Probeweise im Himmel: Familienroman
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Bei der Hochzeitsfeier ihrer Freundin wurde Christinas Großmutter Fanny zum Thema. Die Gespräche lösten eine Kettenreaktion aus. Schlag auf Schlag fügten sich Ereignisse wie Puzzleteile zusammen und sorgten für familiäre Turbulenzen.
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Buchvorschau
Probeweise im Himmel - Johanna Maria Rose
Kapitel 1
Laientheater
Es war vor etwa drei Jahren. Als ich an einem regnerischen Tag im Spätherbst von der Arbeit nach Hause kam, sah ich schon von Weitem, dass Post im Briefkasten war. Ich schloss das Türchen auf und nahm die Briefe heraus. Ah! Ein großer Briefumschlag mit Ellis Absender. Sie und Roland bedankten sich mit einem wunderschönen Hochzeitsfoto.
Ungefähr sechs Monate zuvor hatte meine Freundin Elli angerufen und gefragt, ob ich schon das Neueste wüsste. Bevor ich Luft holen und etwas sagen konnte, beantwortete sie ihre Frage gleich selbst im Schnellsprecher-Tempo: »Kurz und knapp gesagt, du weißt, dass Roland und ich schon zusammen auf der Schulbank saßen. Danach waren wir beide ungefähr zehn Jahre mit anderen Partnern liiert beziehungsweise verheiratet und hatten anschließend zwei Jahre das totale Chaos als Patchworkfamilie. Inzwischen haben wir uns zusammengerauft und sind alle glücklich. Wir beide kommen jetzt auf fast fünfundzwanzig Jahre wilde Ehe – eine gefühlte Ewigkeit. Und jetzt kommt’ s: Wir heiraten. Was sagst du dazu?«
Natürlich war ich überrascht. Elli hatte immer betont, auf keinen Fall zweimal den gleichen Fehler zu machen und noch einmal zu heiraten. Eine Hochzeit stand also definitiv nicht auf ihrer Liste. Vor Rührung kamen mir fast die Tränen: »Mensch Elli, was für eine Nachricht! Meine allerherzlichsten Glückwünsche! Ich freue mich so für euch!«
Sofort unterbrach sie mich: »Danke, Tina, weswegen ich dich anrufe hat ganz praktische Gründe: Also, die Einladung schicke ich in den nächsten zwei Wochen raus. Aber jetzt gehts um die Feier. Weißt du … Na ja, du kennst mich lange genug. Bei mir heißt es: Wenn schon, denn schon! Bevor du fragst, was du mir schenken kannst: Ich habe da so eine Idee oder eigentlich ganz konkret einen Wunsch für ein besonderes Geschenk. Es wird Theater gespielt. Als Schauspieler agieren ausschließlich die Gäste. Und ich wünsche mir, dass du eine Rolle übernimmst. Bitte, bitte, Tina! Das machst du doch für mich?«
Ich war gezwungen, ihren Redeschwall zu stoppen: »Elli! Elli, bitte hör mir zu! Alles, was du willst! Aber das nicht! Ich und schauspielern? Vergiss es! Das mache ich nicht! Von mir aus die Hochzeitszeitung, die Tischdekoration oder ich backe in Gottes Namen drei Kuchen. Aber in einem Theaterstück mitspielen? Nein, daraus wird nichts.«
»Meine liebe Tina! Wir waren schon im Kindergarten unzertrennlich und du bist meine beste Freundin. Für das Theaterstück habe ich schon alles organisiert: Kostüme, Perücken, Maske … Sogar einen echten Schauspieler als Coach. Philipp ist wirklich das, was man heute cool nennt. Es wird dir bestimmt Spaß machen. Und du weißt, wie ich ticke! Da kannst du dir denken: So eine übliche Hochzeit mit ein paar sinnfreien Spielen – das will ich nicht. Ich habe uns ein richtiges Schloss ausgesucht …«
»Was? Sag das noch mal! Ein Schloss? Elli! Bist du verrückt? Nein! Ihr heiratet in einem Schloss? Das ist ja fantastisch!«
»Ja, und wir können dort Theater spielen in historischen Räumen mit echten Kostümen. Am liebsten würde ich selber mitmachen.« Nach einer kleinen Pause fragt sie vorsichtig: »Tina, bist du noch dran? Das Kostüm für dich ist aus dem Theaterfundus. Ich wette, dass du toll darin aussiehst. Die passende Echthaarperücke kannst du dir in einem Studio aussuchen. Bitte, Tina, mach mit!«
»Ach Elli, du weißt schon, dass du es jetzt geschafft hast. Bei einem Schloss kann ich nicht Nein sagen – und dazu ein richtiges Kostüm … Davon habe ich schon immer heimlich geträumt.«
»Wusste ich’ s doch! Wenn es um ein Schloss geht, bist du dabei. Mir fällt ein Stein vom Herzen.
