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Das Foto: Ein multiperspektivischer Generationenroman
Das Foto: Ein multiperspektivischer Generationenroman
Das Foto: Ein multiperspektivischer Generationenroman
eBook313 Seiten4 Stunden

Das Foto: Ein multiperspektivischer Generationenroman

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Über dieses E-Book

Das Foto hing bei meinen Großeltern in der Stube, direkt neben dem hölzernen Kreuz. Es war ein Schwarz-Weiß-Bild, groß, gerahmt. Eine blasse, junge Frau mit langen, dunklen Haaren war darauf zu sehen, auf ihrem Arm ein Kind. Das Foto erinnerte mich an die Bilder von Jesus und Maria, die ich aus der Kirche kannte, und ich wusste: Über dieses Bild durfte ich niemals sprechen …

»Das Foto« - ein Roman über eine deutsche Familie im langen Schatten des Zweiten Weltkriegs.

Der Inhalt in Kürze:
Ein Foto im Müll: Wer hat es weggeworfen? Und: Wer ist die Frau auf dem Bild?
In zwanzig Kapiteln, Briefen und Gedichten wird das Leben von Gustav Kerzinger erzählt. Gustav wird 1918 geboren. Seine Kindheit ist geprägt von Gewalt und Vernachlässigung. Als junger Mann sympathisiert er mit den Nazis, kämpft als Wehrmachtssoldat in Nordafrika und gerät in amerikanische Kriegsgefangenschaft. 1947 kehrt Gustav traumatisiert nach Deutschland zurück, heiratet Käthe und bekommt mit ihr sieben Kinder. Das Familienleben ist überschattet von Gustavs Stimmungsschwankungen und Gewaltausbrüchen. Über seine Kriegserlebnisse spricht er mit niemandem, genauso wenig wie über seine Nazi-Vergangenheit. Verdrängte Schuld, verdrängte Traumata, Tabus und Sprachlosigkeit innerhalb der Familie - das hat Folgen für die nachfolgenden Generationen: Die Kinder und Enkel leiden an Schwermut, diffusen Ängsten, Orientierungslosigkeit und einem tiefen Gefühl der Unsicherheit und Entwurzelung.
»Das Foto« ist ein multiperspektivischer Generationenroman: Jedes Kapitel wird aus der Sicht einer anderen Person erzählt. Gustav als Kriegskamerad, als Schwiegersohn, Ehemann, Vater, Großvater oder Nachbar - nach und nach setzt sich seine Biografie mosaikartig aus unterschiedlichen Blickwinkeln zusammen. Und, Schritt für Schritt, enthüllt sich auch das Geheimnis um die ominöse Frau auf dem Foto im Müll …
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum28. Nov. 2016
ISBN9783734568589
Das Foto: Ein multiperspektivischer Generationenroman

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    Buchvorschau

    Das Foto - Elva Schevemann

    Die Fremde

    November 2009, Süddeutschland

    Herr Yıldız merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Die Mülltonne war zu schwer, als er sie an ihren Platz zurückstellen wollte. Da war noch etwas drin.

    Das war ungewöhnlich. So etwas passierte beim Restmüll eigentlich nie. Beim Biomüll ja, da kam es schon mal vor, im Winter, bei starkem Frost, dass die feuchten Abfälle – Kartoffelschalen, Tomatenkerne, Soßenreste – in der Tonne festfroren und alles Rütteln und Schütteln der Maschine nichts half. In den vergangenen Tagen waren die Temperaturen aber nie unter den Gefrierpunkt gesunken.

    Paulino, Herr Yıldız’ Kollege, schob die nächste Tonne zum Müllauto. Die Greifzähne der Ladehydraulik packten zu und hoben den Mülleimer empor. Ein kräftiger Ruck. Der Behälter kippte nach oben und erbrach seinen Inhalt in den Bauch der Maschine. Mit großem Klappern wurde nachgerüttelt.

    Was konnte dieser Wucht standhalten? Herr Yıldız kratzte sich am Kopf, öffnete den Deckel der Mülltonne und schaute hinein. Da sah er das gerahmte Foto. Es hatte sich verkantet und steckte im unteren Drittel der Tonne fest. Darunter quoll ein grauer Plastikmüllsack hervor. Jemand musste das Bild mit großer Kraft in die Tonne gepresst haben.

    Thomas, der Fahrer, beugte sich aus dem Seitenfenster.

