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Maimorde
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eBook286 Seiten3 Stunden

Maimorde

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Über dieses E-Book

Ich saß seit einer gefühlten Ewigkeit im Wartezimmer von Doktor Brandt und bemühte mich, die Gespräche um mich herum zu überhören. Schwangerschaftserbrechen, Komplikationen bei Geburten oder Stillprobleme waren nicht wirklich meine Lieblingsthemen. Also stellte ich die Ohren auf Durchzug und konzentrierte mich auf die Autozeitung, die sicherlich ein Jahr alt war.

Auch in "Maimorde" hat Detlev Menke es nicht leicht. Wieder einmal findet er eine Leiche, und das kommt selbst seiner Freundin, der taffen Oberkommissarin Tabea Kühn, verdächtig vor. Handelt es sich bei dem Toten doch um den Ehemann der Frau, mit der ihn mehr als eine flüchtige Bekanntschaft verbindet.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum3. Mai 2020
ISBN9783737536110
Maimorde

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    Buchvorschau

    Maimorde - Angelika Godau

    Angelika Godau

    Maimorde

    Dirk-Laker-Verlag

    www.dilav.de

    E-Book-Ausgabe

    Veröffentlicht im Dirk-Laker-Verlag

    Dirk Laker, Bielefeld 2020

    © by Angelika Godau

    Lektorat: Dirk Laker

    -1-

    Melanie Kreutzer lag mit geschlossenen Augen und fest zusammengepressten Lippen auf dem Untersuchungsstuhl. Ihre feuchten Hände umklammerten die Griffe an den Seiten, und sie schickte ein Stoßgebet nach dem anderen zu einem Gott, an dessen Existenz sie nicht glaubte.

    Zwischen ihren gespreizten Beinen saß Doktor Andreas Brandt und drückte mit einer Hand auf ihren Bauch während er mit der anderen ihren Muttermund abtastete.

    „Also, Melanie, sagte er, während er die Handschuhe auszog, „du bist eindeutig schwanger, auch wenn ich das sehr seltsam finde. Nicht nur ich war mir zu hundert Prozent sicher, dass du und Roger in dieser Hinsicht nicht kompatibel seid. Ich meine, wie lange habt ihr es versucht, wie viele Ärzte konsultiert, wie viele Wundermittel ausprobiert. Und nun plötzlich, nach all den Jahren, ich verstehe es nicht und habe dafür nur eine Erklärung …

    „Brauchst du auch nicht, kein Mensch ist allwissend, nicht einmal ihr Ärzte. Wir haben eben die Hoffnung nie aufgegeben."

    „Ach was, mit Hoffnung hat das nichts zu tun, ich war schließlich nicht der einzige Spezialist, der zur gleichen Diagnose gelangt ist. Ihr beide seid zwar körperlich gesund, aber irgendetwas hat nicht gepasst. Das kommt gelegentlich vor, auch wenn es medizinisch nicht zu erklären ist. Aber davon mal ganz abgesehen, glaubst du, dass diese Schwangerschaft eine gute Idee ist? Du weißt doch selbst, wie du die letzten zehn Jahre verbracht hast. Du hast verdammt viel …"

    „Daran musst du mich nicht extra erinnern. Das weiß ich schließlich, aber ich habe aufgehört, schon lange. Ich trinke keinen Tropfen mehr, und das wird ganz sicher so bleiben. Was ist? Alles in Ordnung?"

    Doktor Brandt schüttelte resigniert den Kopf und führte behutsam das Ultraschallgerät in die Vagina ein. Melanie richtete sich weiter auf, um den Monitor besser sehen zu können.

    „Ist alles gut?, fragte sie leise und noch einmal lauter, als er nicht antwortete. „Ist alles in Ordnung mit meinem Kind?

    „Um das sicher beurteilen zu können, ist es zu früh, aber, soweit ich es sagen kann, bist du in der sechsten Woche, und das deckt sich mit deinen Angaben zur letzten Periode. Jetzt müssen wir erst die Laborwerte abwarten, aber, wie gesagt, es besteht erhebliche Gefahr, dass das Kind durch deine …"

    „Du wiederholst dich. Ich bin sicher, dass mit meinem Baby alles okay ist. Ich würde es spüren, wenn es nicht so wäre."

    „Gut, wie du meinst. Dann lass dir draußen einen neuen Termin geben. Hast du es Roger schon gesagt?"

