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Fürchte Dich nicht, denn ich bin bei Dir
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eBook311 Seiten4 Stunden

Fürchte Dich nicht, denn ich bin bei Dir

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Über dieses E-Book

In Kassel werden Countertenöre ermordet, die eine Zusatz-Qualifikation haben: Den Bachelor of Music im Bereich der Holzblas-Instrumente. Der Täter ist perfekt und geht immer nach dem gleichen Prinzip vor. Die Opfer sind nicht in der Lage, sich zu wehren, am Tatort sind keinerlei Spuren erkennbar.....

Hauptkommissar Carl Bach und sein Team, Mirko Rauhbeyn und Lara Holm, sind am Rande der Verzweiflung. Von der Bevölkerung ist keinerlei Hilfe in Aussicht. Im Gegenteil! Gerüchte und Irreführungen treiben die Beamten in den Wahnsinn.

Krystof Canis, Leon Bardolin, Ole Rehlein - sie alle sind Countertenor. Während es für Krystof ein Genuss ist, die Kommissare zu schikanieren, gerät Ole mehr und mehr in die Klauen der Panik. Auch Leon arbeitet gegen die Anweisungen der Polizei und beruft sich auf seine künstlerische Freiheit.

Weihnachten, Silvester und die Kasseler Musiktage stehen vor der Tür. Sollten die Konzerte sicherheitshalber abgesagt werden? Der Täter ist zum Greifen nahe. Er badet in der Verzweiflung Carls und seinen Kollegen. Eines Tages verschwindet Friedemann Bardolin, Sohn von Leon. Der achtjährige Junge möchte werden wie sein Vater. Countertenor! Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt.

Letztlich stoßen die Beamte auf eine dramatische Vergangenheit. Carls größte Angst wird zur bitteren Wahrheit.....
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum14. Apr. 2021
ISBN9783347191211
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    Buchvorschau

    Fürchte Dich nicht, denn ich bin bei Dir - Anette Sobottka

    1

    Dr. jur. Sebastian Korschen lag in einem Liegestuhl auf seiner Terrasse und genoss die morgendliche Sonne. Es war Samstag und er hatte keinerlei Termine – weder bei Gericht noch in seiner Kanzlei. Er trug ein weißes Poloshirt und Bluejeans. Er nahm seine kleine, schwarz gefasste rechteckige Brille ab, platzierte sie auf seinem Kopf und schloss die Augen. Dabei ließ er seinen Gedanken freien Lauf. Hin und wieder strich er sich mit den Handflächen über das Gesicht, wippte mit den Zehen und gab ein behagliches Stöhnen von sich.

    Vor zwölf Jahren hatte sich Sebastian von seiner Frau Xenia scheiden lassen. Konstantin, ihr gemeinsamer Sohn, hatte damals gerade sein Abitur gemacht und war zum Medizinstudium nach Southampton gegangen. Es wäre wohl besser gewesen, wenn Sebastian auf seinen Vater gehört hätte, der ihm immer wieder gesagt hatte, dass Rechtsanwälte und Mediziner nicht zusammenpassen. Von Anfang an war er der Meinung, dass Xenia nicht die richtige Frau für ihn sei. Er hielt sie für kalt und berechnend. Schon bald musste Sebastian sich eingestehen, dass sein Vater recht hatte. Xenia war jähzornig und ihre Stimmung konnte von einer Sekunde auf die andere blitzartig umschlagen. Er hatte all die Jahre immer das Gefühl, dass sie eine schwere Last mit sich herumschleppte. Wenn er nachfragte, wurde sie regelrecht böse. Manchmal verschwand sie einfach für ein paar Tage - angeblich zu Fortbildungen.

    Inzwischen war sie seit elf Jahren mit Dr. Gabriel Eißbeil verheiratet. Der war, genau wie Xenia, Pathologe und Rechtsmediziner. Alle drei hatten sich damals an der Universität in Heidelberg kennengelernt. Gabriel war deutlich älter und zu der Zeit bereits Doktorand gewesen. Jetzt arbeiteten Gabriel und Xenia in der Pathologie am Klinikum in Kassel. Sie waren hauptsächlich für die Kripo-Kassel und Umgebung zuständig.