    „Was ist los, Ibrahim?", rief er Herrn Yıldız über das Dröhnen des Motors hinweg zu.

    „Da steckt was fest!", rief Herr Yıldız.

    „Dann hol’s raus, zackzack, wir haben keine Zeit!"

    Thomas klopfte mit der Hand auf eine nicht vorhandene Uhr.

    „Moment!"

    Herr Yıldız stellte sich auf die Zehenspitzen, streckte seinen Arm in die Tonne und drehte dabei sein Gesicht gen Himmel. Ein Glück, dachte er, dass November ist. Im Sommer, bei heißen Temperaturen, war der süßlich-faulige Gestank des Mülls kaum zu ertragen. Doch heute war es kühl, einer dieser grauen, feuchten Herbsttage, an denen es kaum hell wurde und der Nebel alles verschluckte. Mit seiner behandschuhten Hand griff Herr Yıldız nach dem Bild und rüttelte daran, einmal, zweimal. Es löste sich. Seltsam, dachte Herr Yıldız, so einfach? Er zog das Foto aus der Mülltonne und wischte mit dem Ärmel seiner orangefarbenen Jacke darüber. Es war ein Schwarz-Weiß-Porträt, groß, gerahmt. Eine blasse, junge Frau mit langen, dunklen Haaren war darauf zu sehen. Das Haar war nach hinten gekämmt und fiel ihr in leichten Wellen über die Schultern. Sie trug eine schwarze, hochgeschlossene Bluse und blickte mit ernstem Gesicht in die Kamera. Auf dem Arm hielt sie ein Kind, einen kleinen Jungen, noch keine zwei Jahre alt.

    Paulino schaute Herrn Yıldız über die Schulter. Er piff.

    „Mega, die Schwester. Bellissima!", sagte er, lachte und klopfte Herrn Yıldız auf die Schulter. „Ist aber keine Jungfrau mehr!"

    Herr Yıldız ärgerte sich. Er fand, dass Paulino nicht so über die Frau sprechen sollte. Das war nicht richtig. Sie hatte mehr Respekt verdient. Wieder wischte er mit dem Ärmel über das Foto. Wer hatte es in die Mülltonne geworfen? Und warum?

    Er blickte zum Haus hinüber. Es war ein Doppelhaus, die eine Hälfte war in einem etwas helleren Beige gestrichen als die andere. Die rechte Einfahrt war mit grauen Knochensteinen, die linke mit quadratischen, gelben Platten gepflastert. Dazwischen: eine Buchenhecke, zu einem langgezogenen Quader gestutzt. Rauch stieg aus einem Kamin. Die braunen Dachziegel glänzten. Ein Fenster im Erdgeschoss war schwach erleuchtet.

    Seit fast dreißig Jahren kam Herr Yıldız hier vorbei, Woche um Woche. Früher hatte auf dem Grundstück ein Apfelbaum gestanden, im Frühjahr sahen die Knospen der Apfelblüten aus wie blutige Nägel, im Sommer schaukelte eine Hängematte unter dem Baum, und im Herbst war der Boden mit Äpfeln übersät, doch die waren mit den Jahren immer weniger geworden. Eines Tages war der Apfelbaum nicht mehr da. Nur ein Baumstumpf ragte noch eine Zeit lang in den Himmel, bis auch der verschwand.

    Kinder hatten hier früher gewohnt, zwei Mädchen, ein blondes und ein braunhaariges, die kamen aus dem Haus gerannt, wenn der Müllwagen vorfuhr, beobachteten, wie er und sein Kollege die Mülltonnen leerten, und winkten ihnen zu. Eine der Mülltonnen – damals noch rund und aus verzinktem Blech – war irgendwann knallblau lackiert und mit bunten Blumen verziert gewesen. Im Laufe der Zeit war die Farbe aber abgeblättert, die Blumen waren kaum noch zu erkennen. Die Mädchen kamen da schon lange nicht mehr aus dem Haus gerannt.

    Im Haus rechts wohnte ein altes Ehepaar, Herr Yıldız hatte den Mann manchmal beim Holzhacken gesehen, die Frau hantierte bei offenem Fenster in der Küche. Einmal hatte das Paar Seite an Seite auf der Holzbank vor dem Haus gesessen, und Herr Yıldız hatte sich ausgemalt, wie er und Ayla, seine Frau, auf einer Bank sitzen würden, in einigen Jahren, wenn sie in Rente waren. Die Bank stünde unter einem Feigenbaum, und sie würden sich an den Händen halten und aufs Meer blicken.

