Kurzum - Kurzgeschichten: Teil Zwei : Niemandsland
Von Bernd Kleber
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Über dieses E-Book
Bernd Kleber
Bernd Kleber wurde 1961 in Berlin geboren, ist bekennender Berliner und lebt und arbeitet hier als Kaufmann. Er schreibt beeindruckende Erzählungen, die nach mehr verlangen. Die Philologin Clara Sinn warnt augenzwinkernd vor diesem Suchtpotential. Wir lachen, schmunzeln, sind gerührt bei seinen Stoffen, die in uns nachhallen. Immer sind es emotional verpackte Geschichten, die nicht so schnell aus dem Kopf gehen. In seinen Storys hält er uns oft einen Spiegel vor oder lässt Themen des Miteinander, gesellschaftliche Aspekte einfließen. Fesselnde Unterhaltung auf hohem Niveau, sensibel illustriert aus seiner fotografischen Sammlung. Von seinen Geschichten wurden einige prämiert und in Anthologien verschiedener Verlage veröffentlicht. Viele kennen ihn auch inzwischen aus seinem erfolgreichen Podcast: „Höre, was zu lesen ist …“.
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Kurzum - Kurzgeschichten - Bernd Kleber
Frieden, Freiheit, Sozialismus
®pixabay
Die Sonne beschien den Exerzierplatz der Armeedienststelle zaghaft hinter einem Hochnebelschleier verborgen, als schämte sie sich, dieses Szenario zu beleuchten.
Die Einheit war wie ausgestorben, leer. Die Schritte der Wenigen hallten durch ein geisterhaft verlassenes Gelände. Es war Manöver. Scharfes Manöver mit scharfer Munition in Bereitschaft.
Einige Offiziere, Berufsunteroffiziere und Soldaten aus dem sogenannten „Rückwärtigen Dienst" waren noch anwesend. Der Kommandeurskraftfahrer, der das Essen in die Raketenstellung fuhr. Der Tankwart, die Köche und ich.
In einem kleinen Haus mit großem Schaufenster saß ich, der Sanitäter, und fragte mich, warum ich den KFZ-Park bewachte. Der diensthabende Feldscher war unten in der Stellung, die sich zwei Kilometer tiefer im Wald befand und sicherte das Manöver dort medizinisch ab. Ich war hier oben für jeden Krankheitsfall und die Qualität der Lebensmittel unter Hygieneaspekten verantwortlich.
In den Zeitungen stand etwas von Chaos und Anarchie beim polnischen Nachbarn und von »zügelloser Hetze« gegen Staatsorgane und vom Treiben »paramilitärischer Banden«. In Polen revoltierte die Gewerkschaft „Solidarność" und wir lagen seit Wochen im Rahmen eines Manövers mit Waffe im Bett. Das hatte es seit Kuba nicht gegeben. Es beunruhigte und ebnete Gerüchten den Weg, wir werden in Polen einmarschieren. Wieder einmal ostwärts, Deutsche! Schrecklich! Alle hatten Angst.
Ich fragte mich, was die da unten mit ihren Raketen anrichten würden, wenn es losginge. Waren sie nun wie immer gegen Westen gerichtet oder diesmal auf die polnische Stadt, die einmal Danzig hieß.
Bisher verbrachte ich in dieser Armeeeinrichtung ein ruhiges Leben. Ich musste den kleinen medizinischen Punkt sauber und hygienisch halten. Außerdem übertrug man mir, da die Offiziere der Meinung waren, ich hätte zu wenig zu tun, die Aufgabe, die Bibliothek der Einheit zu verwalten. Das war wunderbar. Zwischen all den Büchern und Schallplatten wähnte ich mich im Paradies. Auch führte ich Film-Abende durch, bediente zwei riesige alte Filmprojektoren, spulte Filmrollen, klebte sogar gerissene Filmstreifen. Ich lernte viel.
Freitags oblag mir außerdem die Aufgabe, im Heizhaus einen Knopf zu betätigen. Dann presste eine Pumpe heißes Wasser in den Keller der zwei Kompaniegebäude, damit die Soldaten ausgelassen ihre wöchentliche Dusche genießen konnten. Den Rest der Woche gab es Nass nur aus der Leitung des Wasserhahnes am Becken.