Danke dir, Tina!« Und gleich ging es weiter: »Deinen Text schicke ich heute noch als Mailanhang, so kannst du dich schon mal einlesen. Drucker hast du? Klar! Doofe Frage! Steht aber so auf meiner To-do-Liste, sorry! Und dann ist nächsten Freitag die erste Probe mit Philipp. Da triffst du auch die anderen Schauspieler. Meinen Bruder kennst du. Wolfgang ist jetzt nur grau meliert, sonst genauso witzig wie früher. Dann ist noch Monika dabei, eine meiner Lieblingscousinen, und ihre Mutter, Tante Barbara, inzwischen dreiundachtzig. Diana, meine Nachbarin, ist mit Ende vierzig die Jüngste. Fast hätte ich Bernhard vergessen, ein Fußballfreund von Roland. Den kennst du auch. Bei den Wanderungen zu Pfingsten sind wir immer mit ihm und Gisela unterwegs. Und wenn irgendwas ist, ruf mich an, ja?«
***
Es folgten turbulente Monate. Vor allem zum Textlernen brauchte ich viel Zeit. Die anderen Laienschauspieler hatten dasselbe Problem: Uns fehlte einfach die Zeit. Die Proben fanden zunächst in Ellis Hobbyraum im Keller und später in den Schlossräumen statt.
Zur ersten Probe kam Ellis Tante Barbara mit einer großen Tortenschachtel: »Wer viel arbeitet, darf auch was Süßes essen! Ihr habt alle mit euren Jobs zu tun; währenddessen habe ich Zeit, Kuchen zu backen. Heute ist es Donauwelle. Bitte, bedient euch!«
Strahlend ging Wolfgang auf sie zu: »Tante Barbara! Du bist die Beste! Was für eine gute Idee! Nur hättest du es nicht so laut sagen dürfen. Jetzt wollen die anderen auch was haben. Ich schaffe das problemlos allein, wo doch Donauwelle mein Lieblingskuchen ist.« Wolfgang freute sich und konnte sich gar nicht wieder einkriegen.
Tante Barbara ließ sich nicht beeindrucken: »Nichts gibts – erst an die Arbeit! Wolfgang, du wirst dich wohl nie ändern. So warst du schon als Kind.« Sie lachte. »Ihr könnt euch nicht vorstellen, was das für ein Lausejunge war. Unsere Familien wohnten damals etwa zwei Kilometer voneinander entfernt. Wolfgang war oft bei uns. Norbert, unser Ältester, und er spielten zusammen mit der Modelleisenbahn. Eines Tages fiel mir auf, dass eine Tortenschachtel fehlte. Ich rief meine Schwester an. Vielleicht hatte ich die Schachtel bei ihr vergessen. Sie war erstaunt, wusste von nichts. Plötzlich sagte sie: Barbara, ich leg auf und melde mich gleich noch mal bei dir. Nach einigen speziellen Nachforschungen fand sich die leere Tortenschachtel unter dem Bett in Wolfgangs Kinderzimmer. Eine Woche zuvor hatte ich ein großes Blech Kuchen gebacken. Einen Teil davon hatte ich für meine Schwester Margot eingepackt und Wolfgang mitgegeben. Der Weg von uns bis nach Hause führte durch einen kleinen Park. Da hat sich doch dieser Schlingel auf eine Bank gesetzt und den Kuchen komplett aufgegessen.«
»Alles frei erfunden«, entrüstete sich Wolfgang. »Warum werden mir eigentlich immer solche Geschichten angedichtet? Daran ist kein Wort wahr. Ich kann mich überhaupt nicht erinnern.«
»Also wenn du das weiterhin leugnest, dann zieh ich dir heute noch die Ohren lang! Wer sollte den Kuchen denn sonst gegessen haben?«
Wolfgang lachte: »Ach Tante Barbara, dein Kuchen schmeckt aber auch zu gut. Ein Königreich für einen Kuchen!«
»Jaja, man sieht es!« Monika lachte und deutete auf seinen Bauchansatz.