    Herr Yıldız wandte den Kopf und schaute die Stichstraße hinab: sechs Häuser, die sich am Waldrand drängten. Der Tann war dunkel und dicht. Hinter den Häusern Streuobstwiesen, Starkstromleitungen, braune Äcker. Der Mais war seit einigen Wochen abgeerntet.

    „Los, schmeiß’ das Foto in die Maschine und dann weiter!", sagte Paulino.

    Herr Yıldız presste das Bild gegen seine Brust und schüttelte den Kopf. „Ich nehm’ sie mit", sagte er.

    Paulino zuckte die Achseln.

    Sie fuhren über Land, von Weiler zu Weiler, von Gehöft zu Gehöft. Herr Yıldız mochte diese Fahrten. Sie sprachen wenig, hörten Radio 7 oder SWR 3 und sahen aus dem Fenster. Die Landschaft war hügelig, Obstbaumwiesen wechselten mit Äckern, Mischwäldern und kleinen Seen. Im Frühling war die Szenerie von weißen und gelben Schlieren überzogen, im Sommer war alles in tiefes Grün getaucht, Mais und Hopfenranken wucherten in den Himmel, die Buchenwälder schienen von innen heraus zu leuchten. Bevor er nach Deutschland gekommen war, hatte Herr Yıldız nicht gewusst, wie viele unterschiedliche Grüntöne es gab. An klaren Tagen sah man den Bodensee und die dahinter liegenden Alpen: eine riesige, tiefblaue Fläche vor einem atemberaubenden, zerklüfteten, grau-weiß-marmorierten Felsmassiv. Heute jedoch war nichts zu sehen. Der Nebel war undurchdringlich.

    Herr Yıldız hatte sich das Foto auf die Schenkel gelegt und hielt es mit beiden Händen.

    „Das Ding ist doch uralt, mindestens dreißig Jahre oder so, sagte Paulino. „Was willst du denn damit? Du kennst die Frau doch gar nicht!

    Thomas, der Fahrer, warf einen Blick auf das Bild, sah wieder nach vorn auf die Straße.

    „Das ist viel älter, sagte er. „Bestimmt sechzig oder siebzig Jahre. Vielleicht aus dem Krieg.

    „Ja, wahrscheinlich ist die Alte so ’ne Nazitante!", rief Paulino.

    „Du hast keinen Respekt, sagte Herr Yıldız, seine Stimme klang scharf. „Ich verbiete dir, so über sie zu sprechen.

    Pause.

    „Ja, Mann, alles klar. Alter!", sagte Paulino. Er verdrehte die Augen.

    Thomas bremste, bog in ein Seitensträßchen ein, zuckelte weiter, hielt an. Es zischte. Der nächste Weiler.

    Avanti, avanti, alter Mann! Paulino boxte Herrn Yıldız gegen den Arm, stieß die Seitentür auf und sprang aus dem Wagen. „Lass’ uns die Maschine füttern!

    Am späten Vormittag, nach ihrer ersten Tour, machten sie Pause in der Zentrale. Männergrüppchen saßen an Tischen verteilt. Es roch nach Kaffee, feuchter Kleidung, Zigarettenrauch und Salami. Die Deckenleuchten brannten und tauchten den Pausenraum in grelles Licht. Stiefel quietschten auf dem Linoleumboden, Stühle scharrten.

    Herr Yıldız setzte sich. Mit dem Unterarm wischte er Krümel beiseite, legte das Foto vorsichtig auf den Tisch. Thomas und Paulino gesellten sich zu ihm, zogen Stühle heran, stellten Pappbecher vor sich. Dampf stieg auf, Kaffeegeruch. Widerlich, dieses Automatengesöff, fand Herr Yıldız. Die Deutschen konnten vieles, aber Kaffee, das konnten sie nicht. Aus seiner Thermoskanne goss er sich Tee ein, biss in eine Brezel. Thomas kaute an seinem Wurstweckle und starrte ins Leere. Paulino tippte etwas in sein Smartphone. Weitere Männer betraten den Raum, grüßten, verteilten sich an den Tischen. Stimmengewirr erfüllte die Luft, Stühlescharren, Männerlachen.

    „Der Nebel ist wieder schlimm heute, nicht? Es war Sergej. Der Kollege zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben Herrn Yıldız. „Was hast du denn da?