    Konstantin war ein Überflieger. Wie sein Großvater hatte auch er bereits in der Grundschule zwei Klassen übersprungen. Mit sechzehn hatte er das Abitur, in der Tasche, beendete sein Medizinstudium mit Auszeichnung und machte seinen Facharzt in Kassel und Bournemouth.

    Seit einem Jahr arbeitete er als angestellter Arzt in der Praxis seines Großvaters Dr. Franz Korschen in Freiburg und schrieb nebenher an seiner Doktorarbeit. Der Großvater hoffte, dass Konstantin die Praxis bald übernehmen würde, denn er wollte sich allmählich aus dem Berufsleben zurückziehen.

    Doch der Tod seines Freundes Jochen Häutlein hatte Konstantin total aus der Bahn geworfen. Jochen wurde vor zwei Jahren ermordet. Ein halbes Jahr zuvor war Jonathan Beisserle auf die gleiche Art und Weise umgebracht worden. Beide waren Countertenöre. Beide hatten zusätzlich den Abschluss Bachelor of Music im Bereich Holzblasinstrumente. Die Polizei stand vor einem Rätsel. Die Tat eines Psychopathen?

    Der einzige Mensch den Konstantin an sich heranließ, war sein Patenonkel Carl Bach. Carl war seit frühen Kindertagen mehr als nur Sebastians bester Freund. Er gehörte zu den Korschens wie ein zweiter Sohn. Für Xenia war das von Anfang an völlig undenkbar. Ihre Uneinsichtigkeit führte im Laufe der Jahre zu krankhaftem Hass auf die Familie Korschen, auf Carl, dessen Frau Jane und deren Vater Edward. Carl war Hauptkommissar bei der Kasseler Kriminalpolizei. Er und sein Team waren mit diesen Fällen vertraut.

    Carl … mein lieber, guter Freund. Wenn es doch Konstantin wieder besser gehen würde, dann könnte ich vielleicht nochmal eine Beziehung eingehen, die Hütte hier verscheuern, die Kanzlei nach Kassel verlegen und … Abrupt setzte sich Sebastian auf. Er hievte sich vom Liegestuhl hoch, klappte ihn zusammen und ging ins Haus. Er beschloss mit Carl nach Freiburg zu fahren, um seinen Sohn zu besuchen. Er musste ihn sehen.

    2

    Xenia stand auf dem Balkon. Sie wohnte seit ein paar Jahren mit Gabriel in einer Neubausiedlung am Park Schönfeld. Sie rauchte eine Zigarette, trank einen Cappuccino und lauschte der Musik, die aus der Nachbarwohnung drang. Dort sang Leon Bardolin zusammen mit seinem Sohn Friedemann aus der Motette „Jesu meine Freude" von Johann Sebastian Bach. Leon war Countertenor und Cellist. Sein Sohn eiferte ihm nach. Für den Jungen schien es nichts anderes zu geben als die Musik. Wenn er nicht sang, dann spielte er Cello. Immerhin war er in einem Fußballverein und hin und wieder sah man ihn auf dem Spielplatz hinter dem Haus.

    Gabriel hatte noch in der Pathologie zu tun. Es konnte lange dauern, bis er nach Hause kam, denn er wurde für die Untersuchung in einem Mordfall gebraucht. Miriam Orrh, eine Sängerin aus Ahnatal, war tags zuvor nicht zur Generalprobe für Bachs h-Moll-Messe in der Kreuzkirche erschienen. Da die Sängerin weder auf Anrufe noch auf Klingeln an der Tür reagierte, wurde die Wohnungstür aufgebrochen. Miriam Orrh lag leblos auf dem Fußboden ihres Arbeitszimmers. Vermutlich hatte sie sich auf die Probe vorbereiten wollen, denn direkt neben ihr lag ihre Partitur. In der linken Hand hielt sie eine Stimmgabel.

