Hand schlendern wir hügelabwärts.

    ***

    Etwa zwanzig Minuten brauchten wir für den Abstieg. Auf dem Weg habe ich kein einziges Gebäude gesehen und ich frage mich, wo all die Aussteiger leben sollen, von denen Fidan und Lane erzählten. Neben unserer Gruppe Altländer – bestehend aus Jul, Sim, Jame, Suzan, Jarl, Uma, deren Kindern und mir – sind die beiden mit Nevin und Penca die einzigen Neuländer, die aus dem Camp mitkamen. Nur wenige der freiwilligen Helfer konnte Sisdal für sich gewinnen. Zu überraschend kam die Wendung mit Kaspers Ermordung und dem darauffolgenden überstürzten Rückzug aus dem Camp. Ich weigere mich, es ›Flucht‹ zu nennen. Eine Flucht pro Leben reicht und ich habe meine schon hinter mir.

    Amals Hütte wirkt von außen leer und unbewohnt, aber sobald wir die Tür öffnen, strömen uns Gerüche und Stimmen entgegen. Wir folgen ihnen in die Küche, in der sich bereits die anderen Hüttenbewohner versammelt haben. Es ist ungewohnt, die Flüchtlingshelfer aus dem Camp hier in der kleinen, komplett aus Holz gestalteten Küche zu sehen. Hier wurde altes Holz verarbeitet, so wie Eiche und Ahorn, nicht die schnellwachsenden Rohstoffe wie Bambus oder Hanf, aus denen in der Neuen Welt fast alles zu bestehen scheint – glatt geschmirgelt und lackiert, als sei es Plastik.

    Nevin hantiert neben Sisdals Mutter Amal am Herd. Etwas brutzelt und riecht dabei unglaublich gut. Am Tisch schneidet Lane ein dunkles, dickkrustiges Brot auf, Fidan verteilt Brettchen. Alle verhalten sich so selbstverständlich in diesem kleinen Raum, als würden sie schon seit Jahren miteinander leben.

    Amal scheint es nichts auszumachen, dass über ein Dutzend Fremde ihre Küche bevölkern.

    Sim stellt eine dampfende Metallkanne auf den langen, rustikalen Holztisch und sieht zu mir auf. »Wo warst du?«

    »Bären jagen«, antwortet Jul an meiner Stelle.

    »Die Schreie haben sie nicht verjagt?«, kontert Sim trocken.

    Ich werde rot.

    »In der Wildnis herumzuschreien bedeutet normalerweise Gefahr. Das solltest du eigentlich wissen«, belehrt sie mich. »Wir haben uns Sorgen gemacht.«

    Sie zeigt zu einem Stuhl.

    »Setz dich.«

    »Kann ich helfen?«, frage ich.

    »Zu spät«, antwortet Sim schroff. Dann ringt sie sich ein Lächeln ab.

    »Tut mir leid, mir war nicht klar, dass man mich so weit hören konnte.«

    »Wir sind hier auf einem Berg, Liebes. Wahrscheinlich wurdest du sogar in Mosk gehört«, sagt Amal. Ich spüre, wie meine Gesichtsfarbe noch dunkler wird.

    »Na, dann hoffen wir mal, dass unser Standort nicht aufgeflogen ist.«

    Erschrocken sehe ich Fidan an, der mich freundlich angrinst.

    »Jetzt lasst das arme Mädchen mal in Ruhe«, grummelt Jarl, der die ganze Zeit still am Tisch saß. Ich nehme neben dem alten Mann Platz und er lehnt sich an mein Ohr. »Ich weiß auch nicht, was ich hier tue«, flüstert er. Wir sehen uns einen Moment lang in die Augen und es tut gut, zu wissen, dass er sich genauso verloren fühlt wie ich. Alle anderen scheinen ihren Platz bereits gefunden zu haben. Sim zum Beispiel ist wie ausgewechselt. Als ich sie das letzte Mal im Camp sah, war sie abgemagert und hoffnungslos, hier strahlt sie voller Lebenskraft. Mir fällt auf, dass die braunen, feinen Haare ihr schon bis an die Nasenspitze reichen, wenn sie ihr in die Stirn fallen. Der Rest steht strubbelig in alle Richtungen. Früher war Sims Kopf geschoren, was sie so ruppig aussehen ließ, wie sie ist. Die federgleichen Haare täuschen nun darüber hinweg.

    »Was riecht hier so gut?«, frage ich.

