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Gefährliche Stimmen: Oldenburg-Krimi
Gefährliche Stimmen: Oldenburg-Krimi
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eBook399 Seiten5 Stunden

Gefährliche Stimmen: Oldenburg-Krimi

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Über dieses E-Book

Zwei Jahre ist es her, dass Mike Holner zum Mörder wurde. Das Team vom Ersten Kriminalhauptkommissar Konnert konnte ihm drei Morde nachweisen. Die Opfer schienen jedoch willkürlich ausgewählt worden zu sein. Ein Motiv war nicht zu erkennen. Der Angeklagte behauptete, er habe Stimmen gehört, denen er gehorchen musste. Deshalb wurde er nicht zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, sondern im Maßregelvollzug untergebracht. Doch dort konnte er nun entkommen. Konnerts Team ist in höchster Alarmbereitschaft.
SpracheDeutsch
HerausgeberProlibris Verlag
Erscheinungsdatum17. Nov. 2022
ISBN9783954752515
Gefährliche Stimmen: Oldenburg-Krimi

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    Buchvorschau

    Gefährliche Stimmen - Manfred Brüning

    Manfred Brüning

    Gefährliche Stimmen

    Oldenburg-Krimi

    Prolibris Verlag

    Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie des Autors. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind Institutionen, Straßen und Schauplätze in Oldenburg und Umgebung, die in diesem Roman vorkommen.

    Für Nikolaus und Josef

    Alle Rechte vorbehalten,

    auch die des auszugsweisen Nachdrucks

    und der fotomechanischen Wiedergabe

    sowie der Einspeicherung und Verarbeitung

    in elektronischen Systemen.

    © Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2022

    Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29

    Titelbild: ©AdobeStock, Rickirennes

    Schriften: Linux Libertine

    E-Book: Prolibris Verlag

    ISBN E-Book: 978-3-95475-251-5

    Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich,

    die im September 2022 im Prolibris Verlag erschienen ist:

    ISBN: 978-3-95475-225-6

    www.prolibris-verlag.de

    Der Autor

    Manfred Brüning wurde 1944 in Bad Salzuflen geboren. Der gelernte Schlosser wurde später Diakon, arbeitete siebenundzwanzig Jahre als Pastor einer Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde in Ostfriesland und erlebt jetzt seinen Ruhestand im Ammerland. Er ist verheiratet und Vater von vier erwachsenen Kindern. Nachdem er mehr als eintausend Predigten geschrieben hat, legte er mit „Gnadenlose Engel den Grundstein für die Krimireihe mit dem Protagonisten Adi Konnert, der nach Teuflische Stiche und Tödliche Mauern nun in Gefährliche Stimmen" seinen vierten Fall löst.

    Nicht die Gesunden brauchen einen Arzt,

    sondern die Kranken.

    Matthäus 9,12

    Prolog

    »Der Sinn deines Lebens ist es, alles zu tun, was ER dir befiehlt.« Diesen Satz wiederholte Mike Holner Tag für Tag, gleich nach dem Aufstehen.

    Wie an jedem Tag begann er die Morgentoilette mit einer sorgfältigen Nassrasur und duschte anschließend eiskalt. Mit feuchten Haaren stand er jetzt in seiner Nasszelle. Er redete mit seinem Spiegelbild. »Drei Menschen hast du das Genick gebrochen, beim vierten ist dir ein Fehler unterlaufen. Deshalb, und nur deshalb, konnte dich der Polizist festnehmen. Lebenslänglich hast du bekommen. Weil sie behaupten, du bist nicht richtig im Kopf, sitzt du nicht im Knast, sondern hier in Wehnen im Siegmund-Freud-Haus, dem Maßregelvollzug.«

    Über sein Gesicht huschte ein schiefes Lächeln. »Dir geht es hier gut, in der forensischen Psychiatrie, weil dein Papa für alles sorgt. Vergiss das nicht.«

    Er wandte sich um, trat näher an die offen stehende Tür und betrachtete sein Zimmer. Es hatte einen cremefarbenen Anstrich. Die Möbel waren aus Buchenholz. Das Bett baute er morgens so um, dass er es tagsüber als Sofa benutzen konnte. Radio und Fernseher benötigte er höchstens mal für Nachrichtensendungen. Wichtiger war ihm die Doppelreihe Bücher auf den zwei Regalbrettern an der gegenüberliegenden Wand. Beide Stühle hatte er unter den Tisch geschoben. Man hatte ihn zur Ordnung erzogen.

    Er blickte zum Fenster. Es hatte eine schusssichere Verglasung, aber kein Gitter. Er war ja in einer Klinik, nicht im Gefängnis. Öffnen ließ es sich nur auf Kipp. In diesen windlosen, heißen Augusttagen stand die Luft stickig im Raum.