    Obwohl keinerlei Gewalteinwirkung zu erkennen war, bestand das Gericht auf diversen Gewebeuntersuchungen. Sie hatte wohl Alkoholprobleme, denn der Augenhintergrund war gelblich und die Leber geschwollen.

    Bei Durchsuchung ihrer Wohnung stieß die Spurensicherung auf zahlreiche Schnaps- und Weinflaschen sowie auf mit Weinbrand gefüllte Süßigkeiten. Laut Aussage der Nachbarn galt sie als Einzelgängerin. Sie lebte zurückgezogen und man sah sie selten in Begleitung anderer Menschen. Ein älterer, gut gekleideter Herr, wurde allerdings sehr häufig bei ihr gesehen.

    Xenia trat in ihre Wohnung zurück, stellte ihren leeren Becher in die Spülmaschine und begann das Abendessen vorzubereiten. Plötzlich klingelte es an der Tür. Da die Sprechanlage defekt war, schlenderte sie ins Gästezimmer, öffnete das Fenster und sah hinaus. Sebastian. Was wollte der denn jetzt noch hier?

    3

    Als Carl und sein Hund Curry nach Hause kamen, dämmerte es bereits. Carl hatte mit Curry einen langen Spaziergang gemacht und war anschließend noch an Janes Grab gewesen. Wenn Curry gewusst hätte, wie er zu seinem Namen gekommen war!

    Carl und Jane hatten Curry damals vom Züchter aus Fuldabrück-Bergshausen abgeholt. Sie hatten noch keinen Namen gefunden, und der kleine Welpe sah einem Golden Retriever gar nicht ähnlich mit seiner kleinen Schnauze, dem langen Schwanz und dem winzigen Körper. Die Proportionen passten nicht wirklich zusammen.

    Kurz bevor sie ihre Wohnung in Kassel-Nordshausen erreichten, musste Carl eine Vollbremsung hinlegen. Ein kleiner Junge war mit seinem Skateboard über die Fahrbahn gerast und gestürzt. Irgendetwas flog durch die Luft. Carl und Jane sprangen aus dem Wagen und eilten zu dem kleinen Kerl. Zum Glück hatte er sich nicht verletzt. Knie- und Ellenbogenschutz sowie ein gelber Helm hatten das Schlimmste verhindert. Er weinte dennoch und schien untröstlich zu sein – er hatte bei dem Sturz seine Currywurst verloren. Sie lag mitten auf der Korbacher Straße, das Brötchen hing an seiner Hose und der gelbe Curryketchup klebte beinahe überall an dem Jungen. Welch ein Kummer!

    Carl trug ihn von der Fahrbahn, setzte ihn auf den Bürgersteig und wischte ihm den Ketchup aus dem Gesicht und von den Händen. Der Kleine hieß Jan und war mit seinen Eltern ein paar Tage zuvor in den Bühlchenweg gezogen, gar nicht weit weg von der Korbacher Straße, in der Carl und Jane wohnten. Als der kleine Welpe Jan erblickte, kroch er aus dem Auto und tappte auf seinen kleinen Pfoten direkt auf ihn zu. Er wedelte mit dem Schwanz, leckte ihm über das Gesicht und knabberte mit seinen kleinen, spitzen Zähnchen an den Rollen des Skateboards herum.

    Bevor Jan nach Hause gefahren wurde, gingen sie in den Edeka-Markt an der Ecke Gänseweide. Dort gab es zwar keine Currywurst, aber jede Menge leckere Brötchen, Eis und Gummibärchen. Dieses Erlebnis kam Carl und Jane so nahe, dass sie den Welpen Curry nannten. Von nun an war Curry immer dabei, und nach Janes tragischem Tod durfte Carl ihn sogar mit auf das Revier nehmen. Er besuchte dort die Hundeschule.

    4

    Das Handy in seiner Jackentasche ignorierte Sebastian, während er die vielen Stufen im Treppenhaus hochlief. Xenia und Gabriel wohnten in der obersten Etage des fünfstöckigen Neubaus. Sebastian mochte keine Fahrstühle. Sobald sich dessen Türen schlossen, bekam er Platzangst.