    »Gebratene Eier«, antwortet Nevin und streckt mir seine Hand entgegen. Ich reiche ihm meinen Teller über den Tisch und bekomme ihn herrlich duftend mit einem flachen, angebräunten Ei zurück.

    »Iss es auf Brot, das schmeckt besonders gut.« Lane hält mir einen Korb hin. Ich nehme mir eine Scheibe heraus, rieche daran und schließe die Augen.

    Der Geruch schleudert mich zurück in die Vergangenheit, an unseren Küchentisch. Neben mir meine Schwestern Lives und Kieno, links und rechts vom Tisch Lida und Mari. Gegenüber, eine Tischseite nur für sich, Jame. Graue Tischplatte, Geschirrtuch über dem Ofengriff, schummriges Tageslicht, das sich durch kleine Fenster kämpft.

    Ich öffne die Augen. »Sind Eier nicht verboten?«

    »Wir haben die Regeln angepasst. Kein Fleisch, aber Eier sind erlaubt. Unsere Tiere haben viel Platz und wir nehmen nur die Eier, die nicht befruchtet sind.«

    »Woher weißt du, welche befruchtet sind?«, fragt Sim.

    »Wir haben die Hühner aufgeteilt in die, die brüten sollen, und die, die nur Eier geben. Die Tiere werden immer wieder miteinander ausgetauscht – ein großes Gehege mit Hahn, eines ohne.«

    »Das ist gut, wenn man soviel Platz hat«, sagt Jul.

    »Wir dürfen in der Neuen Welt eigentlich keine Tiere halten, auch sie sind freie Wesen. Aber unsere Gehege sind so groß, dass die Hühner vermutlich nicht einmal merken, dass sie sich in einem befinden.«

    Wir lachen.

    »Es wäre möglich, die Eier nach sieben Tagen zu durchleuchten, aber das ist aufwendig und die Einteilung erspart uns einiges an Mühe.« Amal setzt sich zu uns. Wir sitzen nun so dicht gedrängt, dass man sich fast nicht bewegen kann.

    Ich lege das Ei auf mein Brot, etwas ratlos, wie ich es zum Mund kriegen soll mit meinen eingequetschten Armen.

    »Am besten synchron«, sagt Fidan neben mir. Er, Jarl und ich heben gleichzeitig unsere Brote zum Mund, was abermals zu Gelächter führt.

    »Wir hatten auch ein Huhn.« Ich sehe zu Jul. »So haben wir uns kennengelernt. Jul hat es gegen einen Sack Weizen getauscht.«

    »Und wie habt ihr es geschafft, miteinander in Kontakt zu treten? Ich meine, wegen diesem Gesetz«, fragt Penca.

    »Das Gesetz der Volljährigkeit?« Ich sehe sie an.

    »Ja, genau. Wie lautet es noch? Es ist so albern.« Sie lacht.

    Obwohl ich das Gesetz gehasst habe und Penca völlig recht damit hat, dass es sich um ein albernes Pamphlet handelt, stört es mich, dass sie sich über etwas aus der Alten Welt lustig macht.

    »Oh ja! Kannst du es aufsagen?«, bittet Fidan mit erwartungsvoll amüsiertem Gesicht.

    »Okay.« Ich räuspere mich und versuche, offiziell zu klingen. »Das Gesetz zum Schutze weiblicher Minderjähriger:

    Paragraph 26, Absatz 10h: Ein weibliches Familienmitglied verbleibt bis zum Eintritt in das 20. Lebensjahr in Obhut ihrer Geburtsfamilie oder aber bei ihrem vertraglich festgesetzten Vormund. Sucht ein Volljähriger männlichen Geschlechts die Verbindung zu einer Minderjährigen, wird dies mit Strafverfolgung geahndet.«

    Die Neuländer lachen laut. Jarl schaut auf seinen Teller, Suzan ins Leere.

    »Wow, dass du das auswendig kannst«, sagt Lane.

    »Wir mussten es lernen. Jeder kann es auswendig«, antworte ich.

    Jul zeigt auf meinen Teller. »Gleich ist es kalt.«

    Überrascht sehe ich ihn an, aber er weicht meinem Blick aus. Missfällt ihm, dass ich unsere Heimat der Lächerlichkeit preisgebe?

    Rasch nehme ich mein Brot wieder auf.

    »Wir haben auch Eier gegessen, aber sie nie gebraten.« Ich beiße hinein. Das Eigelb zerplatzt zwischen meinen Zähnen und läuft mir über das Kinn. Mir ist das egal, denn gerade schmecke ich das Beste, was ich je gegessen habe.

