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Elendsknochen: Der dritte Fall für Edgar Brix
Elendsknochen: Der dritte Fall für Edgar Brix
Elendsknochen: Der dritte Fall für Edgar Brix
eBook292 Seiten3 Stunden

Elendsknochen: Der dritte Fall für Edgar Brix

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Über dieses E-Book

Wie ein Albtraum beginnt das Jahr 1965 in Wickenrode. Kurz nach einem tragischen Grubenunglück geschieht ein weiterer Unfall im Unglücksstollen. Zur gleichen Zeit buddelt ein Hund menschliche Knochen im nahen Hirschhagen aus. Und egal was Edgar anfängt, er läuft immer wieder dem Journalisten Eugen Bock in die Arme. Alles nur eine Anhäufung von Zufällen? Albrecht Schneider weiß es besser. Aber er hat jemandem versprochen zu schweigen.
SpracheDeutsch
HerausgeberGMEINER
Erscheinungsdatum8. Aug. 2018
ISBN9783839257869
Elendsknochen: Der dritte Fall für Edgar Brix
Autor

Nicole Braun

Nicole Braun wurde 1973 in Kassel geboren und ist beruflich schon in einige Rollen geschlüpft: Tischlerin, Dozentin oder Betriebswirtin. Die Liebe zum Schreiben hat alles überdauert. Die Autorin lebt in der geschichtsträchtigen Region zwischen Meißner und Kaufunger Wald und selbstverständlich spielen auch ihre Krimis vor dieser märchenhaften Kulisse. Dort durchstreift sie mit ihren Hunden den Wald, auf der Suche nach Inspiration für mörderische Geschichten und düstere Tatorte. Wenn sie nicht an einem Krimi arbeitet, gibt sie Workshops für kreatives Schreiben und singt als Frontfrau einer Coverband.

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    Buchvorschau

    Elendsknochen - Nicole Braun

    Zum Buch

    Eiszeit Eisig beginnt das Jahr 1965 in Wickenrode: Ein Unglück im Braunkohlebergwerk am Hirschberg fordert Todesopfer. Tage später verunglückt der Sohn eines getöteten Bergmanns in dem eingestürzten Stollen. Was er dort gesucht hat, verrät er nicht. Zur gleichen Zeit werden auf einem Grundstück in Hirschhagen menschliche Knochen gefunden. Und egal was Edgar anfängt, er läuft immer wieder dem Journalisten Eugen Bock in die Arme. Alles nur eine Anhäufung von Zufällen? Albrecht Schneider weiß es besser. Aber er hat jemandem versprochen, zu schweigen. Vor lauter Geheimniskrämerei merkt er gar nicht, dass auch Edgar Brix nicht mit der ganzen Wahrheit rausrückt. Doch der muss erst mal verdauen, dass die neuen Erkenntnisse über den mysteriösen Toten vom Sommer längst vergessen geglaubtes Unheil wieder heraufbeschwören.

    Nicole Braun wurde 1973 in Kassel geboren und ist beruflich schon in einige Rollen geschlüpft: Tischlerin, Dozentin oder Betriebswirtin. Die Liebe zum Schreiben hat alles überdauert. Die Autorin lebt in der geschichtsträchtigen Region zwischen Meißner und Kaufunger Wald und selbstverständlich spielen auch ihre Krimis vor dieser märchenhaften Kulisse. Dort durchstreift sie mit ihren Hunden den Wald, auf der Suche nach Inspiration für mörderische Geschichten und düstere Tatorte. Wenn sie nicht an einem Krimi arbeitet, gibt sie Workshops für kreatives Schreiben und singt als Frontfrau einer Coverband.