    „Oh, welch seltener Gast! Was führt dich denn hierher?"

    Xenias Stimme hatte einen spottenden Unterton. Sie legte ihren Kopf in den Nacken und lachte. Er kam unpassend. Sie führte ihn in die große Wohnküche und bereitete für sie beide eine Apfelsaftschorle. Sebastian blickte sich um in der Hoffnung, Zeit herauszuschinden.

    Er sah sofort, dass sich Xenia kaum verändert hatte. Sie hatte noch immer die Vorliebe für kalte, klare Formen. Die schwarzen Seitenschals an den Fenstern, die grauen Sessel und die Glastische ließen den Raum nicht gerade einladend erscheinen. Zwei große Palmen standen in der Ecke. An den Wänden hingen zahlreiche selbst bemalte Leinwände, überwiegend in blau-grauem Farbton gehalten. Sebastian zog seine Brille ab, klemmte sich die Bügel zwischen die Lippen und trat näher an eines der Bilder heran. Mit viel Fantasie konnte er ein sinkendes Schiff erkennen. Er hielt sich das linke Auge zu und trat wieder einen Schritt zurück - es war zwecklos. Es war alles andere als ein Bild mit hellen, fröhlichen Farben. Nein, das brauchte Sebastian wirklich nicht, denn um ihn herum war alles schon traurig genug.

    Ein klackendes Geräusch holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Xenia hatte die Gläser auf einem Tisch abgestellt und saß bereits in einem der Sessel. Sebastian ließ sich in dem anderen Sessel nieder und nippte an seiner Schorle. Unruhig rutschte er hin und her und wusste nicht, womit er anfangen sollte. Xenia erkannte die Unentschlossenheit an seinem Gesichtsausdruck und genoss die prekäre Lage – wie immer. Sie spielte gerne mit Menschen.

    „Jetzt mach schon endlich hin, Sebastian. Du bist doch nicht nur deshalb gekommen, um mit mir eine Apfelsaftschorle zu trinken? Komm mir aber bitte nicht wieder mit den alten Kamellen von damals. Ich muss dir nicht alles anvertrauen, und das will ich auch nicht."

    Sebastian räusperte sich, leerte sein Glas und wollte gerade von seiner Sorge um Konstantin erzählen, da kam Gabriel nach Hause. Er trat freudestrahlend auf ihn zu und reichte ihm die Hand. Sebastian mochte Gabriel trotz allem, was geschehen war. Gabriel küsste Xenia zärtlich auf die Wange und streichelte ihr über den Rücken. Er setzte sich auf die Lehne ihres Sessels und trank von ihrer Apfelsaftschorle.

    „Na, mein Guter, bist du endlich fertig? Ich dachte schon, du nimmst Gesangsunterricht. Das wäre doch mal was. Stimmbildung bei einer Toten."

    „Du bist einfach nur peinlich, Xenia. Die Frau war keine dreißig. Sie hat sich buchstäblich zugrunde gerichtet. Tangiert dich das gar nicht? Du hast Frau Orrh auch zu Gesicht bekommen. Ist dir ihr körperlicher Zustand nicht aufgefallen? Sie war extrem schmächtig und … Entschuldigung, Sebastian. Ich weiß auch nicht, was das jetzt hier soll. Ich meine, da liegt eine Frau vor dir, die deine Tochter sein könnte!"

    „Ist schon gut, Gabriel. Ich fahre jetzt wohl besser nach Hause."

    „Bleib bitte zum Essen. Xenia kann uns ein Steak braten. Wir haben noch Rotwein, Salat und Baguette." Bei diesem Gedanken drehte sich Sebastian der Magen um. Xenia briet die Steaks meistens nur halb durch, und manchmal waren sie sogar blutig. Sebastian erinnerte das sofort an die Rechtsmedizin. Kalte Körper auf einem Metalltisch, schlabbriges Gewebe unter dem Mikroskop oder vielleicht sogar ein Stückchen von der Leber im Reagenzglas. Diese Gerüche und Geräusche!