    »Wahnsinn!«, stöhne ich. Wieder lachen die anderen, diesmal auch Jul.

    Dann fällt mir auf, dass jemand fehlt. Wenn das schlechte Gewissen einen Namen hätte, würde ich es ›Keule‹ nennen. Nichts und niemand kommt zielsicherer als dieses Gefühl.

    »Wo ist Jame?«, frage ich und stehe mit noch vollem Mund auf.

    2

    Am Ende des Flurs geht eine Holztür ab, deren Anblick mich wieder an zuhause erinnert. Jame war der Einzige, der ein eigenes Zimmer bewohnte. Mit seinem zwölften Geburtstag stand ihm das zu, befand Lida, schließlich war er der einzige männliche Nachkomme und alleinige Erbe.

    An dem Tag unserer Flucht, als ich noch nicht wusste, dass sich mein Leben gerade ändert, ging ich auf sein Zimmer zu – so wie jetzt, ein bisschen befangen und mit dem Gefühl, kein Recht dazu zu haben.

    Wie damals klopfe ich an, bevor ich eintrete, auch wenn ich in den letzten Monaten lernte, dass in der Neuen Welt jeder Raum betreten werden darf, sofern nicht anders vereinbart. Wer aber möchte, darf Privatsphäre haben, sogar die Frauen.

    Aus dem Zimmer vernehme ich keinen Laut. Vorsichtig öffne ich die Tür einen Spalt breit und stecke meinen Kopf hinein. Jame sitzt bei zugezogenen Gardinen auf dem Bett. Das hat er anfangs im Flüchtlingscamp auch oft gemacht. ›Verpuppungsphase‹ nannte der Psychologe Dr. Beckner das und meinte, das sei normal bei Jungen in diesem Alter.

    Dieses Alter.

    »Jame wird jetzt zum Mann und muss sich zurückziehen«, sagte Beckner.

    Ich hätte gerne gewusst, ob Lida das zuhause auch geduldet hätte, oder ob damit selbst ihre uferlose Mutterliebe an ihre Grenzen gekommen wäre. Aber bei uns gab es keine Psychologen, und wenn, dann hätte Lida sie sicher nicht gemocht. Jegliche Form von Gefühlsäußerung war ihr ein Gräuel.

    Trag nicht immer deine Gefühle im Gesicht, sie interessieren niemanden! war ihr Lieblingssatz für mich.

    Jame rührt sich nicht.

    »Darf ich reinkommen?«

    Keine Antwort.

    Ich schließe leise die Tür und gehe zum Bett, das genauso steht wie James Bett im Camp – mit der rechten Seite zum Fenster, ein Spalt zwischen Wand und Gestell, breit genug, um am Fenster stehen zu können.

    Unschlüssig verharre ich vor ihm. Auf der Flucht waren wir zusammengewachsen, im Camp sind wir zu Fremden geworden. Wie früher vermeidet Jame lange Gespräche oder Augenkontakt mit mir. Zuhause wusste ich jedoch warum. In unserer Welt sind Mädchen minderwertig und Lida hat ihn gut auf Linie gebracht.

    Aber das hatten wir hinter uns gelassen. Wir haben uns vertraut und beschützt. Wir waren Familie, ein letzter Zipfel Geborgenheit. Jetzt bin ich wieder Luft für ihn.

    »Hast du das Bett so hingestellt?«

    Mein Bruder hebt unbeteiligt die Schultern. Ich nehme mit größtmöglichem Abstand zu ihm Platz am Bettende und lasse meinen Blick durch den kleinen, abgedunkelten Raum schweifen: dunkle, verwitterte Holzwände, ein Stuhl, ein alter Spanplattenschrank, neben der Tür ein Waschbecken. Ein bisschen erinnert es mich an die Stallung G1-B, in der monatlich unser Markt stattfand und in der Jul und ich uns heimlich trafen.

    »Erinnert mich an zuhause.«

    Ich spähe zu meinem Bruder. Obwohl ich in seiner Blickrichtung sitze, schafft er es, keine Regung zu zeigen.

    »An unser altes Zuhause, das echte«, fahre ich fort.

    Kurz verzieht sich James Gesicht, dann ist es schon wieder vorbei.