Zu dieser Aufgabe hatte ich einen Schlüssel des Heizhauses. Ein Ungetüm, dieses alte Gebäude. Die Einheit war auf dem Gelände einer Munitionsfabrik entstanden. In der Nazi-Zeit wurden hier im Wald unter Tarnnetzen Granaten gefertigt. Das Heizhaus und der riesige Wasserkessel stammten aus dieser Zeit, garantiert.
Neben dem Kesselraum mit dem Kohlenofen gab es einen kleinen Raum, der dem Heizer als Aufenthaltsraum diente. Hier stand ein altes Röhrenradio, gab es einen Tisch, zwei Sessel und eine Duschecke. An den Wänden prangten überall Aktfotos, die der Heizer, ein Zivilbeschäftigter, an die Wand geklebt hatte. So viele nackte Frauen hatte ich noch nie gesehen.
Gerne hielt ich mich nach Feierabend des Mannes dort auf, denn es war warm, ich hörte Radio und es war abseits des Trubels der Armeeeinheit. Ich musste mich mit niemandem auseinandersetzen. War allein für mich. Wenn ich später gefragt wurde, wo ich denn gewesen sei, antwortete ich zaghaft, im Gelände medizinische Dienstvorschriften kontrolliert zu haben. Ich hoffte, keinen Ärger zu bekommen. Diese sogenannten DV stellte kein Vorgesetzter in Frage. Meist kannten sie die Inhalte nicht, lasen sie nicht. Wussten, dass bei deren Nichtbeachtung der politische Knast drohte.
In diesem Heizhaus, meinem persönlichen Rückzugsort, hörte ich eines Tages ein Miauen. Es wimmerte ein Kätzchen, welches in einen Kohlenschacht gefallen war. Ich kletterte die Eisenleiter hinunter und steckte es in den Halsausschnitt meines grauen Militärpullovers. Dankbar schnurrte Peterle, wie ich das Tier taufte, an meinem Körper. Ich hatte keine Ahnung, ob Peterle Katze oder Kater war.
Welche Wonne, das kleine Fellknäuel aufzuziehen und an mich zu gewöhnen. Wir wurden dicke Freunde. Peterle lebte im Heizhaus, ich besuchte ihn jeden Tag, brachte ihm kleine Kunststückchen bei und verwöhnte ihn mit Leckereien. Ich beobachtete, dass der Heizer einen Platz eingerichtet hatte, mit Fress- und Wassernapf. Auch er hatte das Tier in sein Herz geschlossen.
Nun saß ich im Wach-Häuschen, ähnlich dem einer Pförtnerloge, vor dem sogenannten KFZ-Park. Dem Gelände, wo sonst alle Militärfahrzeuge untergebracht waren. Verschlossen in Garagen. Jeder, der vom Hof fahren wollte, war verpflichtet, sein Fahrtenbuch vorzulegen, um einen Stempel mit Ausfahrzeit zu erhalten, erst dann öffnete der KFZ-Parkwächter, also im Moment ich, das Tor.
Ich grübelte und wusste, dass ich nur noch zwei defekte russische Sils und einen klapprigen Ural bewachte, da alle Militärtechnik im Manöver und in der Raketenstellung unterwegs waren. Ich schrieb Gedichte und Geschichten, dachte an Frieden und Krieg, Sinn und Unsinn dessen. Die Sonne versteckte sich hinter dem Schleier der Unschuld. Alles war Melancholie.
Mein Kopf in die Hand gestützt, starrte ich auf den Aufmarschplatz vor mir und den Weg, der am Wachgebäude vorbei, hinaus in den Wald, die Freiheit, führte. Waren alle Kameraden abwesend, war es doch ziemlich einsam hier. Ich durfte während der sogenannten Vergatterung zur Wache, und das nun auch noch unter realen Manöverbedingungen, unter keinen Umständen meinen Wachstützpunkt verlassen, war an diesen Ort gebunden.
Im Radio ertönte Karats „Der blaue Planet", Sender: Stimme der DDR. Norddeutschen Rundfunk zu hören, war hier verboten, Klassenfeind! Jeden Moment hätte ein Offizier den kleinen Raum betreten können. Die Tür des Häuschens versperrte den Blick zum Kommandeursgebäude.
Der Nachtspeicherofen bullerte und hatte den Raum extrem erhitzt. Das Bett, welches sich neben dem Schrank befand, durfte am Tage nicht benutzt werden. Das Fenster zum hinten liegenden KFZ-Park hatte ich aufgeklappt.
