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Wer frei ist von Schuld
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eBook241 Seiten3 Stunden

Wer frei ist von Schuld

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Über dieses E-Book

WER FREI IST VON SCHULD... erzählt die Geschichte von Rolf Schwedt, einem ehemaligen Lehrer, der in einem Altenheim lebt. Unnahbar und im Unreinen mit sich und der Welt lässt er niemanden an sich ran. Nur die Nachtschwester Sybille scheint zu ihm durchzudringen. Er nimmt sie mit auf eine Exkursion in seine Vergangenheit.
Auf dem Weg dorthin, lernt Sybille viele Fassetten dieses alten, einsamen Mannes kennen. Vom kindlich-naiven Mitläufer eines totalitären Regimes zum Weltverbesserer, vom Spitzel der Stasi zum Zerrissenen. Die Konturen zwischen Opfer und Täter verschwimmen. Und immer wieder die Frage, wie sein Leben und das der anderen verlaufen wäre, wenn er sich anders entschieden hätte? Wäre sein Sohn heute noch bei ihm?
Es ist ein Roman über Schuld und Verstrickung, eine Geschichte vom Verdrängen und Sich-Stellen, vor dem Hintergrund wechselnder Gesellschafts- und Rechtssysteme.

Susanne Timm, 1968 im thüringischen Bad Salzungen geboren, also ein „echtes DDR – Relikt“, ist das Jüngste von drei Kindern, die aus der gescheiterten Ehe einer Deutschlehrerin mit einem Arzt hervorgingen.  
Nach dem überraschenden Tod ihrer, über Jahre alleinerziehenden Mutter, 1978, verschlug es sie, gemeinsam mit der „neuen“, nun sechsköpfigen Patchworkfamilie ihres Vaters aus dem Thüringischen nach Mecklenburg – Vorpommern. Nach erfolgreichem Schulabschluss und dem Beginn einer Ausbildung in der Tierproduktion erhielt sie in Folge der linientreuen Erziehung ihrer neuen Eltern, die beide aktive Parteimitglieder und überzeugte Genossen waren, ein Mandat als Delegierte des XII. Parlaments der FDJ. Sie nahm am Fackelzug der Jugend in Berlin teil und wurde als potentieller Kader gehandelt. Gleichzeitig lernte sie aber auch die Doppelmoral eines Systems kennen, dessen Niedergang sie 1989/90 in eine tiefe existenzielle Krise führte. Nun selbst alleinerziehende Mutter zweier Kinder und familiär, wie ideologisch, entwurzelt, galt es, sich in einem neuen Staats-, Rechts- und Wirtschaftssystem zurechtzufinden.
Auf ihrem weiteren Weg absolvierte sie von 1990 bis 93 eine Ausbildung zur staatlich anerkannten Altenpflegerin, wurde Beraterin im sozialtherapeutischen Dienst, Suchtberatungshelferin und Pflegedienstleiterin, veröffentlichte 2008 einen kleinen Gedichtband mit dem Namen „Gefühlswelten“, zog einmal quer durchs Land, vom Norden in den tiefsten Süden Bayerns und wieder zurück. Gestrandet in Schleswig Holstein und im Rückblick auf das Erlebte, möchte sie ihre Leser in ihrem ersten Roman einladen, genauer auf ein Stück deutsch – deutscher Geschichte zu schauen.

 
SpracheDeutsch
HerausgeberEuropa Edizioni
Erscheinungsdatum31. Okt. 2022
ISBN9791220133739
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    Buchvorschau

    Wer frei ist von Schuld - Susanne Timm

    Die Nachtschwester

    „Einundzwanzig Uhr dreißig, Zeit für den ersten Kontrollgang", dachte sich Sybille, ergriff das Telefon, den Schlüssel sowie das Tablett mit den Nachtmedikamenten und betrat den langen, mit Neonlicht beleuchteten Flur. Hinter ihr klackte die Glastüre des Schwesternzimmers ins Schloss. Alles war still. Einzig Sybilles Schritte waren zu hören. Nächtige Kühle streifte sie und ließ sie leicht frösteln. Der Spätdienst hatte ein Fenster im Wohnbereich offen gelassen. Sybille stellte die Medikamente auf den Abwurfwagen im Flur und ging, ihre Strickjacke fest an sich ziehend, darauf zu, um es zu schließen. Dabei traf sie auf ihr Spiegelbild. Eine Frau, mit blassen Gesicht und lebhaft wirkenden, blauen Augen, blickte ihr entgegen. Die Augenringe darunter waren der Tribut jahrelangen Schlafmangels. Ihre dunklen, langen Haare hatte sie mit einem Haargummi hochgebunden.