    »Magst du es nicht, wenn ich von zuhause rede?«

    »Willst du mir die Beichte abnehmen?«

    »Ist das der Grund, warum du nicht mehr mit mir redest? Weil ich eine von ihnen sein wollte?«

    »Wir werden nie so sein wie sie«, sagt Jame heiser.

    Zögernd lege ich meine Hand auf seinen Fuß. Er lässt mich. »Ich weiß, dass du denkst, es wird nie wieder gut. Aber das haben wir schon oft gedacht.«

    Mein Bruder fixiert seine Oberschenkel.

    »Erinnerst du dich an das Solarfeld? An die Angst? Wir dachten, wir würden nie wieder herausfinden und müssten verdursten. Aber wir haben es geschafft.«

    Jame atmet so flach, dass sich nicht einmal sein Brustkorb hebt und senkt.

    »Oder in Prado. Wir wussten nicht, ob wir es aus der Metropole herausschaffen, aber wir haben es geschafft. Oder die Gemeinschaft. So oft schon dachten wir, es geht nicht weiter, aber wir haben es immer wieder geschafft«, plappere ich hilflos weiter. Jame lässt den Kopf hängen.

    »Du hast es geschafft. Du warst es immer, nicht ich.«

    Er redet so leise, dass ich ihn kaum verstehen kann.

    »Nein«, ich schüttele den Kopf. »Wir beide.«

    Jame schweigt.

    »Ich habe es immer mit dir geschafft. Für dich.«

    »Ja«, sagt er in bitterem Ton. »Hättest du es doch gelassen.«

    »Was redest du da, Jame? Es war meine Aufgabe, Dich hierher zu bringen. Lida und Mari wollten, dass du lebst!«

    Ich schnaufe.

    Mein Bruder, der gerade schrecklich erwachsen für seine dreizehn Jahre aussieht, dreht den Kopf zur Seite und starrt auf die Gardinen. »Ich war es nicht wert.«

    »Nein, das stimmt nicht!«

    Jame sieht weiter zum Vorhang, der unbewegt vor dem Fenster hängt und nur gedämpftes, bläulich eingefärbtes Tageslicht durchlässt. Ich mustere die verhärteten Gesichtszüge meines Bruders. Er presst die Lippen so fest aufeinander, dass die Muskeln am Kinn hervortreten.

    »Was haben sie dir bloß angetan?«

    Jame zieht seinen Fuß unter meiner Hand weg und hebt die Knie an die Brust. Ich warte, während er weiter den Vorhang anstarrt.

    »Sie haben mir gezeigt, wer ich wirklich bin«, flüstert er schließlich.

    »Und wer bist du?«, frage ich.

    »Ein Mörder.«

    »Wir wissen beide, warum du es ge…«

    »Und jetzt kann ich nicht mehr büßen, weil du mich hierher…« Er bricht ab.

    »Büßen?«

    James Stimme wird zu einem unheimlichen Wispern. »Anderen den Weg hierher zeigen. Leben retten. Zehn für einen. Zehn für einen. Zehn für einen.«

    »Was meinst du damit?«

    »Zehn für einen. Ich muss die Zeichen hinterlassen. Muss die Zeichen …«

    Er beginnt, sich vor und zurückzuwiegen.

    »Welche Zeichen?«

    »Süden dat Huut.«

    Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Jame wiegt sich weiter vor und zurück.

    »Ich bin schlecht, ich habe getötet, ich muss büßen, ich bin schlecht, ich habe getötet, ich muss büßen, ich bin schlecht, ich habe getötet, ich muss büßen …«, flüstert Jame.

    »Hör auf!«

    »Ich bin schlecht, ich habe getötet, ich muss büßen, ich bin schlecht, ich habe getötet, ich muss büßen …«

    »Jame, hör auf damit!«

    Mein Bruder hält sich die Ohren zu und hebt die Stimme. »Ich bin schlecht, ich habe getötet, ich muss büßen, ich bin schlecht, ich habe getötet, ich muss büßen …«

    »Lass das!« Ich ziehe an seinen Händen. Jame schneidet eine Grimasse, wird immer lauter und spricht schneller. »Ich bin schlecht, ich habe getötet, ich muss büßen, ich bin schlecht, ich habe getötet, ich muss büßen, ich bin schlecht, ich habe getötet, ich muss büßen ….«

    »Hör auf!«, schreie ich.

    Jame reagiert nicht mehr auf mich. Resigniert lasse ich seine Hände los und sehe ihm zu, wie er sich monoton vor und zurückwiegt. In welcher Welt auch immer er sich gerade befindet, es ist keine gute.

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