Eine griechische Reise
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Gerds griechische Reise verläuft anders als geplant und endet, wie er es niemals erwartete …
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Buchvorschau
Eine griechische Reise - Herbert Dr. Urlaub
Wir erwarteten Gäste, und in dem Moment, als ich ihnen die Wohnungstür öffnete, um sie einzulassen, ahnte ich nicht, welche Geschichte der gemeinsame Abend in mir wachrufen würde.
Meine Frau hatte alle Hände voll zu tun mit der Vorbereitung des Abendessens, zu dem wir unsere neuen Freunde, Gerda und Jochen, eingeladen hatten. Eine sehr nette Bekanntschaft, die wir ein paar Monate zuvor in einem Möbelhaus gemacht hatten. Sie waren uns beim komplizierten Verladen eines Regals behilflich, und so kamen wir ins Gespräch.
Es folgten gelegentliche Treffen, verabredet oder unverhofft, manchmal auf einen kleinen Happen in einem Gasthaus ganz in der Nähe oder auf einen Cocktail in einer Bar. Wir lernten den Internisten und seine Sprechstundenhilfe ziemlich schnell gut kennen. So war die Bekanntschaft zusehends gereift, und meine Frau meinte, es sei Zeit für eine erste Einladung zu Hause.
Das Kochen für Freunde war uns stets eine Freude, und meist zauberten wir etwas Italienisches auf den Tisch. Heute jedoch stand griechische Küche auf dem Programm. Die Düfte aus der Küche waren unbeschreiblich verlockend.
Ich bat Gerda und Jochen herein, nahm ihnen die Mäntel ab und führte sie ins Wohnzimmer. Der Einladung zum Aperitif stimmten beide zu, und ich so holte ich die Flasche Cremant aus dem Kühlschrank, öffnete sich mit sanftem Plopp und füllte vier Gläser.
„Schatz, kommst du gerade mit uns anstoßen?", rief ich in die Küche, und nur wenige Augenblicke später gesellte sich meine Gattin zu uns. Das Klirren der Gläser klang fröhlich, als wir einander zuprosteten, und die Freude auf den gemeinsamen Abend stieg wie die Stimmung Das Essen war köstlich, wie stets. Meine Frau zauberte eine Vorspeise mit gebratenen gelben und roten Spitzpaprika, mit gutem Essig beträufelt, weiße große Bohnen in Tomatensauce mit einem Hauch Minze, Auberginen-Mus, Tarama, selbst süßsauer eingelegte Peperoni aus unserem Terrassengarten und gekochte Octopusstücke mit Zitrone beträufelt … Dazu schenkte ich einen einfachen, aber kräftigen Assyrtiko von Constantin Lazaridi aus Adriani ein, und zum Lamm dann einen köstlichen Refosco von Mercouri auf dem Peloponnes. Eben alles köstlich Griechisch.
Nichts ist besser geeignet, einander persönlicher kennenzulernen, als ein gemütliches Essen. Jochen und Gerda vertrauten uns die Geschichte ihres Kennenlernens an. Ein wahrlich lustiges Vergnügen, den beiden zuzuhören.
Mitten in unsere amüsante Unterhaltung platzten unsere Kinder ins Wohnzimmer. Neugierig geworden hatten sie ihr Spiel unterbrochen und schauten nun erwartungsvoll von einem zum anderen.
„Darf ich vorstellen: unsere Tochter Eleni und unser Sohn Giorgos. Eleni ist 11 und Giorgos 9 Jahre alt", sagte ich und präsentierte die beiden stolz.
Die Kinder umringten meine Frau, schmiegten sich etwas verlegen an ihre Seiten und blickten lächelnd in die Runde.
Gerda, die immer recht unverblümt offen war, meinte: „Eigentlich müsste ich jetzt so was sagen wie ‚sie sind dem Vater oder der Mutter aus dem Gesicht geschnitten‘ … sie wirkte verlegen … „aber … ganz ehrlich? Die beiden ähneln keinem von Ihnen beiden? Eine Willkür der Natur? Ähneln sie vielleicht den Großeltern?
Meine Frau lachte und erklärte: „Kein Wunder, Gerda. Die beiden sind nicht unsere leiblichen Kinder. Sie ähneln natürlich ihren Eltern. Leider sind beide bei einem Unfall tödlich verunglückt. Gerd und ich sahen es sofort als unsere Pflicht an, die beiden zu adoptieren. Wir konnten keine eigenen Kinder haben …"
Gerda genügte die Erklärung. „Bewundernswert", sagte sie anerkennend und lächelte warmherzig.