    Ein Schlüssel wurde von außen ins Schloss der Tür gesteckt und umgedreht. Axel Reil trat ein. An seinem Kittel prangte ein Schild mit seinem Namen und seiner Berufsbezeichnung Gesundheitspfleger. »Herr Holner, Ihre Mutter wartet unten im Besuchszimmer. Wollen Sie mit ihr sprechen?«

    »Schon wieder?«

    »Es ist Ihre Mutter, Herr Holner.«

    Sie ist mir so fremd. Ich kann mit ihr nichts anfangen, dachte Holner.

    »Ziehen Sie sich an und kommen Sie mit.«

    Zehn Minuten später saß er seiner Mutter gegenüber und schwieg.

    »Mike, mein Junge, wie geht es dir?«

    »Gut.«

    »Nimmst du auch regelmäßig deine Medikamente?«

    »Ja, mache ich.«

    Mit einem Seitenblick zum Gesundheitspfleger fragte sie: »Du hörst keine Stimmen mehr?«

    »Nur noch selten.« Holner fixierte den Nagel, an dem ein Kalender hing.

    »Mike, ich habe Herrn Michaelis frisches Obst für dich gegeben. Und deine Lieblingskekse.«

    »Ich bekomme hier alles, was ich brauche. Du musst mir nichts mitbringen. Für größere Wünsche sorgt Papa.«

    Anja Holner wollte ihre Hände auf die ihres Sohns legen, aber er zog sie zurück und schob sie unter den Tisch. »Was kann ich denn für dich tun?«

    »Nichts.«

    »Es ist schwer für mich, zu ertragen, dass du hier sein musst.«

    »Wäre es dir lieber, ich würde im Gefängnis sitzen? Meine Anwälte haben alles gegeben, damit ich nicht in den Knast komme. Das hat Papa ein Vermögen gekostet.«

    »Ich weiß.«

    Mike Holner drehte unter dem Tisch Däumchen.

    »Ich würde dir so gern helfen. Du bist doch mein Junge, mein Ein und Alles. «

    Holner schwieg. Er erinnerte sich an die Jahre vor seiner Einschulung in einer verdreckten Wohnung. Die Frau, die jetzt adrett angezogen und frisch frisiert vor ihm saß, hatte nach Alkohol gerochen und tagsüber auf dem Sofa geschnarcht oder sie hatte ihn eingeschlossen, wenn sie sich abends auf den Weg in die Oldenburger Kneipenszene gemacht hatte. Manchmal war er frühmorgens von ihrem Kichern aufgewacht. Oft hatte am Frühstückstisch ein Fremder gesessen, Kaffee getrunken und gequalmt.

    »Tja«, seufzte Anja Holner und tupfte sich mit einem Papiertaschentuch Tränen aus den Augen, »dann gehe ich mal wieder.«

    »Danke, dass du hier warst.« Er wusste, was sich gehörte.

    21. August

    In der Bar vom Hotel Azimut in Köln beobachtete am frühen Dienstagnachmittag ein Gast von seinem Fensterplatz aus ungeniert die Barfrau. Er wusste, dass sie extra mit einer Kollegin getauscht hatte, um genau an diesem Nachmittag Dienst zu haben. Sylvia Bonte rückte Gläser zurecht, deren Position sie schon vor fünf Minuten zum x-ten Mal korrigiert hatte. Sie lächelte still.

    Der Gast hieß Dakhil bin Khalifa bin Hamad Al-Thai. So stand es wenigsten in dem iranischen Pass, den er um 14:36 Uhr auf dem Flughafen Köln/Bonn vorgezeigt hatte. Er war mit der Maschine aus Oslo gekommen. Sein Kabinentrolley war unauffällig an einem Extraschalter kontrolliert worden.

    Mit der linken Hand strich Dakhil bin Khalifa über seinen mit grauen Strähnen durchzogenen Vollbart. Sein Businessanzug war maßgeschneidert. Die Schuhe hatten den klassischen Schnitt handgefertigter italienischer Schuhe. Vor ihm lag ein iPad. Daneben stand ein Whiskeyglas. Sylvia Bonte hatte nachgefragt, als er auf Englisch Writers Tears bestellt hatte. Genau auf dieser Sorte hatte er bestanden. Daran sollte sie den Mann erkennen, für den man einen Koffer an ihre Privatadresse zugestellt hatte. Oben, im Hotelzimmer, hatte sie ihn unbemerkt von anderen Mitarbeitern abgestellt und drei Flaschen derselben Whiskeymarke in die Minibar gelegt. So lautete die telefonische Anweisung, die sie vor zwei Wochen erhalten hatte. Fünfhundert Euro waren vier Tage später auf ihrem Girokonto gutgeschrieben worden.

