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Lebenslänglich Episode 2: Episode 2
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eBook299 Seiten3 Stunden

Lebenslänglich Episode 2: Episode 2

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Über dieses E-Book

Gewalt ist die Grundlage, auf der das Gefängnisleben aufgebaut ist. Das wissen wir alle. Was wir manchmal vergessen, ist, dass es in diesem kleinen, aber tödlichen Kosmos, der die Menschen im Inneren umgibt, viel mehr gibt. 

Dieses Buch nimmt den Leser mit auf eine besondere Reise durch Aspekte des Gefängnislebens, die wir nie sehen.

SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Aug. 2020
ISBN9783982225722
Lebenslänglich Episode 2: Episode 2
Autor

Richard Houdershell

Richard war ein 3-jähriger deutscher Junge, als er nach Amerika emigrierte. Das Aufwachsen in rassisch turbulenten Zeiten führte zu schweren Übergriffen von Banden und Gruppen. Pädophile nutzten seine Verletzlichkeit aus und missbrauchten ihn viele Jahre lang. Da er seine Situation verstand und mit 8 Jahren seinen ersten Kampfsportfilm sah, erkannte er seinen dringenden Bedarf an kämpferischen Fähigkeiten und stürzte sich kopfüber in sein Training. Mit 13 stirbt sein Stiefvater am Heiligabend bei einem Unfall, der ihn und seine Mutter in den Abgrund reißt. Aus Verzweiflung stürzt sich seine Mutter in das Kirchen- und Hochschulstudium und überlässt ihn sich selbst, wo er dann in Gewalt, Kriminalität, Drogen und Alkohol verfällt. Mit 18 Jahren begibt er sich mit seinem engsten Freund auf eine Raubzugtour und tötet dabei einen Mann. Richard erhält schließlich 2 x 15 Jahre im Staat Maryland für bewaffneten Raubüberfall und eine lebenslange Freiheitsstrafe in West Virginia für Mord ersten Grades, die 15 Jahre beträgt. Hier sind erstaunliche Geschichten über sein Leben hinter Gittern, vieles von dem, was er erlebt und überlebt hat, und die Lehren, die man aus dieser Zeit ziehen kann. Inspirierend, augenöffnend und faszinierend. Richard Houdershell ist ein aufstrebender Autor seiner autobiografischen Reihe LIFE. Dies ist das zweite Buch von Richard Houdershell. Das dritte, Episode III, ist auf dem Weg.

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    Buchvorschau

    Lebenslänglich Episode 2 - Richard Houdershell

    1

    Ein Lichtschimmer

    „No one knows what it’s like to be the bad man […] behind blue eyes"

    - „Behind blue eyes", Limp Bizkit, 2003


    Das letzte Mal, dass ich die Wärme einer menschlichen Berührung spürte, war am 5. Juli 1987.

    Fünf Monate waren seit meinem Eintreffen hier drin vergangen. Damals war es Sommer gewesen, jetzt war es Winter. Seitdem ich hier war, hatte ich keine Möglichkeit gehabt, mich dessen zu vergewissern, zumindest nicht mit meinen Sinnen. Der Himmel war mir seit jenem Tag verborgen geblieben, außer das eine Mal, als man mich auf den Hof gelassen hatte. Davon abgesehen, blieb mir jegliches Tageslicht verwehrt.

    Fünf Monate. Um Tag von Nacht zu unterscheiden, hatten wir nur die Mahlzeiten und das Vorhandensein von Aktivität als Anhaltspunkte – Medikamentenausgabe, Besuche von Verwandten, Freunden oder Priestern, Trustees auf den Gängen, und so weiter. Abgesehen davon sahen Tage und Nächte für uns gleich aus.

    Als ich das erste Mal aus einem sonnigen, lichten Tag in die Dunkelheit eines Gefängnisses getreten war, war mir klar geworden, dass ein neues, sehr anderes Kapitel meines Lebens begonnen hatte. Ein dunkles, sehr unschönes Kapitel.