    Impressum

    Personen und Handlung sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

    sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

    Immer informiert

    Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

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    Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

    info@gmeiner-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

    Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

    Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

    unter Verwendung eines Fotos von: © http://wiki-commons.genealogy.net/Datei:Wickenrode_Dorfstraße.JPG

    ISBN 978-3-8392-5786-9

    Vorbemerkung

    Elendsknochen (sprich: »Ählendsgnorren«)

    Nordhessisch für: elender, übler Mensch

    Hirschhagen,

    Frühjahr 1946

    »Verdammich! Ich glaub, ich honn emme umgebracht!«

    Jonah Helferich hörte das Gebrüll durch das Knattern des Pritschenwagens. Im Kegel der Scheinwerfer sah er, wie sein Sohn Roland mit dem Gewehrkolben den regungslosen Körper am Boden anstupste.

    Helferich stellte den Motor ab, ließ das Standlicht an, sprang aus dem Fahrerhaus und ging langsam auf die beiden zu.

    Der Vollmond strahlte auf das bleiche Gesicht eines amerikanischen Soldaten, der seltsam verkrümmt auf der Wiese lag und in den Nachthimmel starrte.

    Helferich ließ den Blick schweifen, um sicherzugehen, dass aus der Hecke nicht noch ein GI unangekündigt hervorsprang. Alles blieb ruhig. Gott sei Dank eine Atempause, um die Situation erst einmal zu verdauen.

    Außerhalb des Scheinwerferkegels zeichnete der Vollmond die Landschaft in verwaschenes Grau. Lediglich ein paar nahe gelegene Betonbauten ragten als bedrohliche dunkle Schatten in den Nachthimmel. In der Ferne heulte ein Hund; weit genug entfernt, um zum Problem werden zu können.

    Helferich nahm seinem Sohn die Karbidlampe aus der Hand und leuchtete dem Mann am Boden ins Gesicht. Ein junger Kerl, kaum älter als Roland. Er fasste dem Soldaten an den Hals. Kein Puls. Dann bückte er sich und hielt das Ohr ganz nah an den Mund des Amerikaners. Keine Atemzüge.

    Er sah seinen Sohn an. »Warum host’n den erschossen?«

    »Hä stand plötzlich da. Wie aussem Nix. Ich wollt ja nit schießen. Aber dann isses einfach passiert.«

    »Junge, Junge, Junge. Un was machen mer nu?« Der Alte kratzte sich am Hinterkopf. Diesen Abend hatte er sich anders vorgestellt. Unzählige Nächte war er mit Roland hier rausgefahren, und nie begegnete ihnen eine Menschenseele; erst recht keine Soldaten. Die blieben in der Dunkelheit lieber in ihren Quartieren und ließen die Spechte gewähren, die sich mit dem Bolzenschneider mitnahmen, was niemand mehr brauchte. Das Gelände sah ohnehin aus, als sei der Krieg noch in vollem Gange. Wen kümmerte es schon, dass ein paar Stangen rostiger Stahl abhandenkamen. Die Amis hatten versucht, einige von den Produktionsgebäuden zu sprengen, doch der mit deutschem Kruppstahl durchsetzte Beton hatte nicht mal gewackelt. Jetzt guckte hier und da die Armierung aus den Wänden. Wenn sie Glück hatten, fanden sie in einem Graben noch das eine oder andere Stück, das mehr als Schrottwert besaß und sich gut verkaufen ließ.

    Heute hatten sie Pech. Zwar lag schon eine feine Ausbeute auf der Pritsche, aber leider auch ein toter US-Soldat davor.

    Jonah Helferich überlegte. Das hier war keine der üblichen Patrouillerouten. Es würde vermutlich eine Weile dauern, bis seine Einheit ihn hier fände. Doch dann wäre dieser Teil des Fabrikgeländes für Schrottfahrten verbrannt. Dann würde es überall von Uniformierten wimmeln.

    »Du Idiot«, sagte er zu dem toten Soldaten am Boden, »warum mussteste dich ussgerechnet hierhin verirren?« Er knuffte seinen Sohn mit der Faust an die Schulter. »Haste ne fixe Idee, was mer jetze mit dem anstellen? Du bist doch an dem Schlamassel schuld. Jetzt lass dir gefälligst au was infallen.«

    Roland schaute bedröppelt drein. Von dem war keine Hilfe zu erwarten.

