Wie man einen Traum aufgibt, um ein Leben zu gewinnen
Von Nico Langmann und Christian Bartlau
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Über dieses E-Book
Heute ist Langmann nicht nur einer der besten Tennisspieler der Welt, sondern auch ein Mutmacher – trotz eines zweiten Schicksalsschlages in seiner Jugend, trotz einer Welt, die nicht für Menschen wie ihn gebaut und in der Diskriminierung Alltag ist.
Nicos Geschichte ist Inspiration für uns alle. Sein Credo: "Du musst keine Grenzen akzeptieren, die dir jemand anderes auferlegt. Du kannst deinen eigenen Weg finden, über all die Hürden hinweg – oder unter ihnen hindurch oder an ihnen vorbei."
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Buchvorschau
Wie man einen Traum aufgibt, um ein Leben zu gewinnen - Nico Langmann
EINLEITUNG
ICH HATTE EINEN TRAUM, und es fühlte sich schrecklich an.
Ich wache im Bett meiner Großmutter auf. Ich muss so zehn Jahre alt sein, wie so oft verbringen wir in den Sommerferien einige Wochen in Schwaz, der Heimatstadt meiner Mutter. Unten in der Küche läuft Radio U1 Tirol, mein Bruder und meine Oma sind also schon aufgestanden, bestimmt gibt es gleich Frühstück. Ich wuchte mich aus dem Bett und krieche am Badezimmer vorbei zur Treppe. Ganz vorsichtig, damit ich den Teppich nicht verrutsche, sonst schimpft Oma.
Die Treppe ist perfekt zum Klettern: runde Stufen, ohne harte Kanten, mit Filz überzogen. Ich werfe meine Beine nach vorn, ziehe den Hintern nach und plumpse nach unten. Beine, Hintern. Beine, Hintern. Elf Stufen sind es, dann kommt ein Plateau, zum Abschluss noch einmal fünf Stufen. Hunderte Male habe ich sie schon mitgezählt, Hunderte Male bin ich diese Treppe runter und wieder rauf gekrabbelt. Beine, Hintern. Beine, Hintern.
Mit zwei Jahren hatte ich einen Autounfall, seitdem bin ich ab dem achten Brustwirbel abwärts querschnittsgelähmt und auf einen Rollstuhl angewiesen. Hier bei meiner Oma steht er draußen im Treppenhaus neben der Haustür. Ein ungeschriebenes Gesetz in meiner Familie: Der Rollstuhl kommt nicht in die Wohnung. Nico soll sich gar nicht erst an das Ding gewöhnen.
Nach dem Unfall haben die Ärzte meinen Eltern gesagt, dass ich nie wieder gehen würde. Weder mein Vater noch meine Mutter haben diese Diagnose akzeptiert. Ihr Leben und damit auch mein Leben kennen seit diesem Moment nur noch ein Ziel: Du musst wieder gehen können. Das ist meine einzige Aufgabe, der einzige Traum, den ich haben soll.
Mein Vater erzählt mir oft, dass wir eine große Feier veranstalten, wenn ich es geschafft habe, wer alles eingeladen sein würde, wie wir dann alle zusammen sein Lieblingslied singen würden, »We Are the World« von Michael Jackson. Unsere Familie, unser Freundeskreis, einfach alle wissen: Der Nico wird wieder gehen können. Niemand hinterfragt das. Auch ich nicht. Wenn ich Bilder von unserer Familie male, zeichne ich mich wie meine Eltern und meinen Bruder auch: stehend. In meinen Träumen gehe ich aufrecht, auf meinen eigenen zwei Beinen.
Bis heute Nacht.
Eigentlich passiert in diesem Traum nicht viel: Ich spaziere eine Gasse entlang mit meinem Bruder und einigen Freunden. Als meine Blicke runter auf den Asphalt wandern, sehe ich meine Beine – im Rollstuhl, in dem roten Rollstuhl, der bei meiner Oma im Treppenhaus steht. Der verbannt wird aus meinem Leben, wann immer es geht. Und der jetzt plötzlich zum ersten Mal in meinen Träumen auftaucht.
Beim Frühstück sage ich kein Wort. Eigentlich bin ich ein aufgewecktes kleines Kind, aber an diesem Morgen plagt mich ein furchtbar schlechtes Gewissen: Wenn ich mich jetzt schon im Traum im Rollstuhl sehe, verfestigt sich der Gedanke in meinem Kopf. Ich verliere den Kampf.