    Dass die Dunkelheit allerdings eine sprichwörtliche sein würde, war mir damals so nicht klar gewesen. Sie fühlte sich so an, als hätte mich ein riesenhaftes Tier verschlungen.

    Journalisten, Gefängnispersonal und Schaulustige standen wie eine Art Willkommenskomitee draußen, als wir meinen neuen Käfig erreichten. Ihre Gesichter wirkten wie erstarrt, ihr Ausdruck eine Karikatur aus Furcht und Faszination, gemischt mit Verachtung. Ein ganz gutes Abbild dessen, was der Rest der Bevölkerung mit Sicherheit über uns dachte.

    Keith, Mitangeklagter wie auch mein bester Freund, war mit mir in das Alleghany Bezirksgefängnis überstellt worden. Alles schien verriegelt zu sein, überall musste man an Gittern und Türen vorbei.

    Keith war seit unseren Kindheitstagen mein Freund. Wir kannten uns seit dem sechsten Lebensjahr, hatten miteinander gespielt, als wir klein waren, und gingen ab der fünften Klasse auch auf die gleiche Schule, als ich wegen eines Umzugs wechseln musste. Ab dem Zeitpunkt wurde unsere Freundschaft enger.

    Richtig nahe standen wir uns aber erst ab der High School. Wir fingen an, miteinander rumzuhängen, Party zu machen und uns viel herumzutreiben. Wir gingen oft in Bars, Spielhallen und häufig auch in die übleren Gegenden der Stadt. Dort wurden nicht zu viele Fragen gestellt, wenn man mit einer Dose Bier in der Hand unterwegs war oder wir in einer Ecke einen Joint rauchten.

    Ich werde hier über ihn nicht zu sehr ins Detail gehen, er wird seine eigene Geschichte bekommen (Life Episode III, Keith), die wirklich interessant sein wird.

    Unsere Welt war mit einem Mal sehr klein, kalt und beklemmend geworden. Sie bestand nur noch aus der Zelle und dem anstehenden Gerichtsprozess. Anwälte kamen vorbei, denen die Kapitulation an den Augen abzulesen war, bevor sie kopfschüttelnd resignierten. Ihr Blick sagte mir, dass sie nichts für mich tun konnten.

    Für zwei bewaffnete Raubüberfälle, in Verbindung mit anderen Anklagen, hatte ich insgesamt 80 Jahre Haft zu erwarten.

    Zum Glück sind wir nicht allwissend, so wie Gott, und können nicht erahnen, was ist, was war, und, vor allem, was sein wird. Ich glaube, viele würden vorzeitig aus dem Leben scheiden wollen, wenn sie vorher wüssten, welche Tragödien und Schicksalsschläge das Leben für sie bereithält, um sie damit zu überrollen.

    Auch wenn es manchmal am Ende doch gut ausgeht, der Weg dahin ist oftmals die reinste Hölle.

    Stell Dir vor, Du wüsstest im Vorhinein, dass Du mit 25 einen Autounfall haben wirst, bei dem Du einen Arm verlierst, dass Deine Mutter stirbt, wenn Du 28 bist, mit 31 bist Du geschieden, mit 36 verlierst Du ein Kind und dass Du mit 37 einen Karriereknick haben wirst – die Aussicht auf solch eine Zukunft würde Deinen Lebenswillen zerstören. Wäre dieses Leben ein Film, wäre es sehr sicher eine Gruselgeschichte.

    Die Unvorhersagbarkeit dessen und die Eigenart, dass solch Kummer meist Stück um Stück in unser Leben tritt, gibt uns die Chance, uns davon zu erholen und uns mental, physisch, emotional und spirituell neu zu sortieren, während man versucht, Tag um Tag zu meistern und sich bemüht, mit den anhaltenden Widrigkeiten des Lebens klarzukommen.

    Und das alles, während die nächste unabwendbare Katastrophe bereits auf uns wartet.

    Selbstmord war immer ein Tabu für mich. Obwohl ich glaube, dass Gott die versteht, die diese Welt verlassen wollen, glaube ich nicht, dass Er sich freut, wenn wir sein ultimatives Geschenk an uns einfach wegwerfen – das Leben. Und so lange mein Körper stark ist, sehe ich auch keinen Grund, dies zu tun.