    „Nein, noch nicht. Ich sage es ihm, sobald die Laborergebnisse da sind und ich sicher sein kann …"

    „Ach, sieh an, Melanie, ganz so sicher, wie du tust, bist du dir also doch nicht."

    „Ich schon, aber du kennst Roger und vor allen Dingen seine Mutter. Die werden beide mit den gleichen Bedenken kommen, wie du auch. Also ist es besser, etwas in der Hand zu haben, was ihre Zweifel zerstreut. Wehe, du verrätst vorher etwas."

    „Ich unterliege der Schweigepflicht, die gilt auch bei Freunden. Solltest du eigentlich wissen, gab Doktor Brandt etwas pikiert zurück und fügte nach kurzem Zögern hinzu: „Behalte auf alle Fälle mal im Hinterkopf, dass die Entwicklung des Fötus vielleicht nicht … ich meine, Alkoholismus der Mutter verursacht nicht selten eine Alkoholembryopathie und das ist …

    „Hör sofort auf, den Teufel an die Wand zu malen", unterbrach sie ihn, erhob sich und verschwand hinter dem Vorhang, um sich wieder anzuziehen.

    „Vergiss trotzdem nicht, dir einen neuen Termin geben zu lassen. Sobald ich die Laborwerte habe, rufe ich dich an. Ach, und sag Roger doch bitte, dass ich heute Abend etwas später komme, ich habe noch eine Patientin."

    Melanie Kreutzer verließ die Praxis mit neuem Termin, obwohl sie wusste, dass sie nicht wiederkommen würde. Sie wollte nicht hören, dass ihr Kind womöglich nicht gesund war. Behindert, weil sie zehn Jahre lang exzessiv getrunken hatte und eine Schwangerschaft wirklich das letzte war, womit sie gerechnet hatte. Dabei war Roger geradezu besessen von seinem Wunsch nach einem Kind und hatte sie jahrelang von Arzt zu Arzt geschleift, jede medizinische Möglichkeit ausgeschöpft. Der Erfolg war ausgeblieben und seine Enttäuschung darüber, hatte er sie spüren lassen. Du bist schuld, stand deutlich in seinem Gesicht geschrieben. Im Auto sitzend starrte sie auf das Ultraschallbild, das Brandt ihr in die Hand gedrückt hatte. Das, was einmal ihr größter Triumph werden sollte, war ein winziges Etwas, kaum größer als ein Stecknadelkopf. „Du darfst nicht behindert sein, bitte, bitte. Du musst ein wunderschönes, kluges Kind werden, das ist wichtig, flüsterte sie beschwörend, „nur dann wird es ihnen richtig weh tun. Sie presste das Foto an ihre Brust, bevor sie es in ihre Handtasche schob.

    -2-

    Ich saß seit einer gefühlten Ewigkeit im Wartezimmer von Doktor Brandt und bemühte mich, die Gespräche um mich herum zu überhören. Schwangerschaftserbrechen, Komplikationen bei Geburten oder Stillprobleme waren nicht wirklich meine Lieblingsthemen. Also stellte ich die Ohren auf Durchzug und konzentrierte mich auf die Autozeitung, die sicherlich ein Jahr alt war.

    „Wie geht es eigentlich Tabea?", unterbrach jetzt meine Mutter meine Lektüre, entschlossen, ein Gespräch in Gang zu bringen.

    „Gut" gab ich knapp Auskunft, auch wenn ich ahnte, dass ihr das nicht reichen würde.

    „Warum kommt ihr nicht heute Abend mit zu den Kreutzers? Roger wird vierzig und gibt eine Gartenparty. Ich kriege euch kaum noch zu sehen, das finde ich wirklich schade."

    Da ich nicht reagierte, bohrte sie gleich weiter.

    „Das wäre doch eine schöne Gelegenheit. Walter kommt auch mit, und der unterhält sich so gerne mit deiner Freundin. Was ist? Kommt ihr?"

    „Nicht, wenn ich es vermeiden kann", wäre eine ehrliche, aber sicher keine kluge Antwort gewesen, daher versuchte ich es mit Ausflüchten.

    „Kann ich nicht versprechen, ohne vorher Tabea zu fragen, das weißt du doch. Vielleicht hat sie Dienst, dann geht es so wieso nicht."

    „Nun, dann ruf sie an und frag. Ich möchte es gern wissen, damit ich mich darauf freuen kann."