    „Nein, danke. Sehr nett. Vielleicht ein anderes Mal. Ich muss noch in die Kanzlei."

    Hastig sprang er auf. Ohne sich zu verabschieden rannte er in den Flur, riss die Tür auf und lief, so schnell er konnte, die vielen Treppen hinunter, um diesem Henkersmahl in dieser Eishöhle zu entkommen.

    Das Treppenhaus war eine einzige Geräuschkulisse - und das am Samstagabend! Durch die geschlossene Wohnungstür hindurch konnte er deutlich hören, dass Gabriel und Xenia sich stritten. Ihr Gezeter wurde von Friedemanns hohes Knabenstimme übertönt, der wieder einmal sang. Eine Etage tiefer jaulte ein Staubsauger, Kinder kreischten und ein Baby greinte. Im Erdgeschoss bellte ein Hund, und von irgendwoher vernahm er ein Klopfen. Gerade rechtzeitig sah er einen Skooter im Eingangsbereich liegen, fast wäre er darüber gestürzt. Er hob ihn auf und lehnte ihn an die Hauswand. Vielleicht gehörte dieser Flitzer sogar dem kleinen Sänger von oben.

    Sebastians jämmerlicher Anblick erregte Mitleid. Das Haar stand ihm wild um den Kopf, der Schnürsenkel seines rechten Schuhs war offen, und er hatte Mühe, sich in der Dämmerung zu orientieren. Vor lauter Eile rannte er in die Steubenstraße, obwohl sein Auto in der Feerenstraße stand. Es war nicht sein Tag, und er hatte mehr und mehr das Gefühl, dass dies nicht mehr sein Leben war. Wie sehr er Konflikte zwischen sich und Xenia hasste. Anstelle diese anzugehen und vernünftig zu regeln, lief er davon.

    In solchen Situationen war er eben nicht Dr. jur. Sebastian Korschen, der aufrecht im Gerichtssaal stand und seine Plädoyers verlas. Er war ein Feigling und Duckmäuser.

    Sebastian fuhr die Ludwig-Mond-Straße hinunter und musste vor der großen Kreuzung stoppen. Die Ampel zeigte Rot. Vor ihm stand ein LKW, der Lebensmittel transportierte. Die ersten Buchstaben des Kennzeichens lauteten „BS für die Stadt Braunschweig. Aber angesichts der Situation bei Xenia und Gabriel, hätten diese Buchstaben für ihn für „Blutiges Steak stehen können.

    Sebastian glaubte, jetzt völlig den Verstand verloren zu haben. „Ich bin verrückt", rief er. Er trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad und lachte über sich selbst. Sollte er sicherheitshalber seinen Vater kontaktieren? Franz hat lange Zeit in einer Fachklinik für Psychiatrie gearbeitet. Vielleicht könnte er ihm dort einen Platz besorgen. Waren seine Hirngespinste etwa die ersten Anzeichen für geistige Verblödung? Sebastian wollte nur noch nach Hause.

    5

    Mmmh, wie das duftet. Ich konnte die kleinen Würstchen schon am Ortseingang riechen. Ich freue mich so, Sebastian."

    Carl ging in Sebastians Küche, öffnete die Pfanne, in der die kleinen Bratwürstchen brutzelten, und lugte sehnsüchtig hinein. Dann stellte er seine Mitbringsel auf der Arbeitsplatte ab und holte ein Holzbrett und ein Küchenmesser aus einem der Schränke. Während Sebastian die Brötchen aus dem Backofen nahm, schnitt Carl die Tomaten in Viertel, drapierte sie auf einem großen Teller und würzte sie mit Salz und Basilikum. Er schnitt den Mozzarella in feine Scheiben und legte sie zwischen die Tomaten.

    Curry hatte sein Leberwurstbrot verzehrt, rollte sich auf dem Sofa zusammen und beobachtete die beiden Freunde, wie sie nach und nach all die leckeren Dinge auf den Terrassentisch trugen und draußen Platz nahmen.