    „Max" war wie eine Festung. Ein Gefängnis in einem Gefängnis (siehe Diagramm am Ende der Geschickte). Man kann es sich so vorstellen, dass man durch mehrere Eisentüren ins Innere der Haftanstalt tritt und dort steht dann etwas, das an eine Art Eisenbox erinnert – so ähnlich wie ein riesiger, in der Mitte eines gigantischen Raumes aufgestellter Safe mit doppelt verstärktem Stahl rundherum, doppelt vergittert und mit Sicherheitschecks überall.

    Nur die Schlimmsten der Schlimmen waren in diesem Block untergebracht. Nur die Gefährlichsten von allen. Und das war mein neues Zuhause. Der Hochsicherheitstrakt des Alleghany County Gefängnis wurde für die folgenden 365 Tage mein Heim.

    Wenn die erste und dann die zweite schwere Eisentür hinter Dir zuschlägt und Du auf dem sehr kleinen Areal des Max stehst, wird Dir klar, dass man von Dir Besitz ergriffen hat. Du bist deren Eigentum.

    Du bist vor den prüfenden Augen eines jeden verborgen, der damit ein Problem haben könnte, dass man Dir dort drin Schaden zufügt, Dich schlecht behandelt oder vielleicht sogar tötet.

    Du bist verletzlich, und wenn irgendetwas passiert – ein Feuer, ein Gewaltausbruch, was auch immer – dann gibt es keine Chance, zu entkommen. „Max" wird Dein Grab, oder zumindest der Ort Deines Todes.

    Eine fürchterliche Vorstellung.

    Außerhalb des Zellenblocks lief ein Radio. Das Mittagessen war gerade zu Ende, die Häftlinge hatten ihre Medikation erhalten und die meisten hatten sich nach ihrem Mahl aus matschigem Brot, Bohnen, Reis und Gemüse erst mal hingelegt.

    Die meisten der ausgegebenen Medikamente waren Barbiturate, um die Gefangenen ruhig zu halten, gefügig zu machen und leichter unter Kontrolle zu bringen. Wie ich herausfinden sollte, ist Sedierung eine Standardmethode in US-Gefängnissen.

    Deswegen war es während dieser Zeit auf den Blöcken auch immer ziemlich ruhig, beinahe schon friedlich. Es wurde weder gesprochen, noch sich groß unterhalten, nicht herumgeschrien oder gestritten.

    Limp Biskit sangen gerade ihre Version des Klassikers „Behind Blue Eyes" von The Who. Sie hallte im ganzen Block wider. Ich mochte diese Version, sie klang so gefühlvoll, voller Schmerz. Wie er seine vollkommene Ausgrenzung von der Welt beklagte, spiegelte mein Innerstes in diesem Moment wider.

    Ich fühlte mich furchtbar schuldig und ebenso ausgegrenzt. Ich saß in dieser kleinen Eisenkiste, vollkommen isoliert von der Welt dort draußen, ich hätte genauso gut auf dem Mond sein können. Fühlte, wie die Einsamkeit des Schuldigen mich überrollte.

    Mir war klar, dass ich den Platz im Herzen vieler Menschen verloren hatte. Ich war ein Krimineller – ein gewalttätiger, furchtbarer, gemeiner Verbrecher. Die Welt hasste mich.

    Ich saß auf der Bank mit Blick hinaus auf den Korridor, ein Magazin für staatlich geprüfte Krankenschwestern vor mir liegend, fühlte mich melancholisch und tat mir selbst leid. Lesen war einer meiner liebsten Zeitvertreibe geworden – eine mentale Flucht aus meinem physischen Käfig.

    Ich verschlang Bücher und Zeitschriften auf meiner Suche nach Wissen und Weisheit. Irgendwie war dieses „Monster" in mir erwacht und nun gierte es danach, sich zu informieren, zu verstehen und zu begreifen. Ich war schier unersättlich. Was es erweckt hatte: meine verzweifelte Suche nach einer Bedeutung im Leben, nach einer Bestätigung, dass das Leben immer noch lebenswert war.