    „Mama, ich kann sie nicht wegen einer Gartenparty bei der Arbeit stören, außerdem ist heute Freitag, da hat sie …"

    „Ach was, sie wird bestimmt gern mitkommen. Ruf sie an, einmal ist bestimmt nicht schlimm."

    Auch die letzte Frau im Wartezimmer hatte mittlerweile ihre Zeitung sinken lassen, jedes Gespräch war verstummt, alles wartete gebannt auf meine Antwort.

    Die Begnadigung erschien in Gestalt von Doktor Brandt, der meine Mutter bat, ihm ins Behandlungszimmer zu folgen.

    Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, drehten sich die Gespräche jetzt um Eltern, Einladungen und unterschiedliche Vorstellungen von Freizeitgestaltung.

    Wer mich noch nicht kennt, ich bin Detlev Menke, 27 Jahre alt, Sohn eines Weingutes in der schönen Pfalz, Porschefahrer und Besitzer eines heldenhaften Dackels namens Alligator vom Trifels, genannt Alli. Nach vielen, sehr sorglosen Jahren, die ich hauptsächlich mit Nichtstun und wechselnden Freundinnen zugebracht habe, bin ich jetzt ein viel beschäftigter Detektiv in Bad Dürkheim. Ich habe richtig gut zu tun, wenn ich nicht gerade meine Mutter zum Gynäkologen begleite, weil sie wegen häufiger Schwindelanfälle selbst nicht Autofahren kann. Ich hatte mich vehement gegen dieses Ansinnen gewehrt, denn Frauenärzte waren mir suspekt, aber Wiebke hatte darauf bestanden. Wiebke, meine große Schwester, konnte sehr energisch sein und ließ keine meiner Ausreden gelten.

    Ich solle mich gefälligst nicht so anstellen, ich müsse die Mutter doch nur fahren und nicht während der Untersuchung ihre Hand halten. Sie selbst habe einen Termin mit einem Großkunden. Walter könne auch nicht, also sei ich dran, hatte sie argumentiert.

    „Na gut, aber ich gehe auf keinen Fall mit rein, ich warte im Wagen", hatte ich maulend klein beigegeben. Damit war allerdings meine Mutter nicht einverstanden gewesen.

    „Nein, bitte komm mit rein, vielleicht will Doktor Brandt ja etwas mit dir besprechen", hatte sie gebeten und so war ich in dieses Wartezimmer geraten.

    Walter war übrigens seit fast zwei Jahren der Freund meiner Mutter, und damit konnte ich mich bis heute nicht anfreunden. Immerhin war sie Mitte sechzig und ich davon überzeugt gewesen, dass Frauen in ihrem Alter vielleicht in einer Rheumagruppe aktiv waren oder zum Yoga gingen, aber doch kein Interesse mehr an Männern hatten. Dazu kam, dass ich Walter schlicht zum Kotzen fand und wenn ich sah, wie er die Hand meiner Mutter hielt, hätte ich ihm eine reinhauen können.

    Tabea lachte mich aus und behauptete, ich sei schlicht eifersüchtig. Eifersüchtig auf Walter, wie schräg war das denn?

    Tabea Kühn, meine schöne Freundin und Oberkommissarin beim K11 der Ludwigshafener Mordkommission. Sie war, als wir uns kennenlernten, alles andere als begeistert von mir gewesen. Sie hielt mich nicht nur für einen Mörder, sondern auch für einen totalen Loser. Sie nannte mich überheblich, sexistisch, kindisch und noch einiges mehr und bemühte sich kein bisschen, ihre Abneigung zu kaschieren. Ganz im Gegenteil, sie ließ keine Gelegenheit aus, mich deutlich spüren zu lassen, wie unsympathisch ich ihr war. Nicht einmal meine bewährtesten Anmachsprüche hatten ihr ein Lächeln abringen können. Das schaffte dafür Alli, der eroberte sofort ihr Herz. Trotzdem hatte ich mein Leben komplett ändern müssen, damit aus uns ein Paar werden konnte. Ich arbeitete fleißig, verdiente genug Geld, um weder Mutter noch Schwester auf der Tasche liegen zu müssen und guckte andere Frauen nicht einmal mehr an. Hatte sich gelohnt, denn ich war nach wie vor hingerissen von dieser mega Frau.