    Sie war Nachtschwester und ihr Weg führte sie, wie jede Nacht, in die Zimmer zu den Bewohnern des Alten- und Pflegeheimes, in dem sie arbeitete.

    Sie klopfte an, betrat die Zimmer mit einem eher routinemäßigen „schönen Guten Abend", fragte nach Wünschen, verteilte die Nachtmedikamente und brachte den Einen oder Anderen zu Bett.

    Sybille liebte die Nächte. Sie waren nicht so getrieben und hektisch, wie der Tagesdienst. Diesen Stress wollte sie sich nicht mehr antun. Pflege im Akkord. Auch deshalb hatte sie sich bewusst für den Nachtdienst entschieden. Klar gab es solche und solche Nächte, doch im Vergleich zum Tagesdienst? Heute war es jedenfalls ruhig, so dass Sybille, ohne größere Störungen, ihre Arbeiten verrichten konnte. Sie stellte die Medikamente für den Tagesdienst, putzte die Infusionsständer, deckte die Tische ein und wusch die Bettpfannen aus. Von Zeit zu Zeit wurde sie durch das Klingeln ihres Telefons unterbrochen, das an den Notruf gekoppelt war. Sie blickte dann den Flur entlang und ging, dem roten Licht über der Zimmertür folgend, hin zu dem Bewohner, der ihre Hilfe benötigte. Auf dem Weg dorthin, kam sie an einer großen Pinnwand vorbei. Auf ihr hingen einige Zettel mit den neuesten Informationen, den Tagesaktivitäten und dem Speiseplan der Woche. Als Sybille aus einem der Zimmer kam, überflog sie kurz das Wochenprogramm: Montags um 10:00 Uhr Bingo, Dienstag um 16:00 Uhr Klönsnack, Mittwoch um 10:00 Uhr Seniorengymnastik, Donnerstag um 16:00 Uhr Handarbeit, Freitag um 10:00 Uhr Gedächtnistraining, Samstag um 16:00 Uhr Spielnachmittag und Sonntag um 16:00 Uhr Kino. Geplant war Heinz Rühmann mit der „Feuerzangenbowle".

    Immer das Gleiche, dachte Sybille. Irgendwie machte es sie traurig, obwohl sie wusste, wie schwierig es war, in Anbetracht enger Personalressourcen und Gelder, ausreichend Abwechslung zu bieten. Zumal das Niveau der Bewohner doch recht unterschiedlich war. Der Eine litt unter Demenz und benötigte auch ein entsprechend niederschwelliges Angebot, während es für den mit körperlichen Gebrechen, eines ganz anderen Programms bedurfte. Das machte es kompliziert. Dennoch, das Leben der Senioren schien, für die meisten zumindest, in einen Schleier aus Einsamkeit und Lethargie gehüllt.

    Am hinteren Ende des Flures ging eine Tür auf. Herr Brage war aufgestanden und schlurfte, nur mit einer Netzhose, Vorlage und Hausschuhen bekleidet, über den Flur. Seine Filzpantoffeln glitten fast lautlos über den, lindgrün glänzenden Linoleumboden, indem sich das Deckenlicht spiegelte.

    Als Sybille auf ihn zuging hob er nur kurz den Kopf.

    „Wohin möchten Sie denn, Herr Brage?", fragte Sybille.

    Der Angesprochene murmelte leise, kaum hörbar: „Ich muss zum Bus!"

    „Herr Brage, um die Uhrzeit fährt hier nichts mehr. Aber Sie können heute Nacht auch bei uns schlafen. Ich habe hier ein Bett für Sie!"

    Mit diesen Worten hakte sie den Bewohner unter und führte ihn zurück in sein Zimmer. Herr Brage ließ es widerstandslos zu und trottete, wortlos neben Sybille her. Sie begleitete ihn noch einmal zur Toilette, um ihn dann erneut zum Schlafen ins Bett zu legen.

