Exgüsi: Ein Knigge für Deutsche und Schweizer zur Vermeidung grober Missverständnisse
Von Sandra Willmeroth und Fredy Hämmerli
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Über dieses E-Book
Also diese Deutschen! Sie sind dominant, laut und ignorant. Zumindest wenn sie einem Schweizer gegenüberstehen. Und diese Schweizer! Sie sind unsicher, langsam und humorlos. Zumindest wenn sie einem Deutschen in die Augen blicken. So ist das in der deutsch-schweizerischen Beziehungskiste. Seit die Teutonen in Scharen nach Helvetien strömen, fragt sich manch ein Deutscher, warum die Schweizer so schwer zu durchschauen sind. Und manch ein Eidgenosse wähnt sich fremd im eigenen Land. Gegen diese deutsch-schweizerische Verständnislosigkeit muss etwas getan werden: Benimmregeln zur Völkerverständigung müssen her. Eine Deutsche und ein Schweizer haben sich dessen angenommen und den Knigge für Deutsche und Schweizer verfasst: humorvoll, offenherzig und verständnisvoll. So wie wir alle sein wollen.
Sandra Willmeroth
Sandra Willmeroth, Jahrgang 1970, ist gebürtige Deutsche und hat zwanzig Jahre in der Schweiz gelebt und gearbeitet. Sie war unter anderem als Redakteurin beim Tages-Anzeiger, Ressortleiterin bei der Handelszeitung und Chefredakteurin des Unternehmenskunden-Magazins der Axa Schweiz tätig und arbeitet heute als freie Wirtschaftsjournalistin und Buchautorin.
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Buchvorschau
Exgüsi - Sandra Willmeroth
Kapitel 1: Begegnungen – und Missverständnisse
Beim Einkaufen
Eine oft geäußerte Beschwerde über das unverschämte Auftreten deutscher Zuwanderer wurzelt in einer unglücklichen Formulierung vieler Deutscher: «Ich kriege …» (ein Brot, eine Zeitung usw.). Während diese Aussage für den Deutschen schlicht und einfach die simple Artikulation eines Grundbedürfnisses (z.B. Hunger) im Gütertausch darstellt, zeigt der empfindsame Schweizer bei diesem Spruch spontane physische Gegenreaktionen (Hitzewallungen, Kurzatmigkeit, Schweißausbruch, Nackenhaarsträubung) und denkt so etwas wie: «Und ich kriege gleich zu viel. So eine Unverschämtheit!»
Kein Schweizer würde je in der Öffentlichkeit seine Bedürfnisse so direkt und fordernd ausdrücken. Hingegen hat der Deutsche in seiner Sozialisation nie gelernt, seine Bedürfnisse hintanzustellen, also will er, und nicht nur vielleicht! Der Schweizer hingegen formuliert seine Bedürfnisse – wenn überhaupt – höchstens im Konjunktiv: «Ich hätte gern», «Ich würde gern» usw.
Ohne dass ihn jemand darauf hinweist, dass diese für Deutsche ganz normale Ausdrucksweise in der Schweiz viel zu dominant rüberkommt, wird der Deutsche niemals oder viel zu spät realisieren, warum die Verkäuferin ihm so pampig das verlangte Gut hinknallt. Im Gegenteil, das könnte ihn seinerseits sogar dazu veranlassen, die Verkäuferin spontan als unhöfliche Person einzustufen!
Vor allem temporäre Besucher der Limmat-, Lampen- oder Bärenstadt sind dann vielleicht nach ihrer Rückkehr nach Pinneberg, Castrop-Rauxel, Buxtehude oder Annaberg-Buchholz angesichts des in Deutschland vorherrschenden Bildes des höflichen Schweizers vom Gegenteil überzeugt. Und von dieser Überzeugung sind sie dann auch so einfach nicht mehr abzubringen und werden in Sachen helvetische Höflichkeit nicht mehr so schnell mit Vorschusslorbeeren zur Hand sein. Und das alles nur, weil man sich unwissentlich grundfalsch ausgedrückt hat.
Beispiel Bäckerei
In der Bäckerei, Sonntagmorgen, 9.00 Uhr, acht Leute stehen vor einem, man ist hungrig, hat noch keinen Kaffee genossen, die Sonne scheint, der Garten wartet. Endlich ist man an der Reihe, und das weiß man ganz genau, weil man die Reihenfolge, nach der die wartenden Kunden bedient wurden, während der vergangenen Minuten aufmerksam verfolgt hat.
«Wer ist dann der Nächste?»
– Jetzt nicht «ich» brüllen, sondern höflich nach rechts und links schauen, die zustimmende Geste der geduldig wartenden Mitmenschen abwarten, die signalisiert:
«Sie sind dran»,
die Verkäuferin ansehen und leicht nickend
«Ich dann wohl» oder: «Ich glaube, ich» antworten.
Woraufhin Sie die Verkäuferin mit einem freundlichen
«Grüezi, was dörf’s denn sii?»
begrüssen wird.
Jetzt auf gar keinen Fall so etwas wie «Ich kriege», «Ich krich» oder «Ich bekomme» sagen oder einfach «Fünf Brötchen» fordern, sondern mithilfe des Schweizer Bedürfnis-Konjunktivs mit gedämpfter Stimme anmelden:
«Ich hätte gern …»
Und jetzt bloß nicht die ganze Einkaufsliste (zwei Semmeln, zwei Gipfel und ein St. Galler Halbweißbrot) herunterspulen, sondern bitte ganz geduldig einen Posten nach dem anderen nennen:
… zwei Semmeln»
Woraufhin die Verkäuferin sagt:
«Gärn.»
und zwei Semmeln in eine Tüte packt und sie danach wieder anschauen und sagen wird
«Dörf’s suscht noch öppis sii?»