Der Kopf, das hatten meine Eltern mir immer eingebläut, ist das Wichtigste: Mit der Kraft der Gedanken kann ich alles schaffen. Wenn ich nur fest daran glaube, werde ich irgendwann wieder gehen können. Nur glaubt mein Kopf offenbar nicht mehr daran. Ich muss gegensteuern. Oder meine Eltern werden böse auf mich sein.
Was an diesem Sommermorgen am Frühstückstisch meiner Oma in mir tobt, ist das prägende Gefühl meiner Kindheit: die Angst, nicht genug zu tun für mein großes Ziel. Die Angst, zu versagen. Die Angst, meine Familie zu enttäuschen.
In diesen Jahren lebe ich im Takt der Therapien: dreimal die Woche drei Stunden Physiotherapie. Einmal die Woche Akupunktur, einmal Hypnose, einmal Akupressur. Dazu Übungen an einem der Dutzenden Geräte, die meine Eltern gekauft haben: die Maschine, in der meine Beine an Kurbeln angeschnallt werden, die ich mit dem Rudern meiner Arme in Gang setze, sodass die Beine sich mitbewegen und besser durchblutet werden. Geräte, die Stromschläge verteilen. Laser. Klangschalen.
Die Wochenenden und die Ferien gehören oft den Heilern, oder, wie sich die meisten selbst bezeichnen: den Heilpraktikern. Heute nenne ich sie anders: Scharlatane. Sie verleihen ihren Methoden weihevolle Namen, machen Energie- oder Meridianarbeit – in Wahrheit nichts anderes als Handauflegen. Meine Eltern glauben trotzdem daran.
Sie hoffen auf ein Wunder, und sie folgen jedem, der es ihnen verspricht. Egal wohin: Sie fliegen mit mir zu Elektro-Therapien nach Russland, zu einer Ayurveda-Kur nach Indien, sogar zu einem Guru nach Brasilien, der mittlerweile im Gefängnis sitzt.
Was mir das alles bringt? Druck, der immer größer wird, verstärkt von den bohrenden Fragen meiner Eltern: Wann kommt der nächste Fortschritt? Arbeitest du wirklich hart genug? Warum ist so lange nichts mehr passiert?
Wie alle Kinder spüre ich natürlich genau, was von mir erwartet wird. Ich weiß: Meine Eltern wollen unbedingt, dass ich wieder laufen kann. Und ich will ihnen diesen Wunsch erfüllen.
Ich erinnere mich gut an einen Besuch bei einem Heiler in Tirol, bei dem wir Stammgäste sind. »Der Köck«, wie wir ihn nennen, lebt in Igls, eine halbe Stunde von meiner Oma entfernt, im ersten Stock eines alten Bauernhauses in Hanglage.
Als ich noch leichter war, konnte meine Mutter mich einfach die Treppe nach oben tragen, mittlerweile muss sie mich an den Hinterfüßen packen, während ich mit den Oberarmen nach oben klettere, wie beim Schubkarre-Spielen.
Das Wartezimmer ist eines dieser Portale in eine andere Welt, in der ich mich so gar nicht wohlfühle. Diese Räume sehen überall gleich aus: dunkel, schwere Polster liegen auf Couches, der Geruch von Räucherstäbchen wabert durch die Luft. Beim Köck hängen Porträtbilder an der Wand von Menschen, deren Köpfe von bunten Lichtkegeln umgeben sind – ihrer »Aura«. Mit einem Tiroler Bauernhaus hat das nichts zu tun, eher mit einem indischen Ashram.
Es gibt einen zweiten Grund, warum ich mich nicht wohlfühle: Ich weiß, was mir bevorsteht. Mindestens zwei, manchmal drei Stunden Therapie. Den Anfang macht auch heute wieder die Goldbürste. Der Köck, ein kleiner, kerniger Tiroler, über 80 Jahre alt, bürstet mich damit ab, um meinen »Energiefluss« ins Laufen zu bringen. Eine Prozedur, die meine Mutter in unseren Alltag übernommen hat: Jahrelang sitzt sie am Abend an meinem Bett und massiert mich mit der Goldbürste, von den Armen über den Oberkörper bis in die Beine.