    Sie war schön, was sie völlig nebensächlich fand, klug, humorvoll und erfolgreich in ihrem Beruf. Das war nicht immer so einfach für mich, und manchmal tat ich mich damit noch immer schwer. Mein männliches Ego wollte sie beeindrucken, besser sein. Leider endete das regelmäßig im Chaos. Getreu dem Motto: Als Tiger gestartet, als Bettvorleger gelandet, hatte ich auch bei ihrem letzten Fall wieder alle Anweisungen und Warnungen ignoriert, um ihr zu beweisen, dass auch ich meinen Job verstand. Es nagte schwer an mir, dass ich den im Fernstudium erlernt hatte, darum war ich manchmal etwas übereifrig.

    Zum Glück war am Ende alles gut ausgegangen, und noch bevor Tabea mir den Kopf abreißen konnte, weil ich mich wieder einmal eingemischt hatte, passierte etwas, womit ich in tausend Jahren nicht gerechnet hätte.

    Der Sandmann, Norman Sand, Tabeas Kollege und nicht gerade ein Fan von mir, warf sich für mich in die Bresche. Er behauptete im Brustton der Überzeugung, er verdanke mir sein Leben. Das war zwar etwas übertrieben, aber unterbrach abrupt Tabeas Zorn und ich gebe zu, mir ging es runter wie Öl. Tabea war versöhnt, der Sandmann wieder gesund und der Täter dingfest gemacht. Weihnachten konnte kommen.

    Mein Plan sah vor, unseren ersten gemeinsamen Heiligen Abend ganz besonders romantisch zu begehen, und ich hatte alles bis ins Detail geplant. Leider hatte ich versäumt Tabea in meine Pläne einzubeziehen, was dazu führte, dass ich am Ende wieder wie der Trottel vom Dienst dastand.

    Kurz vor dem vierten Advent hatte ich bei einem Mannheimer Juwelier spontan einen Ring gekauft, einen ausgesprochen teuren Ring. Überzeugt, dass er auf Tabea mächtig Eindruck machen würde, hatte ich ihr das kleine Kästchen hingehalten und gespannt auf ihre Reaktion gewartet. Leider verstand sie die Botschaft nicht, oder wollte sie nicht verstehen. Wie auch immer, sie öffnete es, warf einen Blick hinein, lachte und sagte kopfschüttelnd: „Glaubst Du, Walter wird es gefallen, wenn du deiner Mutter einen solchen Ring schenkst, oder ist der für Wiebke?"

    Ihre späteren Erklärungen, warum sie nicht einmal auf die Idee gekommen war, er könnte für sie sein, retteten die Situation nicht mehr. Meinen Ausflug in die Welt der Romantik hatte ich gründlich verkackt. Tabea war mir nicht selig lächelnd um den Hals gefallen, wir waren weiterhin nicht verlobt, nicht einmal eine gemeinsame Wohnung war in Sicht.

    Sie fand, wir kannten uns für all das noch lange nicht gut genug, der jetzige Zustand sei völlig okay und Ringe unbequem. Am Ende fuhren wir zwischen den Jahren nach Mannheim und gaben das teure Teil zurück, was dem Juwelier Tränen in die Augen trieb. Bis Silvester hatte ich damit gehadert, danach war ich bereit, es im kommenden Jahr erneut zu versuchen.

    Ich wollte und ich würde diese Frau heiraten, das war beschlossene Sache für mich. Solange musste ich daran arbeiten, sie zu einem Umzug in meine Wohnung zu bewegen, damit wir zumindest die Nächte zusammen verbringen konnten.

    Nach einer gefühlten Ewigkeit erschien meine Mutter in der Tür und winkte mich zu sich.

    Den etwas klein geratenen Mann im weißen Kittel hatte ich bereits auf diversen Weinfesten und natürlich dem berühmten Dürkheimer Wurstmarkt getroffen, kannte ihn aber nicht näher. Dass ich mal eine Nacht mit seiner Frau verbracht hatte, wusste er offenbar nicht und von mir würde er es auch nicht erfahren.

    „Ihre Frau Mutter hat mich ersucht, Ihnen zu sagen, dass sie zu einem kleinen Eingriff in meine Klinik kommen muss. Nichts Besorgniserregendes, aber unumgänglich und möglichst zeitnah. Lassen Sie sich bitte gleich einen Termin geben, guten Tag", sprach´s, quälte sich ein Lächeln ins solariumgebräunte Gesicht und verschwand.