    Dakhil bin Khalifa hatte kurz aufgeblickt, als wenige Minuten nach ihm eine Blondine durch die Tür getreten war. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm, das sie wohl bei H&M gekauft hatte, und die Ballerinas gehörten zur selben Preisklasse. Ein spöttisches Lächeln war über sein Gesicht gehuscht. Von ihr würde keine Gefahr ausgehen. Die Frau hatte Kaffee bestellt, sich mit Blick zur Tür an das Thekenende gesetzt und in einem Magazin zu blättern begonnen. Wenn sie sich auf ihrem lederbezogenen Barhocker nach vorn beugte, zeichnete sich am Rücken unter ihrer Jacke ein Gegenstand ab, der unschwer als Pistole zu erkennen war.

    Gedämpfte Musik kam aus verdeckt angebrachten Lautsprechern. Sylvia Bonte polierte mechanisch die Arbeitsplatte. Ihr Blick schweifte durch die Bar. Zur Frau bekam sie keinen Blickkontakt. Dakhil bin Khalifa aber sah sie an. Sie machte ein fragendes Gesicht. Er nickte und hob sein Glas. Wenige Augenblicke später servierte sie ihm einen weiteren Whiskey.

    Ein übergewichtiger Mann betrat die Bar, zog die Jeans über den Bauchansatz hoch, sah kurz durch den Raum und wuchtete sich auf einen der Barhocker. Er bestellte ein Pils und beobachtete Sylvia Bonte, wie sie sein Bier zapfte. Bis es vor ihm stand, schürzte er abwechselnd die Lippen und presste sie zusammen. Er ließ einige Minuten verstreichen, bevor er einen Schluck trank. Den minimalen Schaumbart wischte er mit dem Handrücken von der Oberlippe.

    Dakhil bin Khalifa faltete einen Fünfzigdollarschein, schob ihn unter das leere Whiskyglas, griff sein iPad und verließ die Bar. Der Mann schaute erst hinter ihm her und nickte dann der Frau am Ende der Theke zu. Sie erhoben sich gleichzeitig und zahlten wie Dakhil mit einem Schein, den sie ebenfalls mit ihrem Glas beschwerten. Sie trafen sich an der Tür, die er für sie aufhielt. Von Dakhil bin Khalifa war im Foyer nichts mehr zu sehen.

    »Er hat nur für eine Nacht eingecheckt«, sagte Inga Timpe zu ihrem Kollegen Bennradt vom Bundeskriminalamt.

    ***

    Dreihundert Kilometer nordöstlich und drei Stunden später passierte Nadim Bel Kahla die Personenkontrolle am Flughafen Hannover. Er kam aus Prag und legte einen tunesischen Pass vor. Es gab keine Beanstandungen.

    Im Taxi wünschte er der Fahrerin einen angenehmen Tag. Er bat darum, zum koscheren Restaurant Carmel Wintergarten gefahren zu werden. Ohne den Gruß zu erwidern oder ihm beim Einladen seines Gepäcks geholfen zu haben, fädelte die Frau hinter dem Steuer den Mercedes in den fließenden Verkehr ein. Nadim Bel Kahla zog die Schultern zusammen, als würde er frieren. Er spürte die eiskalte, ablehnende Atmosphäre, die von der Taxifahrerin ausging. Auf der dreißigminütigen Fahrt in die Berliner Allee sprach sie kein einziges Wort mit ihrem Fahrgast. Sie zeigte am Ende nur stumm auf den Taxameter.

    Aus einem Bündel Geldscheine zog Nadim Bel Kahla vierzig US-Dollar heraus. Er hielt die Scheine ins Licht, als prüfe er die Echtheit. Dann ließ er sie mit einer abfälligen Bewegung in den Fußraum flattern und stieg aus.

    Im Restaurant bestellte er Hähnchen in Honig und Sherryweinsoße. Beim Essen hatte er es nicht eilig. Oberflächlich betrachtete er die Gemälde an den Wänden, um gleichzeitig unauffällig das Verhalten der übrigen Gäste zu beobachten. Der Kellner servierte zum Nachtisch Haroset und wechselte ein paar Worte auf Hebräisch mit ihm. Bevor er zahlte und mit einem ausgesprochen großzügigen Trinkgeld aufrundete, bekam er eine Reisetasche ausgehändigt. Er hob sie an und schätzte das Gewicht auf rund zehn Kilogramm. Er nickte zustimmend. Mit einem Handschlag verabschiedete er sich und schlenderte die Allee hinunter bis zum Schiffgraben. Im Grand Palace bezog er für eine Nacht ein Einzelzimmer.

    ***

    In Oldenburg räumte Kriminalhauptkommissar Adi Konnert in der Polizeiinspektion am Friedhofsweg seinen Schreibtisch auf. Ein verhältnismäßig entspannter Tag lag hinter ihm. Er empfand den Umstand als positiv, dass Mordermittlungen mit Tag- und Nachtschichten in seinem Kommissariat nicht die Regel waren. Aber irgendwann würde wieder ein Mensch einen anderen töten. Dann könnte er sich nicht um fünf Uhr nachmittags in den Feierabend verabschieden.