Bald war es Zeit, dass die Kinder zu Bett gingen. Als meine Frau sich wieder zu uns gesellte, sprachen wir gerade wieder über das kuriose Kennenlernen von Gerda und Jochen.
„Wie war es denn bei Ihnen?", wollte Jochen wissen, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schaute uns erwartungsvoll an.
Im gleichen Moment ertönte ein Klingeln aus der Diele. Wir wandten unsere Blicke zur Wohnzimmertür, und dann reagierte Jochen. Er stand auf, entschuldigte sich kurz und ging mit langen Schritten zu seinem Mantel. Kaum eine Minute später kehrte er zurück. Bedauern im Blick.
„Es tut mir wahnsinnig leid, aber ich habe Bereitschaft und muss sofort in die Klinik. Einer meiner Patienten wurde eingeliefert", erklärte er, zog hilflos entschuldigend die Schultern hoch und blickte seine Frau bittend an.
Wir mussten sie also noch vor dem Dessert verabschieden, versprachen uns jedoch, das nächste Treffen baldmöglichst zu vereinbaren.
Als wir gut zwei Stunden später auch zu Bett gegangen waren, schlief meine Frau rasch ein, während ich plötzlich hellwach war. Sie lag, wie immer, in meine Arme geschmiegt ruhig atmend da, ihre Hand vertrauensvoll in der meinen … und meine Gedanken wanderten zurück in die Vergangenheit zu einer Geschichte, wie es sie gewiss nicht oft gibt. Sie bewegte mich emotional immer noch so sehr, dass ich nicht einzuschlafen vermochte … –
*
Ich erinnerte mich, dass mein Vater an Leukämie erkrankte und wiederholt länger in ein Koma gefallen war, das dann manchmal eine Woche, manchmal auch nur zwei bis drei Tage dauerte. In einem der wenigen wachen Augenblicke hatte er mir viele Begebenheiten aus seiner Vergangenheit, die ihm wichtig schienen, erzählt. Da gab es dann für mich auch beunruhigende Dinge, die er vorbrachte. Insgesamt waren seine Erzählungen ein wenig verwirrend, und ich hatte den Eindruck, dass er entweder Erinnerungslücken an seine Abenteuer in der Vergangenheit hatte, oder dass er nicht mit der ganzen Wahrheit herausrückte. Immer wieder schweifte er ab und berichtete Belangloses, wie etwa seine erste Probefahrt mit einem BMW. Es war aber ja auch gut möglich, dass der Eindruck, den ich gewinnen konnte, seiner Krankheit und seinem komatösen Zustand geschuldet war. Er befand sich leider insgesamt in einem bedauernswerten Zustand. Ich habe mich oft gefragt, inwieweit er sich bewusst war, wie ernst es um ihn stand. Ihn direkt zu fragen, hatte ich mich nicht getraut.
Vater sprach auch immer wieder von dem Verlust zweier Söhne durch Unfall und schwere Krankheit und wie schwer es gewesen war, jedes Mal den Schmerz zu verarbeiten. Auch von seinen Brüdern, die er verloren hatte, erzählte er. Ich empfand diese Unterhaltungen stets ein wenig morbid. Aber er sagte auch so kryptische Dinge wie: Es gäbe Hoffnung und, dass nicht alles verloren sei. Was sollte ich mit solchen Bemerkungen anfangen? Eines aber sollte ich wohl seinen Berichten entnehmen: Ich hatte vielleicht eine oder gar zwei Halbschwestern.
In diesem Zusammenhang ließ er den Namen ‚Ingeborg‘ fallen. Ein schöner Name, ein deutscher Name. Unabhängig von der Möglichkeit, von einem bis dahin nicht bekannten Familienzuwachs zu hören, hatte ich versäumt, die Fragen zu stellen, die ich ihm als Zeitzeugen der größten Umwälzungen und Ungeheuerlichkeiten der jüngsten Geschichte hätte stellen sollen; ebenso wie dies auch bei meinem Großvater versäumte, als er noch lebte. Jetzt, im Alter, war ich stolz auf meinen Großvater, hätte aber doch so gerne mehr direkt aus seinem Munde über seine bewegte Vergangenheit erfahren.
Vater war verstorben, und ich brauchte ein paar Wochen, um, wie man so schön sagt, Trauerarbeit zu leisten. In den ersten Tagen war mir sein Fehlen in meinem Leben nicht unmittelbar bewusst gewesen, und ich hatte mich bei meiner Tagesplanung öfter dabei ertappt, mir einen Besuch bei meinem Vater in der Klinik vorzunehmen. Ähnlich war es mir nach dem Tod meiner Mutter ergangen, die ich mit einem Bruder abwechselnd über fast drei Jahre in Kliniken besucht hatte. Ich hatte Jahre gebraucht, um richtig um sie trauern zu können.