So viel Spaß es machte, so schwierig war es für mich, die nötige Zeit zum Theaterspielen zu organisieren. Schließlich musste ich zum Schloss fast 30 Kilometer fahren. Mein Stundenkonto in der Firma rutschte schnell ins Minus. Eigentlich hatte ich ein paar Urlaubstage für die Renovierung eines Kellerraums eingeplant, aber so musste der Keller erst mal warten, damit ich keine Probe versäumte.
Zwischendurch meldete sich Elli: »Tina, das muss ich dir unbedingt erzählen! Wir waren gestern zum Probeessen für die Hochzeit, Roland und ich. Du wirst es nicht glauben, es war traumhaft. Also ich habe alles probiert und wirklich nur probiert. Himmlisch kann ich dir sagen! Aber ich konnte mich danach kaum rühren, nach drei Gängen in verschiedenen Varianten. Du verstehst doch, dass ich dir nicht verraten kann, was es alles gibt? Heimlich musste ich sogar einen Knopf an meiner Jeans aufmachen, aber zum Glück hatte ich einen Gürtel an. Nein, Tina, ich bin so was von begeistert …«
»Wunderbar, Elli, das freut mich. Aber sag mal, warum warst du Probeessen? Damals bei uns, also ich weiß, das ist natürlich ewig her, aber wir wussten, dass das Restaurant einen großartigen Koch hat, der gutes Essen auf den Tisch bringt.«
»Ja, das war damals, Tina. Heute machen das alle so. Niemand bucht ohne Probeessen. Na ja, dafür muss ich jetzt ein paar Tage hungern. Und dabei war ich heute noch gar nicht auf der Waage. Bestimmt habe ich zugenommen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«
»Ach Elli, das rennst du dir alles wieder ab in den nächsten Wochen. Da hast du so viel zu tun. Aber jetzt … Du weißt schon, der Job. Ich bin gerade auf dem Weg zu einem Termin.«
»Okay, Tina! Tschüss!«
»Tschüss Elli!«
Philipp, unser Coach, war der ruhende Pol, immer gut gelaunt. Seine Geduld schien unendlich zu sein: »In der Ruhe liegt die Kraft! Denkt bitte immer daran: Jeder von euch hat seine Profession. Bitte macht eine strikte Trennung zwischen Beruf und Hobby. Das hier ist Hobby. Ihr macht es aus Spaß und ihr macht es sehr gut. Wenn euch mal der Text abhandengekommen ist, dann improvisiert halt! C‘est la vie! Das ist Leben!«
»Ach Philipp, du hast gut reden. Ich habe mir das einfacher vorgestellt. Aber recht hast du natürlich! Authentisch sind wir nur, wenn wir das auch verinnerlichen«, meinte Monika, Ellis Cousine nachdenklich.
»Aber niemand blamiert sich gern und hört sich dann noch jahrelang Sprüche in der Art an: Erinnerst du dich? Damals als du dachtest, du könntest Theater spielen?«, brummelte Wolfgang. »So ein bisschen Ehrgeiz …«
Thomas schüttelte oft verständnislos den Kopf, weil ich wegen der vielen Proben kaum noch zu Hause war, aber er unterstützte unser Projekt. Ich rechnete ihm hoch an, dass er mit der Einkaufsliste loszog und, ohne zu murren, den Wocheneinkauf im Supermarkt erledigte. Einkaufen war ihm normalerweise ein Gräuel. Das ging so weit, dass er sich weigerte, für den Kauf einer neuen Jeans einen Laden zu betreten. Die bestellte er sich lieber online. Eine Ausnahme machte Thomas beim Einkauf von Schuhen. Immerhin kannte er sogar zwei Schuhgeschäfte von innen und kaufte dort einoder zweimal im Jahr ein. Was ganz anderes waren Baumärkte. Die betrachtete er sozusagen als Paradies, die hatten für ihn nichts mit Einkaufen zu