Romeo und Julian
Von Thomas Ays
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Buchvorschau
Romeo und Julian - Thomas Ays
Für meinen Frosch
Kapitel 1
Irgendwie passte das alles nicht zusammen. Auf der einen Seite war Julian froh, seinen Alltag, der sich in den letzten 21 Jahren nur unwesentlich verändert hatte, los zu sein, auf der anderen machte ihm das Unbekannte, das vor ihm lag, echte Angst. Vor seinem geistigen Auge entwickelten sich Horrorszenarien von primitiven, missgelaunten Menschen, mit denen er ganz sicher nichts würde anfangen können. Dennoch musste er studieren. Es ging dabei nicht nur darum, seinen Willen durchzusetzen, sondern vielmehr darum, frei zu sein und sich aus dem Korsett zu sprengen, das seine Eltern ihm all die Jahre immer enger geschnürt hatten.
Nur mit Mühe und Not hatte er seine Erzeuger unter Einsatz sämtlicher Überredungskünste davon überzeugen können, die von ihm gewählte Studienrichtung auch wirklich studieren zu dürfen. Sein Herr Vater hatte bis zum Schluss darauf gepocht, dass sein Sohn ein Theologiestudium anfangen sollte, war dann aber an dem Starrsinn seines eigenen Fleisch und Blutes gescheitert - Ironie des Schicksals.
Als er tatsächlich an der Uni angenommen wurde, war das für Julian dann doch ein ziemlicher Schock. Darüber konnte er mit seinen Eltern jedoch wohl kaum sprechen - sie hatten ihren Sprössling noch nie besonders gut verstanden, dabei hatte doch mit den anderen zwei Kindern alles so gut geklappt. Seine Geschwister waren mehr oder weniger gut durch die Schulzeit gekommen, hatten - zumindest für das elterliche Verständnis -anständige Berufe erlernt und hatten alle bereits einen Partner und wieder selber Kinder – eine heile Welt, wie im Julian zutiefst verhassten und verachteten Bilderbuch. Nur Julian, das Nesthäkchen, war nun noch übrig. Allein schon dieser Ausdruck verursachte bei Julian latenten Brechreiz, denn im Grunde genommen kam es ihm stets so vor, als habe er mit dieser seiner Familie so rein gar nichts zu tun. Oder war er etwa gar ein Außerirdischer, der nur durch einen dummen Zufall bei diesen Eltern gelandet war?
In der Pubertät ging das mit den Verständigungsproblemen erst richtig los: Nach der „Lila-Phase kam die „Grufti-Zeit
, in der die Klamotten, Schuhe und Haare nur schwarz sein durften. Natürlich war Julian heute klar, dass es bei Jugendlichen normal ist, so ihre Rebellion gegenüber den Eltern zum Ausdruck zu bringen – und es war ihm auch klar, dass er bei den beiden Exemplaren, die er zu Hause hatte, dazu auch allen Grund hatte. Und auch jetzt noch war es ihm wichtig, ihnen mithilfe seiner Art sich zu kleiden, seiner Art sich auszudrücken und seiner Art oft anderer Meinung zu sein, sein Missfallen kundzutun, denn noch immer zog Julian, im direkten Kontrast zu seinen mittlerweile wieder dunkelblonden Haaren, nur dunkle Kleidung an. Dabei könnte er, wenn er denn wollte, auch modische Klamotten tragen – sein Körper, der nicht dünn, aber auch nicht dick war, würde figurbetonte und enge Kleidung durchaus zulassen, doch er wollte nicht sonderlich aus der Masse herausstechen. Er war mehr der stille Typ – ein moderner Mr. Spock, nur ohne die Spitzöhrchen – in Gedanken formte Julian den allseits beliebten Gruß der Vulkanier. Doch wer weiß, vielleicht war er ja wirklich aus der Zukunft und nur auf der Erde um einem Zweck zu dienen: Seinen Eltern richtig auf die Nerven zu gehen. „Hasta la vista, Baby", dachte er.
Da stand er nun. Neue Uni, neue Stadt, neue Leute. Zu dumm nur, dass zu einem Studium auch Studenten gehörten. Julian wurde regelrecht schlecht bei dem Gedanken, sich mit irgendjemandem hier auseinandersetzen zu müssen. Reden! Himmel! – und dann auch noch von sich aus. Julian kamen wieder die hochintelligenten Sprüche seiner Eltern in den Sinn, als sie in Erinnerungen an ihre eigene Uni-Zeit schwelgten. Seine Mutter erzählte etwas von „ ... sich neuen Heraus forderungen stellen und sein Vater hatte nur von „Verantwortung
und „Erwachsenwerden gequatscht. Wie schlau sie doch waren. Und was war aus ihnen geworden? Frau Mama, die liebende, treu sorgende Mutter und Hausfrau, sein Vater Bürohengst in einer Bank und nebenbei eine starke und helfende Hand in sämtlichen katholischen Jugendgruppen. Ein Ziel, dem Julian selbstredend nachzueifern gedachte. Er sah sich nach einem besonders starken und stabilen Baum in der Umgebung um. „Am besten ich nehm’ mir ’nen Strick!