    Mit einem „Gute Nacht" löschte Sybille das Licht im Zimmer.

    Als sie der Flur wieder hatte, streifte ihr Blick zufällig die Uhr an der Wand. Es war in zwischen dreiundzwanzig Uhr und fünfundvierzig Minuten. Die meisten der Bewohner schliefen schon, ein paar Wenige sahen fern. Ein Zimmer hatte sie noch vor sich, in das sie heute Abend noch gar nicht geschaut hatte. Sybille wusste, dass sie dorthin nicht zu früh kommen durfte, da sonst Ärger vorprogrammiert war.

    „Mal sehen, wie er heute drauf ist, sagte sie sich leise. Sybille holte tief Luft und warf noch einmal einen prüfenden Blick auf die Uhr. Dann klopfte sie an. Da keine Reaktion von drinnen kam, betrat Sybille auch dieses Apartment mit einem freundlichen: „Schönen guten Abend, Herr Schwedt.

    Der Angesprochene saß auf seinem Bett. Vor sich auf den Knien stand ein alter Karton. Der Deckel lag neben ihm.

    „Guten Abend", kam kratzig zurück.

    „Na, möchten Sie noch gar nicht ins Bett? Es ist bald Mitternacht"

    „Ja, gleich, gleich... ich muss nur den Karton noch wegstellen", sagte er unwirsch. Unbeholfen griff der alte Mann nach dem Deckel des Kartons neben sich. Sybille fielen seine Hände auf. Er war zwar ein alter Griesgram, doch er hatte schöne Hände. Auch sein Alter konnte das nicht schmälern. Überhaupt, seine schlanke Gestalt, dieses ausdrucksstarke Gesicht mit der hohen Stirn und dem streng nach hinten gekämmten, vollen, weisen Haaren, ließen ihn, trotz seiner 85 Jahre, sehr elegant erscheinen. Und die Falten in seinem Gesicht, machten ihn eher interessanter. Sein oft mürrisches Auftreten allerdings, ließ ihn unnahbar wirken und verbittert. Dennoch, dachte Sybille, er hat schöne Hände. Auch wenn sie zitterten, als sie nach dem Deckel des Kartons griffen. Ungeschickt versuchte er diesen zu schließen, doch wollte es ihm nicht so recht gelingen.

    „Soll ich ihnen helfen?", fragte Sybille und griff im selben Moment auch schon zu, ohne eine Antwort abzuwarten.

    „Nein, das kann ich auch allein!", kam barsch zurück.

    Doch die versuchte Abwehr ging ins Leere, da Sybille den Deckel schon in der Hand hielt, um damit den Karton zu schließen. Plötzlich verdunkelte sich der Blick des alten Mannes. Er riss Sybille den Deckel aus der Hand: „Lassen Sie das, ich mache das alleine!"

    Bei dem kleinen Gerangel rutschte der Karton von den Knien des alten Mannes und fiel zu Boden.

    „Das haben sie nun davon, sagte Sybille, ich wollte ihnen nur helfen!"

    „Ich habe nicht darum gebeten".

    Auf dem Boden verstreut lagen alte Fotos, ausgeschnittene Zeitungsartikel und Papiere.

    Der alte Mann war aufgewühlt. Auf seinem Gesicht zeigte sich die Verärgerung. Seine sonst so ruhigen, braunen Augen tanzten unruhig hin und her.

    Sybille hatte ein schlechtes Gewissen. „Es ist doch gar nichts passiert".

    „Gar nichts passiert? Sie haben gerade mein ganzes Leben auf den Fußboden befördert und erzählen mir, es sei nichts passiert?"

    „Entschuldigen Sie bitte, das hatte ich nicht beabsichtigt. Vielleicht kann ich ihnen jetzt doch helfen?"

    „Ja, ich kann mich nicht mehr so bücken, von daher..."

    Sybille hockte sich nieder und sammelte die Fotos, Zeitungsabschnitte und Briefe wieder zurück in den Karton.

    „So, das hätten wir. Sehen sie, alles ist wieder in Ordnung. Halt Stopp, dort hat sich noch ein Foto versteckt".

    Sybille bückte sich erneut. In der Hand hielt sie ein Bild, auf dem ein Junge in einer Uniform der Hitlerjugend zu sehen war.

    „Wer ist denn das? Sind sie das?"