    Sein Stellvertreter, Kriminaloberkommissar Bernd Venske, hatte sich schon vor einer Stunde in den Feierabend verabschiedet. Mit ihm waren die meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ebenfalls gegangen. An einem Schreibtischkarree, links neben der doppelflügeligen Eingangstür des Großraumbüros, saß nur noch Barbara Deepe mit ihrem Team zusammen. Die Kriminaloberkommissarin ging mit ihren Leuten neue Fälle durch, bei denen von Autobahnbrücken auf Pkws und Lkws geschossen worden war.

    Konnert sah hinüber zur Kommissarin. Bis vor einem halben Jahr kannten alle im Haus sie nur als Babsi. Von einem Tag auf den anderen hatte sie damit begonnen, jedem, der sie so ansprach, zu sagen: »Ich heiße Barbara Deepe und möchte mit Frau Deepe oder mit Barbara angesprochen werden.« Das hielt sie zwei Wochen konsequent durch. Nannte sie danach wieder jemand Babsi, ignorierte sie die Anrede. Stupste sie dann einer an und sagte: »Ich hab dich was gefragt«, antwortete sie seelenruhig: »Ich dachte, du meintest eine Babsi. Ich heiße Barbara.« Sie hatte sich durchgesetzt. Inzwischen hatten alle Kollegen auch die süffisante Betonung weggelassen, mit der sie ihren Vornamen anfangs ausgesprochen hatten. Sie ist erwachsen geworden, dachte Konnert, sie macht sich nicht schlecht, die Frau Kriminaloberkommissarin.

    Er zog die oberste linke Schublade am Schreibtisch auf. Einen Moment lang kniff er die Lippen zusammen. Im Mai hatten da noch fein säuberlich sortiert unterschiedliche Pfeifen, Tabak und ein Feuerzeug gelegen. Aber seit zwei Monaten hielt er sich an das Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden. Er hatte nie mit dem Tabakqualm Nichtraucher gefährden wollen. In dem von den übrigen Arbeitsplätzen abgetrennten Büro schadete er ja nur sich selbst, hatte er gedacht. »Auch ich habe mich verändert«, flüsterte er. Manchmal ärgerte er sich doch über die staatlichen Eingriffe in die Eigenverantwortlichkeiten seiner Bürger. Dann hatte er Lust, solche Gesetze und Verordnungen zu übertreten. Bisweilen tat er das ja auch. Er freute sich auf das Feierabendpfeifchen zu Hause auf der Terrasse.

    Mit der Aktentasche unter den Arm geklemmt, verließ er den Glaskasten, wie er sein Büro wegen der verglasten Seiten nannte. Am Buchentisch in der Mitte des Raums, um den herum sich die Mitarbeiter zu Besprechungen versammelten, rückte Konnert im Vorbeigehen einen Stuhl zurecht. Rechts neben dem Ausgang verharrte er für einen stillen Moment vor einem Schreibtisch. Mit zusammengepressten Lippen schaute er auf die leere Arbeitsplatte. Kriminalkommissar Kilian Kirchner hatte sich krankgemeldet. Wieder einmal. Wegen einer lebensgefährlichen Schussverletzung litt er an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Er war der erste Kollege, der in Konnerts langer Dienstzeit so schwer verwundet worden war. Er fühlte sich mitschuldig, weil er unbewaffnet nicht in die Schießerei hatte eingreifen können. Kilian hatte nach wiederholten Therapien darauf bestanden, zurück ins Kommissariat zu kommen. Aber immer aufs Neue litt er an den Beschwerden der psychischen Erkrankung. Dann blieb sein Schreibtisch unbenutzt.

    Konnert quetschte die Aktentasche fester unter den Arm und ging hinüber zur Besprechungsgruppe. »Tschüss«, sagte er. Seine Stimme klang heiser. »Bis morgen.«

    »Die nächsten 14 Tage bin ich nicht im Dienst. Schreib doch mal auf, wenn ich bei dir Urlaub beantrage und du ihn genehmigst.« Barbara Deepes Stirn legte sich in Ärgerfalten.

    Sachlich ist sie geworden, stellte Konnert fest. Hat sie mich früher ermahnt, mir Termine zu merken oder mir Namen und Telefonnummern wenigstens aufzuschreiben, waren ihre Worte von einem Lächeln begleitet. Jetzt klangen sie genervt und bisweilen sogar vorwurfsvoll. Sie hat sich eine harte Schale zugelegt, dachte er und vermutete, dass sie innerlich verbittert war. Konnert überlegte, ob er erneut einen Versuch unternehmen sollte, ihr ein Gespräch anzubieten.