    „Carl, ich habe solche Sehnsucht nach dir und Curry gehabt. Danke, dass du mich gestern Abend seelisch und moralisch aufgebaut hast. Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, dass es bei Xenia und Gabriel zu keinem aufklärenden Gespräch gekommen ist. Konstantin ist zwar unser gemeinsamer Sohn, aber du hast vollkommen recht: Lass uns alleine nach Freiburg fahren. Ich rufe Franz heute noch an."

    „Basti, dafür bin ich da. Überleg' doch mal, wie lange wir schon zusammen sind – über fünfzig Jahre. Wir haben uns nie gestritten - das macht uns so schnell keiner nach."

    „Oh ja, das stimmt. Wir sind uns bis heute immer einig gewesen, Carl."

    Sebastian lachte und wischte sich den Ketchup ab, der gerade von seinem Würstchen herab auf sein Kinn tropfte. Auch Carl fing an zu lachen. Er nahm von dem Mozzarella und den Tomaten, legte sie auf ein Stück Baguette und kaute genussvoll.

    „Kannst du dich noch an unseren ersten Schultag erinnern? Da war doch ein kleines Mädchen, das keine Zuckertüte bekommen hatte, weil die Eltern kein Geld hatten."

    „Stimmt, Basti. Du hattest die Idee, dass wir uns eine Tüte gut und gerne teilen können. Du hast der Kleinen deine Tüte geschenkt."

    „Der Schulleiter, Basti! Weißt du noch, wie er uns bereits am ersten Tag auf frischer Tat ertappt und zu sich ins Büro geholt hat?"

    „Na, klar. Aber es war deine Idee, Carl. Du hast diese Plastiktüte mit Wasser gefüllt und ans Fenster des Sekretariats gefeuert."

    „Es war so peinlich, Basti. Franz und Christiane durften bereits einen Tag nach der Einschulung antanzen. Uns ist nichts passiert, Basti. Im Gegenteil. Franz hat gelacht. Allerdings waren unsere Schulbrote von diesem Tag an in einer Plastikbox."

    Das plötzliche Klingeln von Carls Handy zerriss die fröhliche Stimmung. Carl hatte Rufbereitschaft. Er hatte allerdings gehofft, dass es mal ein Wochenende ohne Reibereien geben würde. „Scheibenkleister", murmelte er und schob seine Weintraube mit der Zunge in die Backentasche.

    „Kommissar Bach? … Aha … Okay … Wie … Also war es ein Unfall oder nicht? Was? Auch das noch. Okay, dann bin ich gleich da. Es dauert etwa zwanzig Minuten. Ich bin bei Dr. Korschen. Ja, bis gleich. Ende Gelände."

    Carl verstaute das Handy, nahm seinen Platz wieder ein und schlang sein angebissenes Brötchen in sich hinein. Er trank noch schnell von dem Orangensaft, den Sebastian ihm reichte.

    „Ich muss los, Basti. So, wie es aussieht, haben wir ein Problem. Wieder ein mysteriöser Fall. Dieses Mal eine Sängerin. So etwa im Alter von Jochen und Jonathan. Sie wurde offenbar vor eine Straßenbahn gestoßen – sie behauptet jedenfalls, dass sie gestoßen wurde. Basti, wir haben es hier wahrscheinlich mit einem Irren zu tun, der es auf Sänger abgesehen hat. Alt-Solostimmen sind wohl seine Vorliebe. Die Tote aus Ahnatal fällt möglicherweise aus dem Raster, aber noch haben wir keine genauen Details. Wir warten auf die endgültigen Ergebnisse von Gabriel und Xenia. Ist schon merkwürdig … Jonathan Beisserle aus Kirchditmold, Jochen Häutlein aus Harleshausen. Mann o Mann. Ich fahr mal los, denn von Söhrewald-Wellerode bis zum Königsplatz ist es weit, wenn man es eilig hat. Darf Curry bei dir bleiben? Ich hole ihn nachher ab, ja?"