    Helferich gab es ja nicht gerne zu, aber der Roland war nun mal keine besonders helle Leuchte. Dass man ihn im Bergwerk angestellt hatte, war harte Überzeugungsarbeit gewesen. Und die paar Groschen, die er mit Förderbänder schmieren, Loren reinigen und in der Schmiede helfen verdiente, machten den Kohl auch nicht fett. Helferich konnte sich weiß Gott angenehmere Sachen vorstellen, als sich in dieser gottlosen Gegend die Nächte um die Ohren zu schlagen. Und jetzt noch das! Am liebsten hätte er seinen Sohn einfach mit dem toten Soldaten stehen lassen. Sollten die Amis ihn doch mitnehmen. Ein Maul weniger zu stopfen. Er seufzte. Ach was, jammern half ja auch nicht weiter.

    »Hol den Schrott von der Pritsche und werf ihn da hinnen ins Gebüsch. Den holen wir später widder ab.«

    Roland sah ihn an, als habe der den Verstand verloren. »Aber Vadder, der schöne Stahl!«

    »Ja, der schöne Stahl. Glotz nit so blöde und mach die Pritsche frei.«

    Maulend machte sich der Junge daran, den Schrott Stück für Stück im Schutz einer dichten Buchenhecke zu verstecken.

    Jonah Helferich sah traurig mit an, wie die Ausbeute einer halben Nacht wieder abgeladen wurde, dann zitierte er seinen Sohn zu sich. »Du nimmst die Füße!« Er fasste den Soldaten unter den Achseln. Gemeinsam trugen sie den schlaffen Körper bis zum Wagen und wuchteten ihn mit Anlauf auf die Pritsche.

    »Wos hoste’n mit dem vor?«

    »Das lass mal minne Sorge sinn. Bekümmer du dich lieber drum, dass heute Nacht nit noch einer sterben tut.« Jonah Helferich ging zu der Stelle zurück, an der der Soldat gelegen hatte. »Starte mal den Wagen!« Er wartete, bis Roland den Motor angelassen hatte und die Scheinwerfer mit voller Leistung aufleuchteten. Dann untersuchte er das platt gedrückte Gras. Er wischte mit dem Fuß darüber, um die Halme wieder aufzustellen. Wenn es einen Blutfleck gab, war der bereits im Erdreich versickert, zumindest konnte er in der Dunkelheit keinen erkennen. Was er auch nicht entdecken konnte, war die Waffe des Soldaten. Er kniete sich hin und tastete die nähere Umgebung ab. Seine Hand glitt ins Leere. Dann ging er zum Wagen und rief durch das Fenster: »Host du ne Waffe bei emme gesehen?«

    Zu seinem Entsetzen sah er, wie Roland den Kopf schüttelte.

    »Du host den erschossen, obwohl der unbewaffnet war? Du …«, er suchte nach dem passenden Schimpfwort, »du selten blöder Windbüddel, du!«

    »Aber Vadder …!«

    »Ach, nix Vadder. Bei dir is doch wirklich Hopfen und Malz verloren. Und jetzt sieh zu, dass mer hier wegkommen, bevor sich noch ein unbewaffneter Soldat hierher verirrt und womöchlich uf tragische Weise ums Leben kimmet.«

    Roland setzte einige Meter mit dem Wagen zurück, dann nahm er den Weg, den sie gekommen waren. Sie vermieden die öffentlichen Straßen und folgten den Schleichwegen durch die Wälder bis nach Wickenrode. Auf der Höhe des Sandberges ließen sie den Wald hinter sich.