    Der alte Mann nahm Sybille behutsam das Foto aus der Hand und betrachtete es eingehend.

    „Ja, dass bin ich... Ich weiß auch noch genau, wann das war".

    „Wann?"

    „Das war, als ich in das Jungvolk der Hitlerjugend aufgenommen wurde. Ein Tag vor Hitlers Geburtstag...Vier Monate und zwölf Tage später begann der zweite Weltkrieg", sagte er mit nachdenklichem Ton in der Stimme. Er saß da, in sich versunken und seine Gedanken führten ihn zurück an einen warmen, sonnigen Tag im April des Jahres 1939.

    Ungleiche Freunde

    „Ich verspreche, in der Hitlerjugend allzeit meine Pflicht zu tun, in Liebe und Treue zum Führer und zu unserer Fahne!"

    Stolz stand er, Rolf Schwedt in den Reihen der Zehnjährigen, als er beim Fahnenappell, gemeinsam mit den Anderen, diesen Schwur leistete. Endlich gehörte er dazu. Er hatte eine Uniform, durfte nun bei den Gruppennachmittagen und den Ausflügen mitmachen... das Leben war ein Abenteuer und er steckte mittendrin.

    „Schmuck schaut ihr aus. Sagte Lehrer Reinecke. „Schmucke deutsche Jungs. Ihr wisst was der Führer von seiner Jugend erwartet? Der deutsche Junge soll schlank und rank sein, flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl! Bis auf einige von euch, trifft das auch zu. Die Anderen? Nun, wir werden sehen.

    Missbilligend sah Herr Reinecke auf Kalle herab.

    Kalle war Rolfs bester Freund. Er entsprach nicht den Idealvorstellungen eines deutschen Jungen. Kalle war von kränklicher Natur, klein von Wuchs, schwach und unsportlich. Er trug eine Brille und hatte zu allem Unglück auch noch Asthma, weswegen er öfter keine Luft bekam.

    Rolf hingegen war das ganze Gegenteil. Er war ein hochgewachsener, blonder Junge, mit Sommersprossen auf der Nase und braunen Augen. Doch das Aussehen war Rolf egal. Er dachte nicht darüber nach. Denn seit seiner frühesten Kindheit, war Kalle an seiner Seite. Und was seinem Freund an körperlicher Kraft fehlte, glich dieser durch seinen wachen Geist und Ideenreichtum wieder aus.

    Ihre Väter arbeiteten im gleichen Betrieb und waren beide Mitglieder derselben Partei, der SPD. Sie waren nicht gerade begeistert, ihre Söhne bei der Hitlerjugend zu sehen. Doch gab es keine andere Wahl, da es seit März dieses Jahres eine Jugenddienstpflicht gab. Hier war gesetzlich geregelt, dass alle Kinder im Alter von zehn bis achtzehn Jahren der Hitlerjugend oder dem Bund deutscher Mädchen beitreten mussten.

    Rolf freute sich, trotz der anderen Gesinnung seines Vaters, endlich dazu zu gehören. Kalle hingegen, stand dem Ganzen recht skeptisch gegenüber. Und wie sein Vater, so hoffte auch Kalle, sich dem Einfluss der Hitlerjugend, auf Grund seiner schwachen Gesundheit, entziehen zu können.

    „Ich darf diese ganzen Sachen sowieso nicht mitmachen, hat der Arzt gesagt", meinte er immer zu Rolf.

    Doch wie falsch er lag, sollte Kalle schon zwei Monate später zu spüren bekommen.

    Ein letztes Mal an einem der warmen Junitage das Jahres 1939, klingelte die Schulglocke und beendete den Unterricht. Wie bei einem überkochenden Grießbrei, spuckte das Schulgebäude nach und nach die Schüler auf den Appellplatz vor das Haus. Dort bildeten sich vereinzelt kleine Menschentrauben, während sich die Masse der Schülern in alle Himmelsrichtungen zersprengte. Der Platz vor dem Schulgebäude leerte sich zusehends.

    Auch Kalle und Rolf wollten sich gerade auf dem Heimweg machen, als Fritz, der Hitler Jugendführer, gefolgt von einigen anderen Jungs, auf sie zukam und ihnen den Weg versperrten.