Was Sie mit
«Gerne noch zwei Gipfel.»
Beantworten, worauf die Gegenfrage kommt:
«Butter-, Laugen- oder Vollkorngipfel?»
«Buttergipfel bitte».
Verkäuferin packt zwei Gipfel in eine zweite kleine Tüte oder fragt, ob sie beides zusammen in eine große packen darf.
«Wünschet Sie suscht noch öppis?»
«Ja, bitte noch ein St. Galler Halbweißbrot.»
«Gärn»
antwortet die Verkäuferin, wickelt das Brot ein und legt es neben die anderen Bestellungen.
«Kunnt no öppis dezue?»
«Ja, gerne noch die Zeitung. Das war’s dann».
Damit beenden Sie die Bestellung, aber Vorsicht, noch lange nicht das Ritual:
Die Kassiererin tippt die Summe ein
«12 Franken 80 dann gärn»
Geld wechselt den Besitzer und prompt folgt die Frage:
«Goht das so oder bruchet Sie en Sack?»
womit eine Einkaufstasche gemeint ist.
Wenn Sie eine brauchen, wird ihnen die Ware kostenlos und sehr behutsam darin eingepackt und über den Tresen gereicht. Jetzt folgt das Finale:
«Merci vielmal»,
wünscht die Verkäuferin
«Merci vielmal»
entgegnen Sie.
«Und noch einen schönen Sonntag»,
wünscht sie Ihnen.
«Merci, Ihnen auch»,
lautet die korrekte Antwort.
Beschenkt mit einem kostenlosen Lächeln, wird man sich an Sie in dieser Bäckerei als an eine freundliche Deutsche erinnern.
Zur Erklärung für die Schweizer Leserinnen und Leser, warum diese Szene hier überhaupt soviel Raum einnimmt, nun der gleiche Hergang in einer deutschen Bäckerei (an einem Samstag, weil am Sonntag nur noch die wenigsten Bäckereien öffnen, sondern stattdessen ihre halbfertigen Aufbackbrötchen an Tankstellen liefern, die diese dann in drei bis vier Minuten fertig backen und dafür mit einem Aufschlag von 50 Prozent verkaufen) – und dieser Dialog ist keinesfalls in einem unfreundlichen Ton gehalten.
«Wer ist der Nächste?»
«Ich! Ich krieg bitte zwei Brötchen, zwei Hörnchen und ein Mischbrot. Und die Zeitung.»
Die Verkäuferin nickt stumm, dreht sich um, sucht die Waren zusammen und packt alles zusammen in eine Papiertüte. Die Zeitung darf ich mir selbst nehmen, das heißt, ich halte sie schon in der Hand und lese bereits die Schlagzeilen, während die Verkäuferin die Summe zusammentippt.
«7 Euro 10 macht das»
Geld und Ware wechseln die Besitzer.
«Bitte.»
«Danke.»
«Tschüss!»
«Tschüss!»
Die unterschiedlichen Rituale des Gebens und Nehmens ziehen sich wie ein roter Faden durch den Alltag in Helvetien. Ob Bäckerei, Autowerkstatt, Zugauskunft, Hausarzt, Coiffeur, Bekleidungsgeschäft, Drogerie, Restaurant oder Kneipe (= Bar oder Beiz). Ja, sogar am helvetischen Tresen sind Zurückhaltung und Höflichkeit deutlich mehr gefragt als in allen Teilen Deutschlands. Denn wer dem Wächter der Zapfhähne hinter der Theke ein simples
«He! Ick krieg ’n Bier!»
zuruft, muss froh sein, wenn es ihm – selbstverständlich versehentlich und unter vielfacher Bitte um Verzeihung – bloß über die Hose statt ins Gesicht geschüttet wird.
«Ich hätte gern ein Bier.»
ist die Standardfloskel, die selbst zu den Stoßzeiten im Feierabendgetümmel (= Apéro) um diverse Anschlussfragen des Gastwirtes nach der Art und der Größe des Biers erweitert wird, bis das Gebräu endlich vor dem durstigen Gast steht.
Beispiel Warteschlange
Spontane Solidarisierung unter Fremden ist in Deutschland nicht gerade unüblich. Vor allem dann nicht, wenn man in der Defensive ist. Also wenn man beispielsweise gemeinsam in der Schlange an der Kasse steht und wartet, während vorne eine ältere Dame gemeinsam mit einer Kassiererin gegen die Tücken des modernen, bargeldlosen Zahlungsverkehrs kämpft. Es hilft in der Schweiz aber wirklich rein gar nichts, in solchen Situationen zu drängeln oder sein begrenztes Zeitbudget der Mittagspause irgendwie mit einem genervten Blick auf die Armbanduhr (hoffentlich ein Schweizer Produkt, siehe auch «Die Schweizer sind … neurotisch») zum Ausdruck zu bringen. Auf diesem Ohr sind die Schweizer taub und auf diesem Auge blind.
Noch viel weniger bringt es aber, mitleidigen Zuspruch von den anderen Wartenden zu erwarten. Aus deutschen Landen sind es Verbraucherinnen und Bürger ebenso gewohnt, Schlange zu stehen. Aber sie vertreiben sich dann gerne die Zeit und regen sich beispielsweise gemeinsam über die sinnlose Zeitverschwendung auf oder machen sich auch schon mal gerne über unhaltbare Zustände lustig.
Wenden Sie sich aber in der Schweiz in einer Warteschlange an die Person, die sich hinter Ihnen die Beine in den Bauch steht und äußern so etwas