    Wie war der denn drauf? Sollte sich dringend mal eine Ärztesoap anschauen, da konnte der lernen, wie man mit Patienten umging. Kopfschüttelnd wandte ich mich der Dame hinter dem Counter zu, die bereits auf ihren Bildschirm starrte und mich wissen ließ, dass der nächstmögliche Termin in drei Wochen zu haben sei. Fragend schaute ich meine Mutter an, die zustimmend nickte.

    Im Auto wolle ich Einzelheiten, aber sie weigerte sich, behauptete, das sei kein Thema für einen Mann, es sei aber nichts Ernstes. Damit musste ich mich zufriedengeben, war aber so besorgt, dass ich versprach, mit Tabea über die Party zu reden. Meine Mutter plauderte locker über Nebensächlichkeiten, aber ich spürte ihre Anspannung. Sie war selten krank, immer voller Tatendrang und einer schier unermüdlichen Energie. Daher war mir der Gedanke, dass sich das mal ändern könnte, bisher nicht gekommen. Zuhause drückte ich ihr, in einem seltenen Anfall von kindlicher Zuneigung, einen Kuss auf die Wange. Sie sah mich verwundert an, lächelte und sagte: „Keine Bange, ich habe nicht vor zu sterben, aber man weiß ja nie. Vergiss also nicht Tabea anzurufen, wir sehen uns heute Abend." Damit drehte sie sich um und verschwand im Haus.

    Große Worte, überschwängliche Umarmungen oder gar Gefühlsausbrüche gab es in unserer Familie nie. Dafür war keine Zeit.

    Mein Vater war früh gestorben und Mutter und Schwester hatten hart arbeiten müssen, das große Weingut rentabel zu führen. Das hatte ich allerdings erst begriffen, als Wiebke an Krebs erkrankt war und mir einige Leute sehr deutlich klargemacht hatten, dass ich ein krasser Egoist war, der nur auf Kosten anderer lebte.

    Okay, die Zeiten waren vorbei, Wiebke wieder gesund, und ich ein nützliches Mitglied der menschlichen Gemeinschaft. Ich fuhr vom Hof, nicht ahnend, dass ich schon wieder auf dem Weg in einen Mordfall war.

    -3-

    „Ich sage es dir noch einmal, hör mit deiner verdammten Sauferei auf. Du bist ekelhaft, wenn du getrunken hast. Ganz abgesehen davon, guck mal in den Spiegel. Dein Gesicht ist aufgedunsen und deine Haare sehen aus, als hättest du sie ewig nicht mehr gewaschen. Wie eine Pennerin. Außerdem hast du mittlerweile mindestens zehn Kilo zu viel. Es wird nicht mehr lange dauern, dann reicht Roger die Scheidung ein und niemand wird ihm das verdenken. Die Leute reden über euch und das kann er sich in seiner Position einfach nicht leisten. Kein Mann zeigt sich gern mit einer Frau in der Öffentlichkeit, die aussieht wie die Putzfrau. Ich habe dich nie gemocht und daraus habe ich weder dir noch Roger gegenüber einen Hehl gemacht. Heuchelei liegt mir nicht. Und darum sage ich dir jetzt ganz offen, dass ich dich mittlerweile geradezu abstoßend finde. Du bist zu gar nichts nutze, nicht einmal ein Kind kannst du auf die Welt bringen. Jammern und saufen, das ist alles, was du kannst; dabei hast du nicht den geringsten Grund. Weißt du, auch wenn Roger es nicht wahrhaben will, ich habe dich schon lange durchschaut. Du bist ganz zufrieden damit, dass du nicht schwanger wirst, du wolltest nie Kinder, du wolltest Karriere machen. Hat wohl auch nicht so geklappt hat, wie du gedacht hast, sonst hättest du deinen Job nicht einfach hingeschmissen. Jetzt geh unter die Dusche und sorg dafür, dass du zumindest heute Abend einigermaßen präsentabel aussiehst. Und noch was, solltest du dich betrinken und die Leute anpöbeln, werfe ich dich eigenhändig aus dem Haus. Ich hoffe, wir haben uns verstanden!"