    „Morgen seid ihr dabei, alle beide! Und diesmal keine Ausreden mehr, sonst melde ich das und eure Alten bekommen Ärger!"

    Fritz war ein kräftiger, großer Junge. Sein Vater war ein hohes Tier bei der SS und die meisten der Kinder bewunderten oder fürchteten ihn, was in etwas aufs Gleiche rauskam. Er hatte das sagen. Drohend stand er vor Kalle und Rolf. „Wollen wir mal sehen, wie fit ihr wirklich seid". Dabei sah er abwertend an Kalle runter. Die anderen lachten. Fritz drehte sich um und ging mit den anderen Jungs davon. Rolf und Kalle blieben allein zurück. So hatte Rolf sich seine Zugehörigkeit zur Hitlerjugend nicht vorgestellt. Er dachte, jetzt würden sie ihn akzeptieren. Doch da war auch noch Kalle. Die meisten mochten ihn nicht. Eben weil er so schmächtig war. Zudem war er im Unterricht ein Ass, was die anderen noch zusätzlich störte.

    „Ich kann ja wohl schlecht mit Absicht schlechte Noten schreiben! Außerdem würde das nichts ändern", meinte Kalle immer, wenn sie darüber sprachen.

    „Lass uns halt morgen hingehen". Rolf versuchte versöhnlich zu wirken.

    „Ne, das kannst du vergessen. Ich geh da nicht hin!", protestierte Kalle energisch.

    „Hier geht's doch nur um ein bisschen Sport!"

    „Sport? Denen geht es um was ganz anderes. Unsere Väter sind beide in der SPD. Schon deshalb passen wir denen nicht in den Kram. Hinzu kommt, dass ich denen zu gut bin im Unterricht. Und Vater sagt, sie wollen uns zu willenlose Werkzeuge machen, Kanonenfutter, verstehst du? Die wollen gar nicht, dass wir viel lernen. Wir sollen einfach das machen, was sie wollen, ohne viel nachzudenken. Vater meint, es wird bald Krieg geben. Und der wird auch vor uns Kindern nicht Halt machen. Die Jungs sind dumm! Sie meinen, sie wären die Größten, wenn sie marschieren, gut schießen und schnell laufen können. Und merken dabei gar nicht, was die mit ihnen vorhaben".

    „Du spinnst doch! So weit würden sie nicht gehen. Krieg wird es mit ziemlicher Sicherheit geben, das sagt mein Vater auch. Aber dass sie die Kinder an die Front schicken, um sie als Kanonenfutter zu verheizen...? Das kannst du vergessen!"

    „Du wirst sehen. Wozu sonst sollten die Schießübungen und all das gut sein?"

    „Na für später man, wenn wir mal alt genug sind und einberufen werden. Dann brauchen sie nicht ganz von vorne beginnen. Aber jetzt schon...nee!"

    „Wollen wir wetten?"

    „Wetten tun nur die Juden!"

    „Man bist Du bescheuert!"

    „Ich bin nicht bescheuert!"

    „Außerdem will sich Fritz doch nur einen Namen machen und aufspielen. Reineckes Liebling. Und der hatte schon immer was gegen mich. Obwohl der es gerade nötig hat, der alte Pauker!"

    „Ich bin nicht bescheuert!", rief Rolf nochmals. Aber Kalle ging gar nicht darauf ein und schimpfte weiter.

    „Und wegen morgen... weiß doch Jeder, dass ich nicht so gut bin in Sport. Ist kein Geheimnis. Ich kann dir schon jetzt sagen, was dabei rauskommt. Echt, ich will da nicht hin!"

    „Mensch, Du hast ja richtig Schiss! Rolf war wütend. „Du tust ja gerade so, als ob die sonst was mit dir vorhaben. So wichtig bist du denen auch wieder nicht. Die HJ-Nachmittage sind nun mal Pflicht und Sport gehört dazu. Basta! Wir können uns nicht aus allem raushalten. Du hast gehört, was Fritz gesagt hat. Der meldet das, wenn wir nicht kommen und unsere Alten bekommen Probleme. Willst Du das vielleicht? Musst dich halt anstrengen!

    „Anstrengen?, äffte Kalle Rolf nach. „Als ob es das wäre.

    „Du musst eben trainieren. Dann können die irgendwann nichts mehr sagen. Ich kann Dir ja helfen dabei".