, murmelte er vor sich hin.
Wie aus dem Nichts schoss daraufhin ein kleines, etwas untersetztes Mädchen auf ihn zu, auf dessen Stirn in magischen Lettern „ICH RETTE DICH zu stehen schien. Mit mitfühlendem Blick sah sie ihn an, legte ihm die Hand auf die Schulter - Julian hasste jegliche Form von Berührung von Menschen, die er nicht kannte, und eröffnete folgenden Monolog: „Hallo. Ich bin Epharista. Wenn ich dir irgendwie helfen kann, dann lass es mich wissen. Gehe ich recht in der Annahme, dass das heute dein erster Tag an der Uni ist?
Julian nickte sprachlos.
„Ja, ich weiß, aller Anfang ist schwer. Aber glaub mir, wenn du den ersten Tag überstanden hast, wird alles besser. Mit ein wenig Gottvertrauen und Zuversicht wird bestimmt alles gut. Glaub mir."
Als diese Mutter Theresa der Gegenwart ihn dann auch noch mit einem mitfühlenden Dackelblick bedachte, wurde Julian klar, dass ihn hier nur noch ein überstürzter Rückzug retten konnte.
„Äh, okay. Danke!", gab er zurück, schüttelte ihre tätschelnde und doch so wohlmeinende Hand ab und marschierte mit schnellen Schritten in Richtung Uni-Hauptgebäude davon. Nur weg! Das war ja wie zu Hause.
Der Brief mit der Immatrikulation, den Julian vor einiger Zeit nach Hause bekommen hatte, hatte ihn zuversichtlich gestimmt. Er hatte sämtliche Unterlagen bereits frühzeitig vorliegen: Studienbescheinigungen, aktuelle Semestermarke, E-mailaccountdaten, Nachweis für das BAföG-Amt, usw. Außerdem hatten diese umfangreichen Dokumente zur Folge, dass er auf dem Campus selbst mit niemandem würde reden müssen. Es stellte sich jedoch kurz darauf heraus, dass dem nur bedingt so war. Um zu wissen, wie es an der Uni zuging, musste er an einem Stuhlkreis teilnehmen, den eine Studentenfachschaft ins Leben gerufen hatte, um den neuen Ankömmlingen den Einstieg zu erleichtern. Ein Stuhlkreis! Wo war er hier? In einer Kindertagesstätte mit Fachrichtung Dummsabbeln?!
Als er auf den Haupteingang zuging, wünschte er sich sehnlichst, die kommende Veranstaltung wäre bereits vorbei und er hätte sie einigermaßen heil überstanden. Dem war natürlich nicht so, im Gegenteil – es ging erst richtig los.
Er war zwar schon vor ein paar Wochen hier gewesen, um seinen Eignungstest hinter sich zu bringen, wurde aber nun erneut von den Eindrücken dieses riesigen Gebäudekomplexes erschlagen. Die verschiedenen Uni-Bauwerke waren kaum zu überblicken. Wo nun was stattfand, würde er wohl nie wirklich verstehen. Die niedrig hängenden Decken griffen alle ineinander und bewirkten ein desaströses Hirnwirrwarr, dem man gedanklich schier nicht mehr entkommen konnte. Den Schildern „Mensa und „Einführungsveranstaltung
folgend, kam er nach gefühlten drei Tagen in einen hell erleuchteten Raum mit großer Fensterfront und dahinterliegender Terrasse, die geradewegs in die Botanik zu führen schien. Der unsägliche Stuhlkreis, der aus in die Jahre gekommenen Holzstühlen bestand, war längst aufgebaut und bereits mit Studenten besiedelt, die sich teilweise untereinander angeregt unterhielten. Julian fühlte sich furchtbar unwohl, ging deshalb ohne links und rechts zu schauen schnurstracks auf einen leeren Stuhl zu und setzte sich. Er atmete tief durch und dachte kurz an John McClaine, der sagte Ihr schafft mich alle nicht!