    Roland Helferich wollte Richtung Dorfmitte abbiegen, als ihn sein Vater stoppte. »Doch nit nach Hause! Wir bringen den ins Bergwerk. Ich honn da so ne Idee.«

    Roland lenkte den Wagen rechts in einen Feldweg. Bevor sie das Bergwerksgelände auf dem Hirschberg erreicht hatten, wies Jonah Helferich ihn an, die Fahrzeugbeleuchtung abzustellen. Er sprang aus dem Führerhaus und schritt mit der Karbidleuchte voran, während er seinem Sohn winkte, ihm in Schrittgeschwindigkeit zu folgen.

    Vorsichtig nahm er lauschend Meter um Meter, doch das Gelände lag still und friedlich in der Dunkelheit. Er öffnete eine Schranke und wartete, bis der Wagen sie passiert hatte. Er lief weiter vor dem Pritschenwagen her, der ihm auf dem Fuß folgte. Endlich gelangte der Stollen in Sichtweite. Den Rest des Weges konnten sie zu Fuß zurücklegen.

    »Wir bringen den in den stillgelegten Lettenstollen. Der wird in den nächsten Tagen onnehin zugemauert. Und schon kräht kinn Hahn mehr danach«, klärte Jonah Helferich seinen Sohn über das Ziel ihres ungeplanten Ausfluges auf.

    »Aber die werd’n den Stollen doch noch mal begehen, bevor die den dichte machen.«

    »Klar, aber mir legen den Doten ganz weit hinnen ab. Do hinten traut sich kinner rinn, wegen den schlechten Wettern.«

    Roland schien nicht glücklich mit der Wahl seines Vaters, hob an, etwas zu entgegnen, doch ein böser Blick reichte, und er hielt den Mund.

    »Du wartest hier, ich mach erschdemoh das Gitter uff.« Helferich ging im Schein der Leuchte zum Stollenmund.

    Er hatte selber noch in dem alten Lettenstollen gearbeitet. Nichts als wenig einträgliches Lehmgestein. Schon seit Jahren war dort nicht mehr genug zu holen, als dass sich der Aufwand des Förderns lohnte. Obendrein lauerte im Innern gefährliches Gas. Aus Sicherheitsgründen hatte man entschieden, den ausgedienten Stollen in einigen Tagen zuzumauern. Helferich erschien es wie eine Fügung: Einen besseren Platz, um etwas verschwinden zu lassen, konnte man sich gar nicht wünschen.

    Die Gittertür vor dem Stollenmund war mit einem Vorhängeschloss gesichert, doch das stellte kein Problem dar. Er holte den Dietrich aus der Hosentasche und fummelte im Schein der Karbidlampe so lange mit dem Eisenhaken im Schloss, bis der Bügel sich löste. Dann ging er zum Wagen zurück, in dem sein Sohn wie festgewachsen saß.

    »Los jetze! Das Gitter is uff.« Er zerrte ihn am Jackenärmel aus dem Fahrerhaus bis zur Ladefläche.

    Gemeinsam zogen sie den Soldaten in der gleichen Art herunter, wie er oben gelandet war. Jonah Helferich packte den Toten unter den Achseln. Roland wankte vorneweg mit den Beinen unter je einem Arm. Im Schein der Grubenlampe, die sich der alte Helferich umgehängt hatte, fanden sie den Stollenmund. Das Gitter quietschte laut, als sie es aufdrückten. Sie warteten einen Moment ab, um sicherzugehen, dass sie unbemerkt geblieben waren. Dann verschwanden sie mit der Leiche in der Tiefe des Berges.

    Helferich kannte sich in dem Stollen aus wie in seiner Westentasche. Kaum 20 Minuten später standen sie wieder vor dem Eingang. Zufrieden drückte der Alte das Gitter zu. Selbst wenn die den Stollen noch einmal begehen sollten: Der Soldat lag gut versteckt in einem Totarm, den sicher niemand mehr betreten würde.

    »Geh schon mal vor zum Auto, ich mach derweil das Tor zu.«

    Roland schaute erleichtert drein und trollte sich hastig.