    Es ist wahnsinnig wichtig, sich Routinen zu schaffen, die einem innere Struktur und eine Art von Erfüllung geben können. Eine erfüllende Routine bedeutet, dass der Tag nicht verloren geht.

    Sie ist es wert, dafür aus dem Bett gekrochen zu sein, egal, wie klein die Belohnung auch sein mag. Das ist die allererste Aufgabe: finde einen Grund zu leben. Einen Grund, um jeden Tag aufzustehen und um das eigene, innere Licht zu kämpfen, sogar an solch einem finsteren Ort.

    Es ist erst ein paar Monate her, da war ich in der Sonne, zusammen mit einem wunderschönen Mädchen, wir lachten, liebten einander, waren unterwegs und frei. Wie dunkel das Heute jetzt war und das Morgen sein würde. Wie wenig Hoffnung mir noch auf irgendetwas blieb… wie sehr sich das Leben plötzlich verändert hat, dachte ich.

    Keith, mein Komplize und bester Freund, lag dösend wie meistens bei mir in der Zelle. Es war seine Art zu fliehen. Er war immer schon sehr ruhig gewesen; während der High School war er sogar zur stillsten Person der ganzen Schule gewählt worden. Es passte zu ihm.

    In der zweiten Zelle lebte Greg Bull, ein Mann, den ich eine Woche, bevor ich ins Gefängnis gekommen war, bereits auf dem Titelblatt der Lokalzeitungen zu Gesicht bekommen hatte. Sein Gesicht und das des Mannes, den er erstochen hatte, Norman Raoul, waren dort an jenem Tag abgebildet, als ich im Wohnzimmer im Haus meiner Freundin stand und ihr beim Lesen über die Schulter sah.

    Ich werde nie vergessen, was mir durch den Kopf schoss, als ich sein Gesicht dort in der Zeitung sah: Bin ich froh, nicht in seiner Haut stecken zu müssen.

    Jetzt waren wir Zellennachbarn im Hochsicherheitstrakt, auf engstem Raum zusammengepfercht. Beinahe Wange an Wange, lebendig begraben. Jeder kannte des Anderen intimste Gerüche und Geräusche auf das Genaueste. Vor den rohen Tatsachen des Lebens gab es dort drin kein Entkommen.

    Er saß gerade auf der Toilette und hatte „ein Treffen mit dem Präsidenten", wie wir dazu zu sagen pflegten. Unsere Toilette stand frei in der Nachbarzelle. Sein Mitbewohner Hixenboth saß draußen in unserem äußerst kleinen Tagesraum neben dem Telefon, auf der Flucht vor dem bestialischen Gestank, der aus seiner Zelle drang. Der gesamte Block stank fürchterlich.

    Wir hatten dafür eine offene Dusche in unserer Zelle. Wir mussten in deren Zelle auf Toilette, sie in unsere zum Duschen. Bei vier erwachsenen Männern auf engstem Raum, und nur einer frei einsehbaren Toilette für alle in einer der Zellen, war es eine sehr krampfige, unappetitliche Angelegenheit, sein tägliches Geschäft zu verrichten.

    Sich vor anderen zu erleichtern erfordert, vor allem, wenn man mal so etwas wie Stolz besessen hat, sehr viel Courage. Das Bedürfnis, nachts auf Toilette zu müssen, konnte potenzieller Auslöser eines tödlichen Konflikts sein. Ist nicht besonders toll, mitten in der Nacht vom Geruch verrottender Eier geweckt zu werden.

    In den anderen vier Blöcken im Alleghany County Gefängnis saßen Gefangene Strafen von sechs Monaten, acht Monaten, 18 Monaten und so weiter ab. Deren Lebensperspektiven, deren Zukunft und ihr Aufenthalt dort unterschieden sich krass von unserem.