    ***

    Dakhil bin Khalifa fand auf seinem Zimmer ein Whiskeyglas aus Bleikristall auf dem runden Tisch der Sitzgruppe und seinen Samsonite Cosmolite Koffer. Man sah ihm an, dass er zufrieden war. Dem Kühlschrank entnahm er eine der bestellten Whiskeyflaschen und schenkte sich großzügig ein. Mit dem Glas in der Hand stellte er sich ans Fenster und prostete dem übergewichtigen Beamten zu, der in einem Opel Insignia auf der anderen Straßenseite saß. »Ich wünsche dir ein paar schlaflose Stunden und morgen einen kräftigen Anschiss von deinem Chef«, flüsterte er in akzentfreiem Deutsch. Er trank bedächtig mit kleinen Schlucken und dachte an den Auftrag, der ihn nach Deutschland geführt hatte. Es hatte Zeit und Mühe gekostet, einen Mitarbeiter zu finden, der die Technik beherrschte, die für die bestellte Aktion zwingend war. Dank seiner Vernetzung mit Kollegen und anderen Spezialisten hatte er Nadim Bel Kahla gefunden. Die Sprengung würde gefahrlos und schnell zu erledigen sein.

    Sein Handy meldete sich. Darauf hatte er gewartet.

    »Und?«, fragte ihn eine Frauenstimme.

    »Bin angekommen. Keine Probleme. Alles war vorbereitet, ich wurde erwartet. Ihr Auftrag wird wie abgesprochen erledigt.«

    »Gut.«

    Damit war das Gespräch beendet.

    Er dachte daran, dass vor dem Hotel Florian Bennradt im Opel saß, neben ihm seine Kollegin Inga Timpe. Wahrscheinlich verfluchte er den Tag, an dem er sich bei der Polizei beworben hatte.

    Mit einem Mal hatte es Dakhil bin Khalifa eilig. Vielleicht gelang es ihm ja, die Polizisten zu überraschen und abzuhängen. Den Inhalt seines Koffers könnte er auch später kontrollieren. Er legte die Whiskeyflaschen und das Glas zu den wenigen Sachen in seinen Kabinentrolley und verließ das Zimmer.

    ***

    Beim Betreten seines Hauses fiel Konnert wie jedes Mal die Stille auf. Tochter Ruth und ihr Ehemann Sven waren Hals über Kopf ausgezogen. Nachdem sie in ihrer Oberwohnung als Geisel genommen worden waren, wollten sie nicht weiter mit einem Kriminalbeamten unter einem Dach leben. Sie erwarteten ein Kind, sagten sie, und das solle in ungefährlicher Umgebung aufwachsen. Sie nahmen ihren Kater und den Kläffer mit, den sie ihm geschenkt hatten. Er war von Anfang an mit dem Welpen überfordert gewesen. So hatte sich der Hund mehr bei ihnen aufgehalten als in seinen Räumen. Jetzt summte höchstens mal eine Fliege durch die Zimmer unterm Dach.

    Vor der Treppe blieb Konnert stehen und schaute hinauf. Er vermutete, dass die beiden einen anderen Grund für ihren Auszug verschwiegen hatten. Ruth und Sven hatten ihn mit bedenkenschwerer Stimme gefragt, ob er wirklich das Verhältnis zu einer mehr als dreißig Jahre jüngeren Frau mit dunkler Hautfarbe aufleben lassen wolle. Als er das bejahte, standen sie auf und zischten ihm zu: »Du wirst ja wissen, was du tust, wenn du dich wieder mit Zahra verbindest. Sie könnte deine Tochter sein.« Und nun wohnten sie in einem Altbau an der Nadorsterstraße im dritten Stock. Und er war mit Zahra zusammen.

    Auf dem Weg durch die Küche stellte er die Aktentasche auf einen Stuhl, öffnete die Tür zur Terrasse und ließ sich dort seufzend in einen Rattansessel fallen. Er stopfte sorgfältig eine Pfeife, zündete sie an und betrachtete seinen Rasen. In diesem Jahr hatte er ihn selbst vertikutiert. Mähen würde er ihn heute nicht mehr. Das Gras wuchs ja kaum bei der Trockenheit, die seit Wochen anhielt. Der Gesprächskreis in der Kirche hatte Sommerpause. Zahra war wie immer nach der Arbeit zu ihrer bettlägerigen Mutter in Bremen gefahren. Den Feierabend würde er allein verbringen. Er paffte Rauchwolken in die schwüle Abendluft. Die Haustür vom Nachbarhaus wurde zugeschlagen. Kurz darauf startete ein Auto mit durchdrehenden Reifen. Da hing mal wieder der Haussegen schief, vermutete er und erinnerte sich an die Auseinandersetzungen, die er mit seiner Frau in den letzten Monaten geführt hatte, bevor sie gestorben war. Am Samstag hatte er an ihrem Grab gestanden und die verwelkten Blumen in der Friedhofsvase betrachtet. Wahrscheinlich hatte sie sein Sohn Elias am Wochenende gebracht.

    Selbst im Schatten der überdachten Terrasse war es unangenehm warm. Mit dem Hemdärmel wischte er sich Schweißperlen von der Stirn. In seinem Alter sollte man viel trinken. Gemächlich holte er eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank.