Der Köck gehört zu den Heilern, die immer wieder nach neuen Methoden suchen, um den Patienten zu helfen. Mal lasert er meine Stirn, um mein »drittes Auge« zu stimulieren, mal hält er eine Lampe an jedes meiner sieben Chakren – angefangen beim Penisansatz. Dieses Mal fährt er mit spitzen Stäben an meinem Körper entlang, was fürchterlich wehtut. An meinen Beinen angelangt, sticht er so tief hinein, dass sie zucken – ein gutes Zeichen, behauptet der Köck. Das ist völliger Quatsch: Unkontrollierte Muskelkrämpfe sind die Art, wie mir mein gelähmter Unterkörper Schmerzen signalisiert. Ich behalte es für mich.
Als Nächstes muss ich mich auf eine Liege legen, über die der Köck einen riesigen Glasdeckel stülpt. Es sieht aus wie eine Art gläserner Sarg, in den per Lautsprecher Schwingungen übertragen werden, die nach Meditationsmusik klingen. Am Glas sind durchsichtige Kristalle angebracht, fünf davon so geschliffen, dass sie auf mich zeigen, wie ein umgekehrtes Nagelbett. Ich bin schon so an solche abstrusen Geräte gewöhnt, dass ich mich nicht weiter wundere. Ich langweile mich einfach nur schrecklich. Allein in einem Glassarg – nicht einmal plaudern kann ich mit dem Köck. Immerhin: Das ist der letzte Teil der Therapie für heute.
Nach der Behandlung führt mich der Köck für einen Test in sein Wohnzimmer. Bäuchlings liege ich auf einer Liege – glücklicherweise genau so, dass ich seinen Fernseher gut sehen kann, einen großen alten Röhrenbildschirm, der stark reflektiert. Den Kopf im richtigen Winkel nach rechts gedreht, schon habe ich meinen ganzen Körper im Blick. Ein versteckter Spiegel, die perfekte Hilfe für meinen Taschenspielertrick.
»Und, Nico, wo drücke ich jetzt?«
»Am linken Oberschenkel.«
»Sehr gut!«
Ich schaue zu meiner Mutter hinüber, die während der ganzen Therapie nicht von meiner Seite gewichen ist. Sie lächelt. Ich weiß: Das wird eine angenehme halbe Stunde zurück zu meiner Großmutter. Die Stimmung im Auto hängt immer davon ab, ob die Therapiesitzungen gut laufen oder nicht. Heute hat es mal wieder einen Fortschritt gegeben. Heute ist Mama zufrieden. Und ich bin zufrieden, weil sie zufrieden ist.
Ich muss eine Entscheidung treffen, die jahrelang gereift ist. Eine Entscheidung, die meine Eltern enttäuschen wird, ein letztes Mal. Eine Entscheidung, die einen Traum beenden wird. Damit mein Leben beginnen kann.
Aber es gibt immer eine nächste Therapie. Auf Dauer bringen mich meine Tricks, die Schauspielerei und die kleinen und großen Notlügen nicht weiter. Ich kann immer noch nicht gehen. Ich versage, Tag für Tag. Woche für Woche. Monat für Monat. Jahr für Jahr.
Je älter ich werde, desto unglücklicher werde ich. Ich fürchte mich im Dunkeln, kann nicht allein in meinem Bett schlafen. Ich fühle mich einsam, weil ich zu Therapien fahren muss, statt mit meinen Freunden zu spielen. Ich streite mit meinen Eltern, weil ich keine Lust mehr habe, stundenlang an irgendwelchen Geräten zu üben. Ich will einfach nur ein normales Leben haben, wie alle anderen auch.
Ich muss eine Entscheidung treffen.
Ich muss eine Entscheidung treffen, die jahrelang gereift ist. Eine Entscheidung, die meine Eltern enttäuschen wird, ein letztes Mal. Eine Entscheidung, die einen Traum beenden wird. Damit mein Leben beginnen kann.
1. KAPITEL
EINE KINDHEIT, EIN ZIEL
»EINEN FRÖHLICHEN 7. FEBRUAR wünsch ich dir, liebe Frau Mama!« »Ach, hör auf … Ich denk eh schon den ganzen Tag dran!«
Oh. Das war jetzt wohl doch etwas unsensibel von mir. Eigentlich ist es nur eine spontane Idee gewesen, meine Mutter anzurufen, weil ich mich auf meiner gemächlichen Fahrt über den Wiener Gürtel im Auto langweile und mir gerade aufgefallen ist, welches spezielle Datum wir heute haben. Vielleicht kommt mein Spruch über die Freisprechanlage auch nicht gut rüber. Vielleicht unterschätze ich auch immer noch, was dieses Datum für meine Mutter bedeutet.