    Er deutete auf das Bild.

    „Ibrahim hat sich eine Süße zugelegt, sagte Paulino, sah von seinem Smartphone auf, grinste. „Aber red’ nicht schlecht über sie, sonst kriegst du Ärger!

    Herr Yıldız tat, als hätte er Paulino nicht gehört.

    „Ich hab’ sie im Müll gefunden, sie und ihren Sohn, und ich hab’s nicht über’s Herz gebracht, die beiden in die Maschine zu werfen", sagte er.

    Sergej strich sich mit einer Hand über den Kopf, musterte das Bild.

    „Sie sieht traurig aus, sagte er. „Oder was meinst du?

    Er stieß einen Kollegen an und deutete auf das

    Foto.

    „Also ich finde, sie lächelt!"

    Hinter Herrn Yıldız bildete sich eine Traube aus Männern.

    „Ey, die zieht doch voll die Fresse, Mann!"

    „Quatsch, sie lächelt!"

    „Was für Glutaugen ..."

    „Also ich seh’ das Lächeln auch!"

    „Da muss man aber schon sehr genau hinschauen ..."

    In Gedanken entschuldigte sich Herr Yıldız bei der fremden Frau, dass er sie nicht besser vor den Blicken seiner Kollegen beschützte.

    „Was machst du denn jetzt mit ihr?" Sergej sah Herrn Yıldız an.

    „Ich frag’ den Chef, ob ich sie mitnehmen darf."

    Der Chef war noch jung, Herr Yıldız schätzte ihn auf Mitte dreißig. Er war erst im vergangenen Sommer Chef geworden, nachdem der alte in Rente gegangen war.

    Herr Yıldız hatte den alten Chef gemocht. Der hatte ihn eingestellt, damals, Anfang der neunzehnhundertachtziger Jahre, und nie anders behandelt als die deutschen Kollegen. Sogar zur alljährlichen Betriebsweihnachtsfeier hatte er Herrn Yıldız eingeladen, ihn, den Türken! Das hatte es in der Firma, in der Herr Yıldız die Jahre zuvor gearbeitet hatte, nicht gegeben. Zur Weihnachtsfeier waren nur die deutschen Kollegen gegangen.

    Der neue Chef wirkte oft müde. Das lag vermutlich daran, dass er zwei kleine Kinder hatte. Einer der Kollegen hatte den Chef einmal mit seiner Familie in der Stadt gesehen.

    „Der hat sein Baby in einem Rucksack am Bauch getragen, wie eine Frau!", erzählte er, fassungslos.

    Die anderen lachten und schüttelten den Kopf.

    Schimpfworte auf dem Betriebshof hatte der neue Chef verboten, gleich an seinem ersten Arbeitstag.

    „Wir sind ein modernes, wertiges Unternehmen", sagte er.

    „Wir müssen Dienstleistung großschreiben", sagte

    er.

    „Alter, was für ein Hurensohn", sagte Paulino.

    Im Vorzimmer des Chefs saß Frau Hartmann, die Sekretärin. Sie war sehr jung und sehr dick. Als Herr Yıldız eintrat, schob sie sich gerade ein Schokoladenherz in den Mund.

    „Herr Yıldız, sie kaute, „was gibt’s?

    „Ich möchte den Chef fragen, ob ich das, er zeigte ihr das Foto, „mitnehmen darf. Ich habe es im Müll gefunden.

    Frau Hartmann schluckte. „Oooh, ist das ein süßes Baby! Wer wirft denn sowas weg?" Ihre Stimme klang höher als sonst.

    Im Türrahmen stand der Chef.

    „Herr Yıldız, sagte er, „wie kann ich Ihnen helfen?

    Er wirkte auf Herrn Yıldız immer etwas angespannt, so, als wolle er auf gar keinen Fall einen Fehler machen.

    Herr Yıldız fühlte sich unwohl in seiner Gegenwart. Er wiederholte sein Anliegen.

    „Hmmm, sagte der Chef, sah erst Frau Hartmann, dann Herrn Yıldız an. „Eigentlich ist es ja verboten, Abfall zu behalten. Sie wissen, dass der Müll Eigentum des Kreises ist?

    „Das weiß ich, sagte Herr Yıldız, „aber ich habe es nicht über’s Herz gebracht, sie wegzuwerfen oder einfach irgendwo liegenzulassen.

    „Hmmm", sagte der Chef.