    Helferich wartete ab, bis er weg war, dann schob er das Gitter in den Anschlag. Er wollte gerade das Schloss einhängen, als in unmittelbarer Nähe Stimmen auftauchten. Ihm blieb nicht viel Zeit nachzudenken, denn die Stimmen kamen näher. Er ließ das Schloss in die Jackentasche fallen, löschte die Karbidlampe und stolperte hektisch in die Deckung des Haufens Ziegelsteine, mit denen der Stolleneingang verschlossen werden sollte. Hoffentlich bleibt der Junge beim Auto, dachte er. So wie er den Unglücksraben von Sohn kannte, platzte der auch noch in diese Situation rein und alles flog auf.

    Helferich lauschte. Da hatten zwei Streit. Unüberhörbar schossen Worte hin und her wie Pistolenkugeln. Die Unterhaltung nahm an Lautstärke zu. Und an Wut. Da die beiden Männer mit sich selber beschäftigt waren, riskierte er einen Blick auf die Streithammel. Keiner von ihnen bemerkte, dass hinter dem Ziegelstapel ein Kopf hervorlugte. Leider konnte er im fahlen Mondlicht lediglich zwei Schatten ausmachen.

    »Wenn du nicht die Finger von ihr lässt, bring ich dich um, das schwör ich dir!«

    Die Worte hallten laut und deutlich durch die Nacht. Helferich grinste. Es ging wohl um eine Frau. Nun ja, das war schon mal einen ordentlichen Streit wert.

    »Sie hat dich nie geliebt. Geheiratet hat sie dich doch nur, weil ihr Vater das so wollte. Wenn sie noch mal die Wahl hätte …«

    ZACK!

    Helferich gefror das Grinsen auf den Lippen. Einer der beiden Schatten war wie ein Stein zu Boden gegangen, der andere stand wie ein Racheengel darüber. Er streckte etwas in die Luft, was wie eine Brechstange aussah.

    Helferich hielt den Atem an. Am liebsten wäre er davongelaufen, doch jetzt konnte er unmöglich hier weg. Obwohl seine Neugier urplötzlich verflogen war, verfolgte er gebannt, wie der Mann mit dem Eisen in der Hand sich über den anderen beugte und genau dasselbe tat wie er kurz zuvor mit dem Soldaten. Er senkte das Ohr nah an das Gesicht und stupste den Körper am Boden mit dem Zeigefinger an die Schulter. Dann stand der Mann wieder auf, warf die Eisenstange weg, die mit einem dumpfen Schlag direkt neben Helferich im Gras landete, stemmte die Hände in die Hüften und sah sich um.

    Der wird doch nicht etwa …, dachte Helferich.

    Doch. Der Mann ging zu dem Gitter, gluckste, als er feststellte, dass es unverschlossen war, und öffnete es.

    Das Quietschen verursachte Helferich eine Gänsehaut. Er fühlte das Schloss in der Jackentasche kalt und schwer. Jetzt war der schöne Plan zum Teufel. Noch eine Leiche im selben Stollen. Wenn das kein Fingerzeig von oben war, dass seine schlaue Idee eben doch nicht so schlau war, wie er geglaubt hatte.

    Er beobachtete, wie der Mann den leblosen Körper in den Stollenmund schleifte und bald darauf wieder im Mondschein auftauchte.

    Weit kann er den nicht da reingebracht haben, dachte Helferich. Dafür war er viel zu kurz drin. Und ganz ohne Beleuchtung.

    Er zog den Kopf zurück und drückte sich hinter den Ziegelstapel. Dann hörte er Schritte. Er biss die Zähne aufeinander. Dieser Kerl fackelte nicht lange, das war klar. Er war jetzt keinen Meter weit weg. Ein Schatten bückte sich direkt neben dem Stapel und hob das weggeworfene Eisen auf. Helferich konnte den Haarschopf des Mannes sehen, aber das Gesicht blieb im Dunkeln. Seine Finger krampften sich in den Jackenstoff. Er presste die Augen zusammen und erwartete den unvermeidlichen Hieb.