    Sie saßen nur kurz ein – waren quasi „auf Besuch" – für Dinge wie Drogenbesitz, Gewalt, Fahren unter Alkoholeinfluss und dergleichen. Sie konnten den Tag ihrer Entlassung planen, einem Treffen mit Freunden oder anderen Ereignissen entgegensehen, weil ihre Auszeit bei uns nur von kurzer Dauer war.

    Wir im „Max" planten nichts dergleichen. Unsere Haftstrafen und deren Dauer hingen stets wie ein schwarzer Schatten über unseren Köpfen. Unsere Chance, hinter Gittern zu sterben, war hoch.

    Für die Jungs in den anderen Blöcken waren wir lebende Tote. Wir betrachteten sie wiederum als Besucher. Wir lebten im selben Gebäude, teilten uns für verschiedenste Verbrechen denselben Grund und Boden, und trotzdem hätten wir nicht weiter voneinander entfernt sein können.

    Wir lebten in zwei verschiedenen Welten. Wie unheimlich unterschiedlich die Perspektiven von zwei Gruppen in der exakt selben Situation sein kann.

    Es gab weiter nicht viel zu tun bei uns, außer zu lesen, zu schreiben, auf dem wenigen verfügbaren Platz zu trainieren, fernzusehen (falls möglich), nachzudenken oder von dem Leben zu träumen, das man verloren hatte.

    Die einzigen glücklichen Momente im Hier und Jetzt waren das Ergebnis der Erinnerung an die eigene Vergangenheit. Der Blick in die Zukunft war nur frustrierend.

    Dass meine Freundin mich gestern nicht besucht hatte, saß mir immer noch tief in den Knochen. Keine Ahnung, warum sie nicht gekommen war. In unserer Situation griffen wir nach jedem Strohhalm, der uns Licht und Hoffnung versprach, wie auch immer er aussah.

    Besuche, Briefe und Telefonate waren überlebenswichtig für uns. Besuche waren dabei wie eine ultimative Flucht. Die freundlichen Gesichter der Menschen zu sehen, die Dich liebten, war wie der Tropfen auf dem heißen Stein des Lebens, ein gewaltiger Kontrast zum Hier und Jetzt. Liebe und Fürsorge gegen Hass und Gleichgültigkeit.

    Also hatte ich gestern dort gesessen und gewartet. Und gewartet. Und gewartet. Meine Freundin war nicht gekommen. Ich war enttäuscht, verletzt und am Boden zerstört. In mir brodelte eine Mischung aus blinder Wut, Schmerz, Hass, Tränen und vielen anderen, bösartigen Gefühlen.

    Tränen der Wut und der Hilflosigkeit bahnten sich ihren Weg an die Oberfläche. Diese Tränen ließen mich innerlich kochen, sie waren aus Wut und Hass geboren. Ich hasste es, so hilflos und verletzlich zu sein. Ich hasste es.

    Ich war ein junger Mann, der am Ende doch noch Liebe gefunden hatte. Und jetzt waren sie und diese Liebe, die ich so verzweifelt brauchte, schier Lichtjahre entfernt. Ich vermisste sie wie wahnsinnig, mein Herz schlug schwer und schmerzhaft in meiner Brust.

    Wenn ich doch nur noch einmal zurückgehen und sie so wertschätzen könnte, wie sie es verdiente, was ich damals nicht getan hatte.

    Sie anzurufen, war sinnlos. Alle Anrufe nach Draußen waren R-Gespräche, ein System, das eine Verbindung erst herstellte, wenn der Angerufene den Anrufversuch akzeptierte und für dessen Kosten aufkam. Ein normaler Anruf von einer Telefonzelle aus kostete zu jener Zeit nur ein paar Cents und war zeitlich nicht beschränkt.

    Ein R-Gespräch aus dem Gefängnis heraus kostete wiederum vorab ein paar Dollar und wurde mit jeder Minute teurer, woran die Strafanstalt natürlich ebenfalls mitverdiente.

    Das war einer der vielen Gründe, warum sich Gefängnisse zu wahren Gelddruckmaschinen entwickeln konnten.