    Herr Yıldız sah, wie es in seinem Gesicht zuckte.

    „Gibt es für so einen Fall irgendein Formular?", fragte der Chef die Sekretärin.

    Frau Hartmann schüttelte den Kopf.

    „Hmmm", machte der Chef wieder.

    Er richtete sich auf, zog sein Jackett glatt.

    „Wissen Sie was, Herr Yıldız, sagte er, „ich mach’ da heute mal eine Ausnahme. Nehmen Sie das Bild einfach mit! Er wandte sich Frau Hartmann zu. „Wir Deutschen müssen ja auch nicht immer so überkorrekt sein, was?"

    Er lachte und klopfte Herrn Yıldız auf die Schulter. Herr Yıldız lachte mit.

    Es war Nachmittag, als Herr Yıldız nach Hause kam. Die zweite Tour war gut verlaufen. Der Nebel war nach und nach aufgerissen und hatte den Blick auf einen strahlendblauen Novemberhimmel freigegeben. Die Luft war frisch. Ein goldener Schimmer lag über der Landschaft, das Herbstlaub leuchtete in Rot und Braun und Gelb. Es roch nach vermoderten Blättern und vergorenem Obst – ein trauriger Geruch, fand Herr Yıldız. Das Jahr war fast vergangen. Der Winter stand vor der Tür.

    Herr Yıldız zog sich die Schuhe aus und betrat seine Wohnung. Er nahm das Foto aus einer Plastiktüte und legte es auf den Esstisch im Wohnzimmer. Danach ging er in die Küche und wusch sich die Hände. In einem Topf bereitete er sich ein Gericht aus weißen Bohnen und Tomaten zu. Ein Schuss Olivenöl, etwas Zitronensaft, dazu drei gepresste Knoblauchzehen, ein Bund gehackte, frische Petersilie, Pfeffer und Salz – fertig. Den Teller mit den Bohnen in der einen, das Besteck und ein Stück Fladenbrot in der anderen Hand, ging er ins Wohnzimmer und setzte sich an den Tisch. Sein Blick fiel auf die gegenüber liegende Wand. Oberhalb eines Beistelltischchens, von einer Blumenbordüre umrahmt, hingen etwa dreißig Fotos, größere und kleinere, schwarz-weiße und farbige, alle in hölzerne Rahmen gefasst: Bilder seiner Familie. Auf dem Beistelltischchen lag eine weiße Häkeldecke. In einer türkisfarbenen Vase blühten bunte, glitzernde Plastikblumen.

    Herr Yıldız’ Blick blieb an einem Farbfoto hängen. Er und Ayla waren darauf zu sehen, sie saßen auf einem knallroten Sofa in ihrer ersten Wohnung, er hatte den Arm um sie gelegt. Es hatte lange gedauert, bis sie sich richtige Möbel gekauft hatten. Als Herr Yıldız nach Deutschland gekommen war, neunzehnhundertdreiundsiebzig, als junger Mann, hatte er zunächst in einer Gastarbeiterbaracke gewohnt. Mit drei anderen Türken teilte er sich ein Zimmer. Zwei Jahre wollte er bleiben und in dieser Zeit viel Geld verdienen. Aus den zwei Jahren wurden drei, dann vier – aber auch, nachdem er und Ayla geheiratet und eine gemeinsame Wohnung bezogen hatten, sagten sie sich: Es lohnt sich nicht, richtige Möbel zu kaufen, wir gehen bald wieder zurück in die Türkei. Ihre Wohnungseinrichtung bestand aus Möbeln, die sie von Freunden und Bekannten geschenkt bekommen oder auf dem Sperrmüll gefunden hatten. Ihr Sohn Muharrem wurde geboren und wuchs heran. Irgendwann gestanden sie sich ein, dass sie nicht so bald in die Türkei zurückkehren würden. Ihre ersten richtigen Möbel bestellten sie sich aus dem Quelle-Katalog. Vor allem stabil sollten sie sein – damit sie den Rücktransport in die Türkei eines Tages überstehen würden ...

    Herr Yıldız schüttelte den Kopf. Damals, als er sein Dorf in den Bergen verlassen hatte, um nach Deutschland aufzubrechen, hätte er niemals gedacht, dass er fast vierzig Jahre später immer noch dort leben würde. Am Tag seiner Abreise war es heiß gewesen. Mit einem braunen Lederkoffer in der Hand war er die staubige, steinige Straße entlang in die nächste Stadt gewandert, um die lange Reise ins ferne Almanya anzutreten. Die Dorfsippe begleitete ihn bis zur Ortsgrenze. Zum Abschied wurde viel geweint und umarmt und geschluchzt. Seine Mutter und sein Vater schluchzten am heftigsten.