, als er den neben ihm sitzenden Mann um die 40 bemerkte. Er hatte kurzes Haar, das aussah, als würde es eine Bürste nur vom Hörensagen kennen. Die Brille, offenbar frühes 20. Jahrhundert, saß ihm leicht schief im Gesicht und die Unterlagen auf seinem Schoss wirkten unsortiert und seltsam fettig. Der Kerl machte auch einen leicht panischen Eindruck, lächelte gezwungen, nickte und fing dann an, noch einmal seine Papiere durchzusehen.
„Hallo, ich bin Heribert", wandte sich der Typ nach kurzer Zeit an ihn.
„Hi. Julian", nickte Julian zurück.
„Auch neu hier?", der andere grinste noch immer und bemerkte offenbar nicht, wie unpassend seine Frage war.
„Nein, ich freue mich nur jedes Semester aufs Neue auf diesen Stuhlkreis", lächelte Julian, in der Hoffnung, Heribert würde die Ironie in seiner Äußerung erkennen. Tat er nicht – wen wunderte es. Julian war schließlich in der Hölle und Heri sein neuer Zimmergenosse für die nächste Ewigkeit.
„Ach, das ist ja schön." Er wühlte wieder.
Julian zog die Augenbrauen hoch, runzelte die Stirn und drehte sich anschließend etwas weg, in der Hoffnung, einer weiteren Konversation so aus dem Weg gehen zu können. Er hatte Glück, die Show begann.
„Hallo. Mein Name ist Christoph und ich werde den heutigen Einführungsstuhlkreis leiten, begann ein schlanker rothaariger Student, der Julian schräg gegenüber saß und offenbar nicht bemerkte, wie dämlich sich schon das Wort „Einführungsstuhlkreis
anhörte. Er dachte sofort an Durchfälle und Abführmaßnahmen, die er während seiner Zivildienstzeit in einem Klinikum nur allzu oft hautnah mitbekommen hatte. Er musste grinsen, als er sich vorstellte, wie nun alle von ihren Stuhlgangproblemen berichten würden.
„Damit wir einander besser kennen lernen können, schlage ich vor, dass jeder von Euch eine kleine Geschichte erzählt, die ihn unverwechselbar macht und die den anderen hilft, ihn nicht mehr so schnell zu vergessen, fuhr er enthusiastisch fort, während er beim Reden wild mit den Armen fuchtelte, offenbar um das eben Gesagte noch zu unterstreichen. „Fangen wir doch links von mir an.
Wo bin ich hier nur hingeraten?, dachte Julian. Es wurde nicht besser.
„Hallo, ich bin Klaudia, mit ‚K’ und ich glaube, ich bin besonders, ..., begann das dunkelhaarige Mädchen, das wohl Anfang 20 war und dessen Haaransatz sich bei jedem Wort weiter blond zu färben schien, „ ... weil ich besondere Musik höre, die niemand sonst hört.
Ah ja, dachte Julian und überlegte, ob sie es überhaupt bemerken würde, wenn man sie mal eben gegen die nächste Wand schubste. Er bezweifelte es. Was studierte sie? Jura?
Der junge Mann neben „Klaudia mit K" erzählte etwas von jeder Menge Auslandsaufenthalten und wie großartig man sich fühle, wenn man fließend mehrere Sprachen sprechen könne.
Talent kann ja so ein Segen sein, pflichtete ihm Julian gedanklich bei.
Kandidat Nummer drei schien ganz umgänglich, gab seine dreijährige Berufsausbildung bei einer Spedition wieder und charakterisierte sich selbst, indem er erzählte, er könne nur nachts wirklich gut arbeiten – tagsüber würde er nur schlafen.
Praktisch, wo ja auch die meisten Seminare bekanntlich nach Einbruch der Dunkelheit stattfinden, sinnierte Julian. Studierten hier nur Deppen? Das Mädchen, das Julian gefährlich nahe saß, sagte, sie heiße Christine und dass sie sich nicht gerne profiliere und deshalb gar nichts sagen würde.
Eine Rebellin. Respekt, kommentierte Julian in Gedanken.
Der Junge neben dem weiblichen Che, Philipp, punktete bei seinem gespannt dasitzenden Publikum mit einem Monolog über verschiedene Luxusyachten, die sein Vater verkaufe. „Eine Ausbildung habe ich daher noch nicht angefangen, da ich die letzten zwei Jahre an den schönsten Plätzen dieser Erde zugebracht habe. Da hat ein Ereignis das nächste gejagt!"
Ich glaub, mir wird schlecht, dachte Julian, ehe er begriff, dass nun alle ihn ansahen. Er war wohl schon an der Reihe.
„Hi, ich bin Juan Carlos, studiere hier spanische Geschichte und will mal König von Spanien werden", erzählte Julian, lächelte und schaute