    „Sag mal, auf welcher Seite stehst Du eigentlich? Ist doch klar, dass ich Schiss habe! Und du kannst Dir doch wohl denken, was die vorhaben. Dazu brauchst Du nicht viel Grips, um das zu begreifen".

    Da war es schon wieder. Schon wieder behauptete Kalle, Rolf sei dumm.

    „Die wollen mich fertig machen! Es geht dabei doch gar nicht um Sport!" Kalle schrie fast, als er das sagte.

    „Nu spinnst Du total. Dich fertig machen...? Ich bin zwar nicht so schlau wie Du, aber schlau genug, um zu begreifen, dass das scheiße ist, wie du mit mir redest. Ich bin weder bescheuert, noch habe ich zu wenig Grips".

    „Sag ich doch gar nicht!"

    „So? Hast du aber gerade. Das merkst du schon gar nicht mehr. Und was sollte die Frage auf welcher Seite ich stehe? Bin ich hier oder bei denen? Aber ich kann ja auch gehen, dann bist Du ganz allein!"

    „Dann geh doch!"

    Abrupt drehte sich Rolf um und folgte eiligen Schrittes den Anderen.

    Er war wütend. Wütend auf Kalle. Wie konnte er nur darauf kommen, ausgerechnet zu ihm zu sagen, er würde nicht zu ihm stehen. Ausgerechnet er. Wie sehr wünschte Rolf sich einfach nur dazu zu gehören. Er war nicht schlecht in Sport. Er hatte kein Problem damit. Und er hatte es satt ständig verhöhnt zu werden und Abseits zu stehen, während die Anderen Spaß hatten. Er nahm es hin, weil er Kalles Freund war. Er hatte immer zu ihm gehalten und nun das?

    Bald hatte Rolf die anderen Jungs eingeholt.

    „Na, wo hast du denn dein ‚Schwesterchen‘ gelassen?", höhnte Klaus, einer der Jungs. Die anderen lachten.

    Wütend stampfte Rolf weiter.

    „Sein Vater sollte ihm einen Rock anziehen und zum BDM schicken, dann kann er nähen und kochen lernen! Er steht doch so auf ´s Lernen!"

    Wieder lachten alle.

    Abrupt drehte sich Rolf um. „Halt deine Klappe und lass mich in Ruhe!"

    „Oh ho ho, üben wir den Zwergenaufstand?"

    „Halt endlich dein vorlautes Mundwerk, sonst hau ich dir eine rein!"

    Klaus ließ seine Schultasche von der Schulter rutschen und warf sie in den Sand. Rolf tat es ihm gleich. So standen sich die beiden Jungs gegenüber, bereit jeden Augenblick aufeinander loszugehen. Da mischte Fritz sich ein und schob Klaus beiseite.

    „Lass mal gut sein!"

    Dann nickte er mit einer leichten Kopfbewegung hin zu Rolf.

    „Schneit hat er ja. Nur die falsche Gesellschaft. Wo ist denn 'die Kleine'? Habt ihr euch etwa gestritten?"

    Rolf zuckte mit den Schultern.

    „Gut, solltest du doch noch vernünftig werden? Du brauchst den doch gar nicht! Hast das gar nicht nötig, für ihn das Kindermädchen zu spielen. Du wärst bei uns viel besser aufgehoben. Wir könnten Jungs wie dich gebrauchen".

    Wieder zuckte Rolf mit den Schultern und hob seine Schultasche aus dem Staub. Das was Fritz sagte schmeichelte ihm. Klar würde er gerne dazugehören, nicht mehr der Außenseiter sein. Doch irgendwie erwartete Rolf jeden Moment das alle in Lachen ausbrachen. Doch da kam nichts. Was, wenn Fritz es ehrlich gemeint hat? Meist gingen ja seine Attacken gegen Kalle, nicht gegen ihn. Er war nur zufällig Kalles Freund.

    „Komm Fritz, lass uns gehen!", drängte einer der Jungs.

    Doch Fritz ignorierte ihn.

    „Was machst du heute noch?", fragte Fritz Rolf unvermittelt.

    „Keine Ahnung".

    „Wir wollen baden gehen. Hast du Lust?"

    „Willst du den echt mitnehmen?", protestierte Klaus.

    „Hast du ein Problem damit?", wendete

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