    Herr Yıldız betrachtete das Foto seiner Eltern, ihre faltigen, ledernen, ausgemergelten Gesichter. Ihr Leben war hart und entbehrungsreich gewesen. Ibrahim wurde als fünftes von acht Kindern geboren, am Tag, als der Kuckuck zum ersten Mal rief, so erzählte es seine Mutter. Sie konnte weder lesen noch schreiben und verstand nichts von Kalendern. Später wurde sein Geburtstag auf den ersten Juni datiert. Herr Yıldız war zweiundzwanzig, als er nach Almanya aufbrach. Die Eltern hatten es nie verwunden, dass er gegangen war.

    Die erste Zeit in Deutschland war hart. Deutschland roch anders, schmeckte anders, hörte sich anders an. Das Geräusch der Kirchenglocken erschreckte ihn, er vermisste den vertrauten Ruf des Muezzins. Es gab keine Feigen, keine eingelegten Oliven, keine gefüllten Weinblätter, die Lebensmittel in Deutschland waren eingepackt und schmeckten fad. Und dann die schwere Arbeit! „Will lernen und „kann machen waren seine ersten deutschen Worte. Auf der Straße oder beim Einkaufen fühlte er sich verloren und hilflos, weil er die Menschen nicht verstand. Jedes Mal betete er, dass kein Deutscher ihn ansprechen möge. Dabei hatte er es immer gemocht, mit anderen Menschen zu plaudern und zu scherzen. In der Gastarbeiterbaracke hörten sie türkischsprachige Sendungen auf Radio Budapest und BBC, um ihre Sehnsucht nach der Heimat zu stillen.

    Als Herr Yıldız Ayla kennenlernte, wurde es besser. Ayla arbeitete als Akkordnäherin in einer Unterwäschefabrik. Sie heirateten und bekamen einen Sohn, Muharrem. Weil das Gehalt von Herrn Yıldız nicht ausreichte, um die Familie zu ernähren, musste Ayla wieder arbeiten gehen. Muharrem gaben sie während der Woche in eine deutsche Pflegefamilie, mit blutendem Herzen. „Papa Heiner und „Mama Brigitte nannte Muharrem seine Pflegeeltern. Die Wochenenden verbrachte der Junge zuhause, bei Ayla und ihm. Muharrem weinte jedes Mal und vermisste seine deutschen Eltern. Das türkische Essen, das Ayla ihm vorsetzte, schmeckte ihm nicht, aber Herr Yıldız zwang seinen Sohn aufzuessen. Dieser Ekel, dieser Widerwille, dieser ewige Kampf! Herr Yıldız schüttelte den Kopf.

    Einmal, Muharrem musste sieben oder acht Jahre alt gewesen sein, ging Herr Yıldız mit seinem Sohn einkaufen. Im Laden verlor er Muharrem aus den Augen. Er hastete durch die Gänge und entdeckte seinen Sohn schließlich beim Regal mit den Süßigkeiten. Ein älterer Mann in einem Kittel stand neben ihm und redete auf ihn ein. Muharrem heulte und zeigte seine leeren Taschen vor.

    „Ich HAB aber nichts gestohlen!" rief er. Sein Gesicht glühte.

    Als der Mann Herrn Yıldız erblickte, sagte er: „Du immer gut aufpassen auf Sohn!", zeigte dabei erst auf Herrn Yıldız, dann auf Muharrem. Herr Yıldız sagte nichts und nickte.

    Sie schwiegen, als sie nach Hause gingen. Lange konnte Herr Yıldız seinem Sohn nicht mehr in die Augen sehen.

    Von diesem Tag an weigerte sich Muharrem, Türkisch zu sprechen. Auch seinen Namen legte er ab.

    „Ich heiße Harry!, schrie er seine Eltern an, wenn sie ihn „Muharrem nannten.