    Die Schritte entfernten sich wieder. Nicht hastig, sondern in aller Ruhe, so als sei es das Natürlichste auf der Welt, einen Menschen zu erschlagen, um anschließend zur Tagesordnung überzugehen.

    Helferich spürte seine Hose, feucht und warm. Jetzt hatte er sich glatt eingenässt wie ein Pennäler. Und was nun? Mit nasser Buxe und schlotternden Knien? Er bemühte sich, einen klaren Kopf zu behalten, doch hinter seiner Stirn herrschte wildes Durcheinander. Der Kerl würde zurückkommen. Der konnte unmöglich die Leiche so nah am Stollenmund liegen lassen, wenn er verhindern wollte, dass man sie fände. Hundertprozentig würde er wiederkehren. Und wenn er genauso schlau war wie Helferich und die Leiche in den Totarm zerrte?

    Er sah zum Himmel. Der liebe Gott wollte ihm wohl mitteilen, dass er ordentlich böse mit Jonah Helferich war. Anders war dieser Schlamassel kaum zu erklären. »Was soll ich dann jetze tun?«, wisperte er.

    »Wieso?«

    Helferich blieb das Herz stehen. Neben ihm war Roland aufgetaucht. »Biste wohl stille! Ich honn dir doch gesprochen, du sollst beim Auto bleiben!«

    »Ich honn ja gewartet. Aber nachdem du nit gekommen bist, dachte ich …«

    »Du sollst nit denken, du sollst tun, was man dir spricht. So und jetze: Abmarsch!« Helferich war aufgesprungen und trieb Roland wie unwilliges Vieh vor sich her. Erst mal den Unglücksraben von Sohn von hier wegbringen, trockene Wäsche anziehen und dann nachdenken. Nein, falsch: Erst einen Schnaps und dann nachdenken.

    »Dinne Hose is ganz nass, Vadder.«

    »Mach kinn dummes Geschwätze. Geh!« Helferich sah sich noch einmal um. Der Kerl mit der Eisenstange blieb in der Dunkelheit verschwunden. Er warf den Kopf in den Nacken und schaute in den schwarzen Himmel. Heute Nacht würde er das erste Mal seit Jahren mal wieder ein Gebet sprechen. Ein langes Gebet.

    Hirschhagen,

    Februar 1965

    In solchen Vollmondnächten verschwand der Köter gerne mal durch irgendein Schlupfloch in den Wald und trieb weiß der Himmel was.

    Waldemar Kruszki ging am Zaun auf und ab und brüllte: »Lenin! LENIN! Kommst du hierher, du Dreckstöle!«

    Doch Lenin kam nicht.

    Kruszki steckte sich eine russische Zigarette ohne Filter an und stapfte durch den kniehohen Schnee. Dieser Winter weckte Erinnerungen an die sibirische Heimat. Vielleicht fühlte er sich deshalb im hintersten Zipfel Nordhessens so geborgen wie in der unendlichen Einöde jenseits des Urals. Vielleicht aber auch nur, weil man ihn hier in Ruhe ließ. Auf das Gelände der ehemaligen Sprengstofffabrik verirrte sich niemand, der blöde Fragen stellte. Die Nachbarschaft lag weit verstreut, und hier hackte eine Krähe der anderen kein Auge aus.

    Die verlassenen Produktionsgebäude boten alles, was Kruszki sich wünschen konnte: Abgeschiedene Alleinlage, weitläufige Grundstücke mit dichtem Baumbestand, unzerstörbare Bausubstanz, gute Anbindung. Oder, wie die braven Bürger es auszudrücken pflegten: Der perfekte Ort, wenn man Dreck am Stecken hatte und lieber allein blieb. Ersteres traf mit Sicherheit auf Waldemar Kruszki zu, für Letzteres hatte er Lenin. Kruszki hatte ihm beigebracht, schön die Zähne zu fletschen und zu knurren, sobald sich jemand dem Grundstück näherte, dabei war der bullige Rüde im Grunde lammfromm und eine treue Seele. Bis auf diese Nächte, in denen der Vollmond auf den Wald schien, als sei am Himmel eine Lampe angeschaltet worden; dann vergaß er seine deutsche Schäferhundtreue, und die kaukasischen Triebe gingen mit ihm durch.