    ***

    Das Hotel verließ Dakhil bin Khalifa um 23:47 Uhr mit einem Mietwagen durch die Tiefgarage. Er schaute hinüber zum Insignia: Der Polizist hinter dem Steuer schreckte auf und griff zum Zündschlüssel. Bevor der BKA-Beamte den Wagen gewendet hatte, war Dakhil bin Khalifa links in eine Seitenstraße abgebogen. Er fuhr langsam, bis er im Rückspiegel den Opel entdeckte. Dann gab er Vollgas, riss den Lenker herum und stand kurz in Gegenrichtung, bevor er beschleunigte und auf seine Bewacher zusteuerte. Bennradt würde sich nicht trauen, den Dienstwagen querzustellen. Damit lag er genau richtig. So konnte er an ihnen vorbeirasen. Am Ende der Straße schaltete er den Pannenblinker als letzten Gruß ein, rollte auf die Hauptstraße und trat das Gaspedal durch. Hinter ihm tauchte kein Blaulicht auf. In diesen Finten drückte sich seine Überlegenheit aus, die er sehr genoss. Er fühlte sich absolut sicher.

    Mit jedem gefahrenen Kilometer veränderte sich seine Stimmung. War wirklich alles zur vollen Zufriedenheit abgelaufen? Er konnte und wollte mit der Überprüfung des Kofferinhalts nicht warten. In Köln-Niehl bog er von der A 1 ab und parkte den Passat im nahe gelegenen Industriegebiet in einem Wendehammer. Er stieg aus und schaute sich um. Weit und breit war niemand zu sehen. Mit Schwung wuchtete er den Samsonite aus dem Kofferraum und legte ihn auf das Verbundsteinpflaster. Am oberen Griff baumelte der Gepäcktag. Er ließ ihn hängen, hockte sich hin und gab den Code in das TSA-Zahlenschloss ein. Zwischen Kleidung und einigen Sachbüchern über Hochgeschwindigkeitszüge kamen fünf in genoppter schwarzer Spezialfolie verpackte Pakete zum Vorschein. Sanft streichelte er ihre Oberfläche. Das ist die Reserve, dachte er, für den Fall, dass die Sprengladungen an Nadim auf dem DHL-Versandweg entdeckt und eingezogen worden waren. Er verschloss den Koffer wieder und nahm im Stehen einen Schluck aus der Flasche Writers Tears. Er lächelte, war mit sich zufrieden. Sein nächster Halt würde das Trend Hotel in Oldenburg-Metjendorf sein. Das lag vier Kilometer vom Maßregelvollzug entfernt.

    Neben einem Opel, mit eingeschaltetem Pannenblinker, auf dem Standstreifen, saß ein Pärchen in reflektierenden Westen auf der Leitplanke der A 1. Dakhil beachtete sie nicht weiter, als er an ihnen vorbeibrauste.

    22. August

    Gut ausgeschlafen bestellte Nadim Bel Kahla telefonisch einen Mietwagen der oberen Mittelklasse und bat darum, das Auto um 9 Uhr zum Grand Palace zu bringen. Er frühstückte bei bester Laune und bezahlte seine Rechnung in bar. Auf der A 27 testete er, was sich aus dem Audi A7 an Geschwindigkeit herauskitzeln ließ. Adrenalin beflügelte ihn. Er liebte es, in Deutschland das Tempo ausfahren zu dürfen, das der Wagen hergab. In das Navi hatte er eine Hoteladresse in Bad Zwischenahn eingegeben.

    ***

    Am großen Tisch im Kommissariat FK1 der Polizeiinspektion versammelten sich die Ermittler und weitere Mitarbeiter zur Frühbesprechung. Wie es seine Art war, begrüßte Konnert jeden mit einer angedeuteten Verbeugung und einem Lächeln. Er hatte keine Eile. Geduldig wartete er, bis die letzten Randgespräche verstummten.

    »Wer fängt an?«

    Verena Herbarth hob ihren Kugelschreiber. »Ich vertrete Barbara.« Sie sah in die Runde, um Blickkontakt zu den Anwesenden herzustellen. »Versuchte Tötungen durch Schüsse von Autobahnbrücken. Wir sind der Meinung, dass es an der Zeit ist, eine Sonderkommission aufzustellen, die sich ausschließlich mit diesen Ereignissen beschäftigt.«

    »Und du wirst ihre Leiterin«, warf Venske seinen Kommentar dazwischen.

    »Der Sachstandsbericht steht im Intranet und liegt ausgedruckt bei Dir auf dem Schreibtisch.«

    »Danke, liebe Verena, ich habe ihn gelesen. Klasse Arbeit.« Venske grüßte mit zwei Fingern an der Schläfe. Verena Herbarth zeigte ihm den Stinkefinger.

    Eine Pause entstand.