In vielen Stunden hatte ich darüber meditiert, wie es denn überhaupt geschehen konnte, dass einem der Verlust einer geliebten Person scheinbar nicht nahegeht. Ich empfand einfach keinen Verlust, das heißt, ich weigerte mich, mental den unausweichlichen Tatsachen des vollständigen Verlustes ins Auge zu sehen. Meine Schlussfolgerungen waren immer die gleichen bezüglich der Dinge, die in einem vorgingen oder vorgehen sollten, wenn man einen nahestehenden, geliebten Menschen verliert. Zunächst einmal wäre da der Schmerz über den Verlust an sich einerseits und eine Art von Selbstmitleid, weil man das Gefühl hat, dass einem etwas weggenommen wurde. Dem kann man sich stellen oder verweigern. Der Verlust wird erst richtig deutlich, wenn man an die Person, die man geliebt hat und die nicht mehr physisch bei einem sein kann, nicht mehr oder nur noch wenig denkt. Erst dann, wenn ein Mensch aus der Erinnerung verschwindet, ist diese Person richtig tot, so glaube ich. Wird einem dann irgendwann plötzlich bewusst, dass man seit geraumer Zeit dabei war, einen Menschen, mit dem man eng verbunden war, in die Vergessenheit zu schicken, kommt entweder ein Gefühl der Reue oder der Gleichgültigkeit auf. Das Schlimmste aber, womit ich nicht umzugehen wusste, war die Betroffenheit derer, die nicht, wie ich, unmittelbar betroffen waren, wenn ich einen Verlust hatte oder erkrankt war.
Eines Morgens, als ich im Bad nach dem Aufstehen vor dem Spiegel stand, fiel mir auf, dass ich alt wurde. Auch mein Kurzhaarschnitt sah plötzlich nicht mehr schick oder modern aus, sondern war eine wenig elegante Art zu kaschieren, dass auch an einigen Stellen die Haare nicht mehr so dicht standen, dünner wurden und wohl auch ausfielen. Ich hatte eigentlich immer gehofft, auf meinen Großvater zu kommen, der noch mit 95 Jahren üppigen Haarwuchs und alle eigenen Zähne hatte. Was für ein Unterschied zu mir, meinen Brüdern und Vater. Auch mein Morgenkaffee, eine wichtige Sache nach dem Aufstehen, konnte mich nach diesen Einsichten nicht mehr aufheitern.
Ich versuchte, einige Gedanken und Erinnerungen zu ordnen. Natürlich war mir bewusst, dass man Ereignisse rückwirkend nicht ändern konnte, aber es war doch gerechtfertigt, manches Mal darüber nachzudenken, was hätte anders verlaufen können, wenn man sich in Situationen, die man sich in Erinnerung rief, anders verhalten hätte.
Möglich, dass ich mit meinen philosophischen Exkursen abschweifte, aber ein Leben war doch auch ein wenig mit einem großen Bahnhof zu vergleichen, mit vielen Weichen, die Züge vorherbestimmte Richtungen einschlagen lasse. War das in der Tat so, und könnte es sein, dass die Richtung, die ein Leben nimmt, vorbestimmt war? Daran glaubte ich eher nicht.
Vielmehr hatte man an einer Stelle des Lebens eine Richtung eingeschlagen, und hätte aber doch auch eine andere Richtung wählen können. Im Gegensatz zu Max Frisch in seinem Buch „Mein Name sei Gantenbein", in dem Vorstellungswelt, Biografien und Identitäten sich verändern, mag ich mir nicht vorstellen, was wann und wie anders sein könnte. Zurückschauen möchte ich – und dann und wann die Frage stellen, warum ich etwas getan hatte, oder auch nicht. Lag es am Alter und an all den Erfahrungen, die ich im Laufe des Lebens gesammelt hatte, dass ich mir jetzt rückblickend nochmals all die Fragen stellte, die ich früher nicht zu stellen gewagt hatte?
Nach Vaters Tod, hatte ich geglaubt, es würde reiner Tisch gemacht, Licht ins Dunkel gebracht – jedenfalls hatte ich mir das vorgenommen. Doch als ich den Entschluss fasste, meine Nachforschungen zu beginnen, konnte ich nicht im Geringsten ahnen, dass ich irgendwann später einen Teil meiner Prinzipien, die bis dahin mein Leben bestimmt hatten, über Bord werfen würde.
Zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht bewusst, welche Auswirkungen meine Nachforschungen auf das Leben der Personen haben könnten, die ich treffen und befragen wollte. Das wurde mir erst viel später klar, als ich schließlich tiefer in die Lebensgeschichte meines Vaters und der mit ihm schicksalhaft verbundenen Personen eingedrungen war. Auch hatte ich mich nie gefragt, warum diese Menschen, die einen solchen Einfluss auf Vater gehabt und sein Leben in eine bestimmte Richtung gelenkt hatten, sich nie meldeten. Hatten sie kein Verlangen nach Aufklärung und Gewissheit über ihr Schicksal, verbunden mit dem meines Vaters, zu erlangen? Eigentlich fragte man sich doch immer wieder mal, warum sich eine bestimmte Person lange Zeit nicht gemeldet hat, wenn man plötzlich den dringenden Wunsch verspürt, diese zu sehen und zu besuchen.
Nun, die Freunde meines Vaters aus längst vergangenen Zeiten hielten bis zu ihrem eigenen Tod noch den Kontakt zu ihm aufrecht. Auch sein griechischer Freund war ihm zeitlebens verbunden geblieben.
Da war nun also diese Geschichte mit vielleicht einer Frau oder einem Mädchen Namens Ingeborg. Meine Brüder und ich hatten sie flüchtig bei einer Familienfeier kennen gelernt. Sie saß zwischen uns Brüdern, und erst bei der Betrachtung der Bilder, die wir an jenem Abend aufgenommen hatten, fiel uns die verblüffende Ähnlichkeit dieser Frau mir uns Brüdern auf. Ich gestehe, dass ich in Bezug auf sie keinerlei Gefühle verspürte. Diese Frau, Ingeborg, war mir schlichtweg gleichgültig.
*
Bis nach Berlin war ich gekommen, um meine ganz private Familienforschung voranzubringen. Der Besuch hatte allerdings nicht viel gebracht, und an Vaters letzter Geliebten in der ehemaligen Hauptstadt der DDR bin ich gescheitert. Sie redete mich stets mit dem Namen meines Vaters an und zeigte mir ein Bild, auf dem sie mit meinem Vater zu sehen war. Sie halb liegend in oder jedenfalls noch halbsitzend in einem riesigen Sessel und er, mein schmucker Vater in Sportkleidung, auf der Sofalehne und mit verschleiertem Blick in die wahrscheinlich durch Selbstauslöser betätigte Linse lächelnd. War dies eine Aufnahme, die nach oder vor der Zeugung einer meiner anderen Schwester gemacht wurde?
Jedenfalls fragte sie mich, wobei sie mich immer noch mit dem Namen meines Vaters anredete, wo denn die Aufnahme gemacht worden sei. Mir fiel nichts Besseres ein, als zu antworten, dass sie es ja besser wissen müsste als ich. Ich glaubte aus ihrer Erwiderung eine leichte Verärgerung heraushören zu können: „Warum sagst du so etwas? Hatten wir denn nicht eine gute und aufregende Zeit miteinander?" Immerhin zeigte sie mir etwas später das Bild ihrer Tochter, das mir keine neue Erkenntnis brachte, da ich ein viel schöneres von ihr hatte. Also hatte ich hier in Berlin bei der Frau, die möglicherweise die Geliebte meines Vaters war, keine sicheren Beweise für die Existenz einer Halbschwester gefunden.
Sollte ich einfach aufgeben? Wo soll ich denn weitersuchen?
Ich erinnerte mich an den Namen eines Freundes meines Vaters, den er oft erwähnt hatte. Sie waren wohl zusammen oft von den gleichen Fliegerhorsten gestartet. Er war nach dem Krieg in sein Heimatdorf nach Bayern zurückgekehrt und hatte den elterlichen Hof und das dazugehörende Hotel übernommen. Als ich den Ort im Telefonverzeichnis ausfindig gemacht hatte, musste ich mit Erschrecken feststellen, dass wohl die Hälfte der Einwohner des Dorfes den gleichen Vor- und Nachnamen hatte, wenn auch in abweichender Schreibweise.
Ich rief also der Reihe nach bei den gleichklingenden oder abgekürzten Namen an. Schließlich, ich glaube, nach dem sechsten oder siebten Versuch, bekam ich einen relativ jungen Mann – der Stimme nach zu urteilen – an den Apparat, der mir, nachdem er den Grund meines