    Später besorgte Papa Heiner Muharrem eine Lehrstelle bei der Sparkasse. Dort arbeitete er auch heute noch, in leitender Position. Muharrem heiratete Melanie, eine Deutsche, ebenfalls bei der Sparkasse angestellt. Die beiden bauten ein Haus und bekamen zwei Kinder, Leon und Laura. Vor Kurzem war Muharrem Mitglied in der örtlichen Narrenzunft geworden, darüber wurde sogar in der Zeitung berichtet. Herr Yıldız hatte nur so viel verstanden, dass eine Narrenzunft etwas sehr Deutsches mit sehr langer Tradition war. In dem Zeitungsartikel stand, dass Muharrem ein „Beispiel für gelungene Integration" sei. Herr Yıldız war an diesem Tag stolz gewesen auf seinen Sohn, aber in seinem Herzen war keine Freude gewesen. Merkwürdig, dachte Herr Yıldız.

    Ab und zu kam Muharrem mit seiner Familie zu Besuch. Herr Yıldız machte für die Enkel Pommes oder Spaghetti oder Pfannkuchen. Er freute sich, wenn sie kamen, aber er freute sich auch, wenn sie wieder gingen. Die Kinder waren sehr laut und ungehorsam.

    Er schaute auf das Hochzeitsfoto von Muharrem und Melanie, dann glitt sein Blick zu seinem eigenen Hochzeitsfoto. Ayla war wunderschön gewesen. „Mein kleines Vögelchen", hatte er sie genannt. Im vergangenen Jahr war sie gestorben, an Krebs. Innerhalb weniger Monate war sie völlig abgemagert. Sein Vögelchen flog ihm davon.

    Sie hatten immer darüber gesprochen, eines Tages in die Türkei zurückzugehen und sich ein Häuschen am Meer zu kaufen.

    „Wenn wir in Rente sind", hatten sie gesagt.

    Jedes Jahr im Sommer waren sie einige Wochen in die Türkei gefahren und hatten die Verwandtschaft besucht. Sie brachten Geschenke mit, Nescafé, Feinstrumpfhosen, deutsche Schokolade.

    „Seht ihr nicht, dass die türkischen Supermärkte inzwischen voll sind von deutscher Schokolade?", hatte Muharrem eines Tages zu ihnen gesagt.

    Aber Ayla wollte es nicht wahrhaben, sie brachte weiterhin deutsche Schokolade mit. Irgendwann gestanden sie sich ein, dass sie sich der alten Heimat entfremdet hatten.

    „Wenn ich in Deutschland bin, sagte Ayla, „sehne ich mich nach der Türkei, und wenn ich in der Türkei bin, will ich wieder nach Hause.

    Würde er ohne Ayla in die Türkei zurückkehren?

    Nein, dachte Herr Yıldız, vermutlich nicht. Hier war sein Leben. Er schätzte die Ruhe und die Ordnung und das viele Grün. Deutschland war jetzt seine Heimat, auch wenn ihm immer noch vieles fremd war.

    Herr Yıldız seufzte. Dann blickte er auf das Foto, das er am Morgen aus dem Müll gezogen hatte. Er stand auf, holte einen Hammer und einen Nagel, schlug den Nagel in die Wand und hängte das Foto neben die anderen. Dann trat er einen Schritt zurück und betrachtete sein Werk. Er war noch nicht zufrieden. Nacheinander hängte er alle Fotos ab, legte sie auf den Tisch, hängte sie von Neuem auf: die Fotos von seinen Eltern, seinen Brüdern und Schwestern, die Fotos von Ayla und ihm, von Aylas Eltern und Geschwistern, von Muharrem, Melanie und den Enkeln – und mittendrin, umrahmt von der ganzen Verwandtschaft, hing nun das Bild von der fremden Frau mit ihrem Sohn. Herr Yıldız trat zwei Schritte zurück. Die weißen Bohnen waren kalt geworden, aber das machte nichts. Er schaute die Frau auf dem Foto an. Sie lächelte.

    Die Katze

    Juni 1929, Süddeutschland

    Er wusste, was jetzt kommen würde. Gustav versuchte, sich dem Griff des Vaters zu entwinden, aber der hielt seinen Arm wie in einem Schraubstock.

    „Nein!", schrie er, als der Vater in die Schale mit dem Salz griff.

    Gustav hatte sich beim Kartoffelschälen in die Hand geschnitten, und nun rieb ihm der Vater mit festem Druck die feinen, weißen Körnchen in die Wunde. Brennender, beißender Schmerz zuckte Gustavs Arm hinauf. Er sog die Luft ein. Ein scharfes Zischen. Tränen schossen ihm in die Augen. Der Vater schlug Gustav mit der flachen Hand auf

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