    Kriminaloberkommissarin Stephanie Rosenberg rückte ihre Brille zurecht und berichtete knapp von zwei Fällen häuslicher Gewalt. »Im zuletzt genannten Ehestreit habe ich einen Wohnungsverweis für den Ehemann über vier Tage ausgesprochen und beim Familiengericht weitere Schutzmaßnahmen beantragt. Fragen?« Es blieb still im Raum. »Um fünfzehn Uhr habe ich einen Gerichtstermin. Angeklagt ist Avram Drulovic, endlich ausgeliefert aus Rumänien, mutmaßlicher Vergewaltiger von Janina Geißendörfer. Ihr erinnert euch?«

    Schlagartig waren die Ereignisse wieder in Konnerts Gedächtnis lebendig. Er dachte an die Ermordung von drei ehemaligen Fürsorgezöglingen und an die Festnahme des Chefs der Bremer Rumänenbande. Vor allem aber an Kilians schmerzverzerrtes Gesicht nach dem Schusswechsel. Er presste die Lippen zusammen. Alle anderen starrten ebenfalls für einen Augenblick aneinander vorbei.

    Venske brach die Stille. »Leute, das bringt doch nichts. Das Leben geht weiter. Erledigen wir unseren Job.«

    Niemand reagierte.

    »Also. Ungeklärte Todesursache des Andreas Kirchhoff, 62 Jahre alt.« Venske klopfte mit dem Kugelschreiber auf die Tischplatte. »Tot aufgefunden wurde er in einem wasserführenden Graben. Wahrscheinlich ist er ertrunken. Am Auffindungsort war das Gras der Böschung heruntergetreten. Möglicherweise von Schaulustigen, bevor Streifenpolizisten eintrafen, oder der Tote ist nicht allein unterwegs gewesen, als er sich in dem Graben übergeben hat. Auffällig ist noch, dass das Portemonnaie ohne Geld und sein Personalausweis in seiner Hemdtasche steckten. An den Armen waren Hautunterblutungen zu erkennen.«

    Niemand stellte eine Frage. Venske redete weiter: »Die Befragung von Kollegen und Bekannten hat ergeben, dass der Tote wohl periodisch Depressionen hatte. Dann trank er zu Hause. Wenn er sich obenauf fühlte, schmiss er Lokalrunden. Ich bin kein Psychologe. Trotzdem wage ich die Diagnose manisch-depressive Psychose. Gestern soll er volltrunken seine Stammkneipe verlassen haben. Angeblich allein. Ich habe bei der Staatsanwaltschaft die Obduktion beantragt.«

    Nachfragen oder Kommentare blieben aus. Solche Berichte waren tägliche Routine im FK1. Genau wie die weiteren Mitteilungen von Anzeigen betrogener Freier und die Bearbeitung einer von Streifenpolizisten geschlichteten und protokollierten Schlägerei.

    Als niemand noch etwas mitzuteilen hatte, stand Konnert auf und sagte: »Danke! Und allen einen erfolgreichen Tag.«

    Wenig später saß er hinter seinem Schreibtisch, starrte die Poster auf der gegenüberliegenden Glasscheibe an und wünschte sich, den Nachmittag mit Zahra in Bremen verbringen zu können.

    ***

    Mit dem Bus fuhr Nadim Bel Kahla nach Oldenburg. Im Vapiano am Kasinoplatz trank er einen Nachmittagskaffee. Er pflegte diese Gewohnheit seit mehr als dreißig Jahren. Sie war der Garant für sein Glück und er hatte sich vorgenommen, diesen Ritus bis zu seinem Tod beizubehalten. Ab und zu schaute er auf sein Smartphone. Dann betrachtete er wieder seine Fingernägel. Sein Partner kontrollierte sicherheitshalber den Theaterwall oder beobachtete vom Pulverturm aus die gegenüberliegende Straßenseite. Nadim versuchte, ihn mit zusammengekniffenen Augen zwischen den Passanten zu entdecken.

    »Ha!«

    Nadim zuckte zusammen.

    »Trottel!« Dakhil bin Khalifa lachte und setzte sich. »Niemand beschattet dich. Alles ist ruhig.«

    Nadim antwortete auf Jiddisch.

    »Rede deutsch!«, flüsterte Dakhil.

    »Deutschland heißer als Wüste.«

    »Siehst du, es geht doch. Nach drei Tagen plapperst du wie ein Einheimischer.«

    Nadim lehnte sich zurück. »Drei Tagen ich am Strand von Eilat. Was anderes. Ist Equipment mitgekommen?«

    »Lass mich erst etwas zu trinken holen.« Dakhil ging zur Theke und bestellte einen Writers Tears. Damit konnte das Vapiano nicht dienen. Er gab sich mit einem Jack Daniels zufrieden.