    Keith, der meinen innerlichen Aufruhr bemerkte, tat das, was jeder gute Gefangene tut, um seinem Mitbruder Respekt zu erweisen: er verließ leise die Zelle, um mich mit meiner Wut und meinem Schmerz allein zu lassen.

    Wie jeder weiß, ist ein trauernder Mann ein verletzter, verletzlicher Mann. In Gegenwart eines verletzlichen Mannes fühlen sich andere Männer unwohl. Und ich war nicht nur verletzt und verletzlich, sondern auch noch wütend.

    Ich konnte nicht mehr einfach so meinen Gefühlen freien Lauf lassen und losflennen wie ein kleiner Bengel, um den Schmerz auf eine gesunde Art und Weise los zu werden. Dafür war ich im Laufe meines Lebens innerlich zu hart und verschlossen geworden.

    Das gesunde Kind, das sich vor langer Zeit noch so verhalten hätte, war begraben und existierte nicht mehr. Ich verachtete es ohnehin. Es war schwach gewesen. Ich hatte dieses Opfer in mir im Lauf der Jahre durch jemand anderen ersetzt. Ich hasste Verletzlichkeit und Schwäche. Ich würde niemals wieder so ein Opfer sein.

    Und außerdem war ich unter Männern. Harten Männern. Dort gab es keinen Platz für Schwäche.

    Stille Tränen, erfüllt von Zorn und Wut, quollen mir aus den Augen. Angewidert wischte ich sie weg. Ich presste meine Arme vor den Bauch, ballte dabei so fest die Fäuste, dass ich mir die Knochen gebrochen hätte, wäre so etwas möglich gewesen.

    Der Schmerz bahnte sich mit stillen Ausbrüchen von Wut seinen Weg nach draußen, drückte mir die Blutgefäße aus dem Schädel. Hilflosigkeit verbitterte meine Seele.

    Ich verlor die Kontrolle über mein ganzes Leben und konnte rein gar nichts dagegen tun. Tief im Inneren wusste ich, dass das ein Zeichen war, dass ich die Verbindung zum Leben verlor, wie ich es gekannt hatte. Es war der Anfang eines vorherbestimmten Todes auf Raten. Ich versuchte, den Gedanken immer und immer wieder von mir wegzuschieben, aber ich wusste es.

    Ein paar Tage später sprachen wir dann doch noch miteinander. Ich erinnere mich nicht mehr an den Grund, den sie mir dafür nannte, dass sie dieses Mal nicht gekommen war. Ich akzeptierte ihn aber blind, aus Angst davor, mich anderen Tatsachen stellen zu müssen.

    Hinter Gittern lebt man meist so, um sich selbst zu schützen. Man akzeptiert Entschuldigungen, die vorgebracht werden, um die harte Wahrheit nicht aussprechen zu müssen. Die Wahrheit zu kennen ist nicht immer das Beste. Man braucht diese kleinen Selbstlügen, um den Tag zu überstehen.

    Also saß ich da, betete still um ein Wunder, wieder und wieder, wie ein Mantra. Hoffte, wo keine Hoffnung war, auf ein Zeichen Gottes, das niemals kam.

    Oder vielleicht kam es doch, nur nicht in der Art und Weise, wie ich es erwartet hatte.

    Der Ausblick von dort, wo ich saß, war karg – rein vom Optischen her betrachtet. Die Bank, auf der ich saß, war mit einem Eisentisch verschweißt, der wiederum in den Boden zementiert worden war. Alles war in einem stumpfen Gelb gestrichen.

    Der Tisch selbst war etwa 60 cm tief. Mir gegenüber stieß er an ein Eisengitter. Diese waren an der Außenseite mit einem schweren Gitternetz überzogen, dessen Löcher das bekannte Diamantmuster bildeten.

    Man konnte von dort auch in einen etwa 1,5m langen Flur mit schmutziger Beleuchtung blicken, die so aussah, als wenn sie seit hundert Jahren nicht gewechselt worden wäre – gelb, fleckig, und trostlos. Es sah beinahe aus wie in einem Keller.