    Das hatte er nun davon, sich auf einem Flohmarkt so eine Promenadenmischung andrehen zu lassen, dachte Kruszki. Er schnippte die Kippe in den Schnee, wo sie zischend verschwand.

    »Lenin! Leeenin!« Er brüllte, so laut es die wodkageplagten Stimmbänder hergaben. Der nächste Nachbar war viel zu weit entfernt, als dass sein Rufen ein menschliches Ohr erreichte, gleichzeitig hätte er eine Wette darauf abgeschlossen, dass jedes Wort glockenklar in Lenins Hundehirn ankam. Der Köter verfolgte vermutlich die Fährte eines Wildes, schubberte zwischendurch den verlausten Pelz an einer Tanne und hatte auf Durchzug geschaltet. Da konnte er brüllen, so laut er wollte; der kam erst wieder zurück, wenn der Hunger ihn trieb.

    In weiter Ferne heulte ein Hund. Diese Vollmondnächte machten die Köter ganz irre. Doch das Heulen stammte nicht von Lenin. Die dunkle heisere Stimme hörte Kruszki unter Hunderten heraus. Nein, Lenin verhielt sich taktisch klug und mucksmäuschenstill, während er sich ein paar Stunden Freizeit verschaffte.

    Kruszki fummelte mit Daumen und Ringfinger eine »Sobranie« aus der Jackentasche und knickte die Papphülse an der Zigarette flach. Er genoss, wie der kräftige Tabakrauch seine Lungenflügel füllte, und pustete genüsslich eine Dampfwolke aus; eine Mischung aus Rauch und warmer Atemluft, die auf klirrende Kälte stieß. Er nahm die Zigarette an die Lippen und roch an seinen Fingerspitzen. Nikotin. Und Schwefel. Der hatte sich in den Jahren wie ein neuer Körpergeruch in die Haut gefressen.

    Er gab sich allergrößte Mühe, um nicht mit dem Inhalt der Fässer in Berührung zu kommen, die er in den Wald karrte, um sie dort auszukippen. Aber vermutlich hätte es einen Vollgummianzug benötigt, damit die Chemikalien nicht in jede Körperzelle eindrangen. Als Kruszki festgestellt hatte, dass seine Haare gelb wurden, hatte er sie kurzerhand abrasiert. Er fand, dass ihm eine Glatze ohnehin besser stand.

    Woher das Zeug kam, das regelmäßig in Chargen zu je zehn Fässern vor seiner Haustür abgeladen wurde, interessierte ihn nicht. Er hatte sich abgewöhnt, Fragen zu stellen. Es kam halt von irgendwo, wo man es nicht ohne Probleme loswurde, und Kruszki war gerne behilflich. Er blieb wie vereinbart im Haus, wenn die leeren Fässer üblicherweise nachts gegen volle ausgetauscht wurden. Er wusste nichts über die Lastwagen und die Personen, die lieferten, und konnte folglich auch niemandem etwas verraten. Im Gegenzug wohnte er kostenlos und holte einmal im Monat einen Umschlag mit Geld aus dem Briefkasten.

    Niemals dumme Fragen zu stellen, hatte sich nicht nur als hilfreich erwiesen; so hatte er die Rote Armee überlebt. Hatte Befehle ausgeführt, für die sich die meisten Soldaten den Rest ihres Lebens in Grund und Boden schämten. Kruszki fand das unnötig. Jede Zeit forderte ihre Menschen, und der Krieg brauchte eben solche, die taten, was notwendig war, und sich

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