    »Guck nicht so!«, sagte Dakhil. »Ich habe das im Griff. Mach dir keine Sorgen. Alles wird gut. Glaub mir.«

    Doch Nadims Stirnfalten waren mit den Beteuerungen nicht wegzuwischen. Wer so viele Worte macht, glaubt sich selbst nicht, dachte er, fragte aber: »Du hast bekommen, was du brauchst?«

    »Selbstverständlich.« Er trank einen Schluck »Hast du dein Zeug?«

    »DHL transportiert zuverlässig. Liegt sicher in Hotel.«

    »Dann um 23 Uhr. Heidelbeerweg.«

    Dakhil bin Khalifa trank sein Glas aus, erhob sich, rückte den Stuhl an den Tisch, verließ grußlos das Vapiano und mischte sich unter die Passanten, die in die Innenstadt bummelten. Am Bahnhof nahm er sich ein Taxi und ließ sich nach Metjendorf zum Trend Hotel bringen.

    Nadim holte Dakhils Passat vom Parkplatz, umrundete den Stadtkern und bog in Richtung Bad Zwischenahn ab. Das Auto parkte er an der Ofener Kirche und fuhr mit dem Bus weiter. Der erste Punkt ihres Plans konnte abgehakt werden.

    ***

    Die Fenster waren geschlossen, um die Geräusche von der Straße zu dämpfen. Kilian Kirchner zog die Vorhänge zu. Im Dunkeln, meinte er, wäre der Kampf gegen die innere Unruhe leichter zu führen. Er ließ sich in seinen Massagesessel fallen und legte die Füße auf den Hocker. Der Ventilator quirlte ihm abgestandene Luft ins Gesicht. Auf dem Tischchen neben seinem Sessel wellte sich die Mettwurstscheibe auf dem angebissenen Brötchen vom Frühstück.

    Ihn quälte immer noch der Traum der letzten Nacht. Deutlich hatte er gesehen, wie eine Kugel auf ihn zuflog. Er wollte dem Projektil ausweichen, war aber wie gelähmt. Der Schmerz in der Brust überflutete alle Sinne. Dazu kam die Angst, auf der Stelle zu sterben. Kurzatmig war er aufgewacht und hatte danach minutenlang stocksteif und schweißnass unter dem Bettlaken gelegen. Wieder einzuschlafen war nicht möglich. Die ihm vom Therapeuten verschriebenen Tabletten wirkten nicht. So war er durch die Wohnung geschlurft und hatte versucht, fernzusehen. Selbst das Drücken der Taste, um durch die Programme zu zappen, gab er nach wenigen Minuten auf. Immer wieder dachte er an seine Arbeit in der Polizeiinspektion. Zur Zeit des Sonnenaufgangs war es ihm endlich gelungen, den Wunsch niederzuringen, aus dem Polizeidienst auszuscheiden. Aber was war damit gewonnen? Der Kampf würde weitergehen.

    Kilian schlappte ins Bad und drückte eine weitere Schlaftablette aus dem Blister. Schlafen, richtig tief schlafen und erholt am Morgen aufwachen. Danach sehnte er sich und schluckte die Pille. Es gelang ihm nicht, sich aufzuraffen, um zu duschen oder mit Adi Konnert zu telefonieren. Die Vorstellung, mit seinem Therapeuten zu sprechen, brachte ihn dazu, die Tablettenschachtel in Richtung Toilette zu werfen.

    ***

    Nadim Bel Kahla hatte beim Militär Pünktlichkeit gelernt. Noch zwei Minuten bis 23 Uhr. Er ließ den Sekundenzeiger bewusst nur eine Runde drehen. Dann nahm er den Trolley mit seiner Kleidung und die Sporttasche. Bevor er den Raum verließ, inspizierte er jedes Detail. Dass er Spuren hinterließ, war ihm klar. Aber es sollten nicht mehr sein als die unvermeidlichen Hautschuppen oder kurzen Haare.

    Durch den Kellereingang verschwand er aus dem Hotel.

    Genau acht Minuten später zog er sich gewohnheitsmäßig Latexhandschuhe über und brach auf dem Parkplatz am Bahnhof Bad Zwischenahn einen Subaru Outback auf. Vollkommen fokussiert auf den abgesprochenen Plan verzog er dabei keine Miene. Seine Gefühle hatte er abgeschaltet. Die Sensibilität der Wahrnehmungsorgane lag bei einhundert Prozent. Um zwei, manchmal drei Kilometer überschritt er die Geschwindigkeitsbegrenzungen auf der Fahrt in Richtung Oldenburg. Jetzt bloß nicht wegen Bummelei auffallen. Alles musste normal aussehen. Er fuhr durch Wohnsiedlungen mit Einfamilienhäusern, deren Fenster bis auf seltene Ausnahmen dunkel waren, bis er in einen von Birken gesäumten Wirtschaftsweg gelangte. Am Ende parkte er den Subaru vor einem grünen Tor, stieg aus und zog die Sporttasche vom Beifahrersitz. Nach wenigen Schritten verschwand er unter Bäumen. Er legte sich an die Böschung eines Entwässerungsgrabens, den die Sommerhitze ausgetrocknet hatte.

    Seine Anfahrt war gelungen,

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