    Die Front war wie bei jedem anderen Gebäude, nur dass unsere aus verstärktem Stahlbeton mit vergitterten Fenstern bestand. Deren Glas war dick und diese Fenster wurden nie geöffnet.

    Der Boden war zwar sauber, aber alles andere – Gitter, Türen, Fensterbretter, Fenster – waren von Staub und Schmutz überzogen. Spinnweben breiteten sich in jeder Ecke aus.

    Sauberkeit war hier drin nicht gerade oberste Priorität.

    An der Außenseite verzahnten sich die Lamellen dergestalt, dass von draußen kein Licht eindringen konnte. Wir konnten nicht hinaus- und auch keiner zu uns hineinsehen, aus Sicherheitsgründen.

    Man war lichtdicht, beinahe hermetisch von der Außenwelt abgeschnitten. Es gab dadurch weder natürliches Licht, noch frische Luft, und im Inneren war es dadurch auch so dunkel wie in einem Keller.

    Die einzige verfügbare Lichtquelle war künstlich und nicht besonders stark. Dadurch, dass die Fenster nicht geöffnet werden konnten, war die Luft stickig, muffig, staubig und ungesund. Jeder von uns kämpfte deswegen jeden Tag mit schlechter Laune und Depressionen; das fehlende Tageslicht begünstigte Stimmungsschwankungen.

    Eigentlich saß ich nur zwei Meter von der Außenwelt entfernt. Sie hätte für uns alle aber auch genauso gut in einem anderen Universum sein können – so nah, und doch so furchtbar fern war sie.

    Nach einigen Monaten hatte ich mich daran gewöhnt, soweit das überhaupt möglich war, aber meine Haut wurde dadurch dramatisch in Mitleidenschaft gezogen. Unglaublich juckende Hautausschläge überzogen meinen ganzen Körper. Der Mangel an Sonne und frischer Luft forderte eben seinen Tribut.

    Ich vermisste die Sonne. Frische Luft. Bäume und Gras. Ich sehnte mich so sehr nach alledem. Ich war wie ein Tier im Schlachthaus, gefangen in einem Käfig, darauf wartend, hinausgetrieben zu werden und meinem Schicksal ins Auge zu blicken.

    Auf das Beste hoffend, das Schlimmste befürchtend. Das Warten, die Unsicherheit ist das Schlimmste. Du sitzt dort drin und weißt, man entscheidet draußen über Deine Zukunft.

    Das Volk denkt gern einfach, wenn es um seine gewählten Repräsentanten geht. Sie wollen gerne glauben, dass Beamte, seien es Polizei, Staatsanwaltschaft oder auch Richter, sich von altruistischen Motiven leiten lassen.

    Aber unsere Politiker denken und handeln eher wirtschaftlich. Gefallen werden erwiesen, Schulden werden beglichen. Oft sind Häftlinge dabei ein Pfand, das Recht ist dabei eher nebensächlich.

    Es wird viel konspiriert, damit jeder Beteiligte durch die möglichst harte Verurteilung des Häftlings so viel Ruhm und Bekanntheit wie nur irgend möglich erlangen kann.

    Jeder – Anwälte, Richter, Strafverteidiger, Staatsanwalt, Sheriff, sogar der Major – versucht für sich selbst so viel Kapital wie nur möglich aus der ganzen Angelegenheit zu schlagen. Man wird zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Zum Werkzeug.

    Mir war klar, momentan war ich „der böse Mann hinter blauen Augen", den jedermann verabscheute. Der Mann, über den jeder mit Furcht, Faszination und Verachtung sprach. Die Zeitungen waren voll mit meinem Gesicht, meinem Namen und der Liste meiner Taten.

    Alle – egal ob Zeitungen, Radio oder TV – nannten es „die Nacht des Terrors", die in unserer Gegend stattgefunden hatte. Wenn sie im Radio darüber sprachen, klang der Abscheu durch ihre Worte. Ich war momentan nicht besonders populär, nicht auf die Art, wie es die meisten gerne wären.

    Der Mob

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