Plötzlich hörte ich in der Stille einen Schuss. Pistolenschuss! Noch einen! Und das Miauen einer Katze! Eindeutig aus Richtung Heizhaus!
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging. Als sich mir eine Gänsehaut aufstellte, eiskalter Schweiß auf die Stirn trat, ich aufsprang, mein Koppel mit Pistole griff, die Tür aufriss und hinausstürzte.
Ich musste zum Heizhaus nach rechts. Da sah ich von Weitem den Berufsunteroffizier, der die Küche leitete, den Fähnrich, der für die Kraftfahrzeugtechnik verantwortlich war, und den Major, der den „Rückwärtigen Dienst" kommandierte. Alle drei waren, wie alle beim RD, Pistolenträger entgegen den anderen Uniformierten mit Kalaschnikow. Die Männer, so zwischen dreißig bis Mitte vierzig, standen nebeneinander und johlten.
Ich rannte und brüllte: „Stopp!"
Dann sah ich Peterle, der saß da im Gras und guckte, als erwarte er von vielen Menschenhänden Leckereien. Ich schrie: „Peterle, lauf!"
Er stellte sich auf, machte einen Buckel, sich zu recken, drehte sich einmal im Kreis und setzte sich wieder hin, seinen Schwanz um seine Vorderfüße wickelnd. Dann miaute er wieder laut und ein Schuss fiel.
Der Fähnrich hatte sich von meinem Schrei nicht ablenken lassen, war konzentriert geblieben bei seiner Zielübung. Die Pistole schnellte hoch bei ihrem Rückschlag. Neben Peterle zischte der Schuss in den Rasen, es knallte dazu. Peterle erhob sich und fauchte.
Der Major rief mir etwas entgegen, was ich nicht verstand. An den Männern vorbei! Ich lief auf mein Tier zu, hob es hoch und presste es an meinen Körper. Nun standen die drei Glanzlichter deutschen Militärs mir gegenüber und brüllten mich gleichzeitig an.
Ich hörte Dinge wie „ … was fällt Ihnen ein … , „ … Posten verlassen …
, „ … Nachspiel … , „Stehen Sie stramm!
, „Machen Sie Meldung!, „ … lassen Sie die Katze runter …
.
Ich rührte mich nicht. Das Pochen an meiner Brust war entweder von meinem oder von Peterles Herzen, jedenfalls war ich sehr kurzatmig. Das Schnurren war auf jeden Fall von ihm.
Dann rief ich: „Was sind Sie für Tierquäler, so ein unschuldiges Tier zu beschießen? Ich werde Meldung machen nach Sanitz und eine Beschwerde an den Armeegeneral schreiben!"
Sanitz war die übergeordnete Dienststelle, der Gefechtskopf der Luftverteidigung an der Ostsee.
Der Major brüllte mich diesmal an. Ich solle sofort den Befehl befolgen und wieder auf meinen Posten gehen und es hätte ein Nachspiel. Außerdem, was ich für einen Blödsinn behaupten würde, ihnen so eine grausliche Tat zu unterstellen, seien sie doch als Genossen und Vorgesetzte Vorbilder und Mitglieder einer Gemeinschaft sozialistischer Persönlichkeiten.
Parolen beherrschten solche Dauergenossen sehr gut. Was ich dabei heraushörte, war mein Sieg. Heute würde hier kein Peterle aus Langeweile erschossen werden.
Ich ging mit der Katze auf dem Arm zurück zum KFZ-Park, ließ das Tier trotz Befehlen nicht los. Öffnete die Tür zum Häuschen, ging hinein und verschloss die Tür wieder. Die Katze legte ich unter die graue Felddecke, die am Fußende des Bettes gefaltet lag. Ich setzte mich an den Schreibtisch vor das Logenfenster und blickte wieder auf gähnende Leere. Vom Posten konnte man mich im Manöver der Waffenbrüder nicht abziehen. Das hielt noch zwei Wochen an, die ich bangend in diesem Pförtnerhaus verbrachte, mit Peterle.
Polens Staats- und Parteichef General Wojciech Jaruzelski verhängte am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht über das Land. Wir marschierten deswegen nicht in Polen ein und das Manöver wurde beendet.
Ich marschierte aber drei Tage in den Bau, die ich nachdienen musste.