Heute ist der 7. Februar 2022, der 22. Jahrestag des Unfalls, der das Leben meiner Familie in ein Davor und ein Danach teilt. Ein Zusammenstoß auf Kilometer 217 der Westautobahn Richtung Tirol, drei Verletzte: meine Mutter, mein Bruder, ich. Einige Wochen lang sah es so aus, als wären wir alle glimpflich davongekommen. Bis meine Eltern merkten, dass etwas mit mir nicht stimmt – ich bewegte meine Beine nicht mehr. Die Diagnose: Querschnittslähmung vom achten Brustwirbel abwärts.
Für gewöhnlich spricht man von solchen Unfällen als »Schicksalsschlag« oder »schwarzer Tag«. Aber ich war noch nicht einmal ganz zwei Jahre alt, ich habe keine Erinnerungen, verbinde keine Emotionen mit diesem 7. Februar 1999. Für mich ist dieser Unfall etwas, was vor meinem Leben passiert ist. Ich kann an diesem Jahrestag dumme Witzchen reißen, meiner Mutter ist diese Lockerheit nicht vergönnt.
Natürlich prägt der Unfall mein Leben. Natürlich verkompliziert er es, legt mir Grenzen auf – und eine unmögliche Aufgabe, die meine Kindheit bestimmen und in gewisser Weise auch überschatten wird. Einfacher macht dieser Unfall die Sache jedenfalls nicht. Aber: Ich kenne kein anderes Leben als das eines Querschnittsgelähmten. Ich habe nichts verloren. Meine Mutter und meine ganze Familie hingegen mussten ihr Leben von einem auf den anderen Tag komplett umkrempeln.
Während ich mein Auto über den Wiener Gürtel manövriere, versuche ich, das Gespräch mit meiner Mutter in angenehmere Bahnen zu lenken: »Jetzt hab ich ein schlechtes Gewissen. Ist es für dich echt noch schlimm?« »Nein, nein. Aber natürlich denk ich dran.«
KILOMETER 217
Als Kind habe ich die Geschichte vom Unfall geschildert, wie ich sie aus Erzählungen kannte – oder zu kennen glaubte. Meine Mutter oder mein Vater haben nur wenig über diesen 7. Februar 1999 gesprochen, ich schnappte nur auf, was sie Ärztinnen und Therapeuten auf Nachfrage erzählten. Meine Stille-Post-Versionen waren voll mit falschen Details und Begriffen, die ich selbst gar nicht richtig verstehe: Warnblinkanlage, Führerscheinneuling, Reisebus.
Erst vor drei oder vier Jahren habe ich begonnen, meinen Famile auszufragen, was eigentlich genau passiert ist. Jahrelang war ich die Strecke von Wien zu meiner Oma in Tirol gefahren, als Beifahrer und später am Steuer, ohne zu wissen, wo die Unfallstelle liegt. Erst im Sommer 2020 frage ich meinen Bruder, ob er sich noch erinnern kann. Er kann: Es ist eine Linkskurve, kurz hinter der Ausfahrt Laakirchen-West, Oberösterreich.
Der 7. Februar 1999 ist ein Sonntag, meine Mutter fährt mit meinem Bruder Alex, damals vier Jahre alt, und mir nach Tirol zum Skifahren. Alex sitzt hinten rechts in einem Kindersitz, ich in der Mitte in einem Maxi-Cosi.
Wir reisen in der Dunkelheit, mittlerweile ist es halb sieben Uhr abends, es schneit ganz leicht. Und plötzlich steht dieses Auto auf unserer Spur, ohne Licht. Meine Mutter weicht aus, steigt auf die Bremse, unser Auto gerät ins Schleudern und prallt auf einen Bus, der die Fahrbahn blockiert. Totalschaden. Wie eine Ziehharmonika sieht unser Auto aus.
Einige Buspassagiere ziehen meine Mutter aus dem Wrack, wie wir herauskommen, kann sie nicht mehr sagen, sie hat Erinnerungslücken, die sich nie geschlossen haben. Unmittelbar nach dem Unfall ist sie das Sorgenkind der Ärzte, der Motorblock hat sich ins Wageninnere geschoben