    Carolin Kreutzer winkte ab, noch bevor ihre Schwiegertochter den Mund zu einer Erwiderung aufmachen konnte, drehte sich um und verließ den Raum. Vor der Tür blieb sie stehen, legte eine Hand auf ihr Herz und holte tief Luft. Das hatte verdammt gutgetan. Endlich hatte sie ausgesprochen, was sie schon lange dachte. Melanie war einfach nicht die passende Frau für ihren Sohn. Ja gut, sie war Juristin und einmal recht hübsch gewesen, aber sie kam aus keinem guten Stall, war labil und hatte nicht gelernt, sich in ihren Kreisen zu bewegen. Seit zehn Jahren jammerte sie über ihre Kinderlosigkeit und rannte von Arzt zu Arzt, wenn sie nicht gerade vollkommen betrunken im Bett lag. Roger war wirklich zu vielem bereit gewesen, hatte klaglos Spermatogramme machen lassen und seiner Frau bei diversen Inseminationen die Hand gehalten. Er hatte mit ihr gehofft und getrauert, wenn es wieder einmal nicht funktioniert hatte. Er war mit ihr sogar bis nach Amerika geflogen. Erst als sie begonnen hatte, immer obskurere Heiler aufzusuchen, Schamanen, Gesundbeter und Handaufleger, die alle nur an ihrem Geld interessiert waren, hatte er sich geweigert. Als sie begriff, dass sie ihn nicht mehr umstimmen konnte, hatte sie angefangen zu trinken. Erst nur hin und wieder, aber mittlerweile war sie selten ganz nüchtern. Sie ließ sich gehen, hatte weder ihre Zunge noch ihre Wortwahl unter Kontrolle und vergaß allzu oft, wo sie sich befand und wer sie war. Nein, sie würde Melanie keine Träne nachweinen, im Gegenteil, sie war entschlossen, ihren Sohn zu ermutigen, sich von ihr zu trennen. Die Peinlichkeiten und das Gerede wegen einer Scheidung waren in diesem Fall das kleinere Übel.

    Melanie Kreutzer stand bewegungslos mitten im Raum und starrte ihrer Schwiegermutter nach. Die hatte sie in der Diele abgefangen, kaum, dass sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich derartige Vorwürfe anhören musste, aber so deutlich war sie noch nie geworden. Sie warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Flaschen in der Bar, riss sich zusammen und wandte sich ab. Langsam stieg sie die lange Wendeltreppe mit dem kostbaren, geschnitzten Geländer hoch und ging in ihr Zimmer.

    Vor dem großen Spiegel ihres Kleiderschranks blieb sie stehen und betrachtete sich kritisch. Es stimmte, sie sah schlecht aus und ihre Haare brauchten dringend einen Friseur. Sie fuhr sich mit den Händen über die Hüften und dann über ihren Bauch, bevor sie sich seufzend auf das breite Bett fallen ließ, die Hände hinter dem Kopf verschränkte und über ihre Situation nachdachte.

    Ihre Schwiegermutter hatte keine Ahnung, die sah nur, was sie sehen wollte. Roger war nicht das Opfer, er war der Täter. Jahrelang hatte sie alles getan, um seinen immer zwanghafter werdenden Wunsch nach einem Kind zu erfüllen. Unzählige schmerzhafte, demütigende Untersuchungen und Eingriffe hatte sie über sich ergehen lassen. Sich immer öfter als Versagerin gefühlt, weil einfach nichts klappen wollte. Rogers Beitrag war dagegen lächerlich gewesen, auch wenn er sich von seinen Eltern wie ein Held feiern ließ.

    Als sie ihn vor fünfzehn Jahren geheiratet hatte, war es für sie die große Liebe gewesen. Dass seine Eltern, und dabei besonders Carolin, über seine Wahl alles andere als begeistert waren, hatte ihr Glück kaum getrübt. Kreutzers gehörten zu den reichsten Familien, der ansonsten eher armen Pfalz und vererbten ihr Vermögen von einer Generation zur nächsten. Für sie war es daher selbstverständlich, dass ihr ältester Sohn sich eine Frau suchen würde, deren Eltern das ebenso hielten. Umso entsetzter waren sie, als Roger ihnen ein Mädchen präsentierte, dessen Eltern geschieden waren und deren Mutter sich das Studium buchstäblich vom Munde abgespart hatte. Dass die angehende Schwiegertochter einen hervorragenden Abschluss vorweisen konnte und einer vielversprechenden Zukunft als Anwältin entgegensah, interessierte sie nicht sonderlich.

    „Am Ende zählt nur, aus welchem Stall jemand kommt", beendete ihr Schwiegervater jede Diskussion. Roger und sie hatten über derart antiquierte Ansichten gelacht,

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