Als ich aus der Armee entlassen wurde, war ich stolz auf mich. Peterle lebte von nun an beim Heizer. Das erste Mal hatte ich aufbegehrt, gegen Ältere, gegen Vorgesetzte, gegen Machtinhaber eines strengen Regimes. Ich war neunzehn!
Fressen und gefressen werden
Da bin ich auf dem Weg in die Stube. Trabe an dem kleinen Schrank vorbei und fühle mich zu Hause. Das Domizil, welches mir Geborgenheit bietet, wo ich alles an seinem Ort weiß und die Gerüche mich anheimeln.
Das Buchregal mit dem Geruch tausender Menschenhände, welche die Bücher gehalten haben, die Küche mit der Abzugshaube, Gerüche vieler Speisen aus Jahren oder das Badezimmer mit seinen Duschbädern, dem Kloreiniger und den frisch gewaschenen Handtüchern. Das sind alles Eindrücke, die nur auffallen, wenn sie sich verändern würden. Würde jemand eine neue Seife in die Ausbuchtung des Waschbeckens legen, dann würde ich das merken, so ist das zu Hause.
Die Zeitung habe ich im Flur aufgehoben und bringe sie Franz, der freut sich darüber, sagt danke und schlägt das riesige Papier raschelnd auf. Dahinter verschwindet er und ich höre ihn nur hin und wieder stöhnen, zischen, und andere Geräusche machen, die den gelesenen Text kommentieren. Er scheint zufrieden mit sich. Ich lege mich ein wenig auf die Couch, es gibt im Augenblick nichts zu tun. Wenn Franz seine Zeitung hat, dann kann ich mich entspannen, er ist dann nicht ansprechbar.
Ich höre in der Ferne, am großen Fenster, einen Brummer protestieren, der sich schon einige Beulen an seinem Kopf zugezogen hat, da er in den Garten fliegen will. Eine unsichtbare Wand bremst ihn bei jedem Versuch hart aus. Ich bleibe ganz gelassen, das macht er noch einige Male, dann wird er beim nächsten Staubwischen auf dem Fensterbrett, mit seinen Beinen in der Luft, gefunden werden. Langsam döse ich ein, höre mein eigenes lautes Atmen. Schnarche ich?
Als Franz die Zeitung bei Seite legt, sich erhebt, um in der Küche zu klappern, werde ich wieder wach. Franz brät etwas, ich höre lautes Geknister. Fleisch wehrt sich gegen heißes Fett, als wolle es aus der Pfanne springen. Ein betörender Duft zieht durch die Räume. Der Geruch nach Hähnchen. Ich habe ja vorhin schon gegessen. Der leckere Geruch des fertig gebratenen Vogels zieht nun durch die Zimmer und hängt wie ein Faden auf bestimmter Höhe in der Luft. Frisch und saftig, krossgebraten. Dazu hat Franz sich eine Scheibe Brot genommen. Ich höre ihn schmatzen und kauen und zufrieden immer wieder „hm" sagen, wenn er das Zerkaute herunterschluckt.
Ich bekomme auch wieder ein wenig Appetit. Also höre ich zu, sehe ich zu, wie gut es Franz mit seinem Essen geht. Ich sehe meist in eine andere Richtung, um nicht den Verdacht zu erwecken, ich könne gierig auf die Mahlzeit sein. Sehe aus dem Fenster, beobachte die Vögel, wie sie von Ast zu Ast hüpfen und dabei unermüdlich sich etwas zuzwitschern. Manchmal machen sie Rast auf unserem Fensterbrett, kleine Sperlinge und bunte Meisen. Niedliche Vögel, ganz schnell und flink springen und fliegen sie da froh gelaunt hin und her. Die Katze im Haus gegenüber sieht ihnen ebenfalls zu und wackelt rhythmisch mit dem Schwanz hin und her, als überlege sie, einen Sprung zu wagen. Die Dumme würde tief fallen, wenn sie den Ast der imposanten Kastanie verfehlen würde. Aber sie ist klug genug, es bei aller Jagdlust nicht zu versuchen. Wehe aber, wenn sich ein Vogel in ihre Reichweite verirren würde oder im Übermut, sich selbst überschätzend, in ihre Nähe wagen würde. Das wäre des Vogels Tod.
Der tote Vogel auf Franz´ Teller muss schon