    Er schob sich ein Stück Käse und eine Olive in den Mund, verstaute einen Apfel und eine Banane in seiner Westentasche und flitzte zu seinem Wagen. Er setzte das Blaulicht aufs Dach und raste davon.

    Sebastian räumte den Tisch ab und machte anschließend mit Curry einen langen Spaziergang. Er hatte plötzlich Angst. Er geriet derart in Panik, dass er beschloss, seine Karten für das Weihnachtsoratorium bei E-Bay anzubieten. Ursprünglich hatte er mit Carl in dieses Konzert gehen wollen, aber in Anbetracht der toten Sänger hatte er dazu keinerlei Lust mehr. Anschließend rief er seinen Vater in Freiburg an, um sich mit Carl und Curry anzukündigen.

    6

    Als Carl auf dem Königsplatz eintraf, war das Opfer bereits im Klinikum. Die Leute redeten alle durcheinander. Doch bis auf die Angaben von Leander Siegesreich waren die Aussagen unbrauchbar. Mit ihm ging Carl in ein Café in der Königsgalerie und spendierte ihm einen Cappuccino.

    „Ich muss Sie bitten, mir noch einmal möglichst genau zu erzählen, was Sie beobachtet und getan haben. Was haben Sie denn so früh in der Stadt gemacht?"

    Carl wartete, bis Leander einen Schluck von seinem Cappuccino getrunken hatte. Er legte sein Notizbuch auf den Tisch und nickte dem jungen Mann aufmunternd zu.

    „Ich war in der Martinskirche in einem besonderen Gottesdienst. Die Kantorei hat gesungen; ich höre sie doch so gerne. Ähem … Etwa gegen zwölf Uhr bin ich dann in Richtung Königsplatz geschlendert."

    „Ist Ihnen etwas aufgefallen? Ein Hund, ein Auto oder komische Typen oder Gerüche?"

    „Nein, eigentlich nicht. Ich fand alles normal. Es roch nach Essen, die Menschen bummelten umher und ein paar Kinder tobten herum. An der Haltestelle standen viele Leute – auch diese Dame. Dabei ist mir aufgefallen, dass sie sehr nahe am Gleisbett stand – meiner Meinung nach ein bisschen zu nahe. Als die Bahn sich näherte, lief sie plötzlich los. Die Bahn klingelte wie wahnsinnig, aber die Dame konnte sie wohl nicht hören, weil sie Ohrstöpsel in den Ohren hatte. Sie sackte in die Knie und murmelte irgendetwas, was ich nicht verstanden habe. Ich sprang zu ihr, fasste sie von hinten und zog sie am Anorak hoch in der Hoffnung, einen schweren Sturz zu verhindern. Es war zu spät. Sie fiel nach vorne und schlug mit der Stirn auf. Ihre große, schwere Tasche glitt zu Boden und der Inhalt entleerte sich auf die Straßenbahnschienen: eine Flasche Wasser, ein Notenständer und ein schwarzes, breites Etui. Ich habe die Sachen eingesammelt und wieder in ihre Tasche gesteckt. Ihrem tragbaren CD-Player schien nichts passiert zu sein. Sie hatte ihn umhängen. Sie schrie mich an. Sie sagte, ich hätte sie geschubst. Das habe ich aber nicht."

    „Was geschah dann? Hat Ihnen jemand geholfen?"

    „Der Straßenbahnfahrer hat mir geholfen, die Dame zu beruhigen. Es war ziemlich schwierig, weil sie unzusammenhängende Worte von sich gab. Wir haben sie auf den Boden gesetzt. Der Straßenbahnfahrer hat eine Rettungsdecke geholt und der Dame umgehängt. Was hätte ich denn tun sollen? Die Leute standen nur da, glotzten blöd und haben dumme Kommentare abgegeben. Musikerin sei sie, das konnte ich aus dem Gestammel der Dame heraushören. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Ich war ein bisschen überfordert mit der Situation. Ich bin im Examensstress, wenn Sie verstehen was ich meine. Wenn ich mein Examen vergeige, kann ich meine Karriere als Rechtsanwalt vergessen. Meinem alten Vater würde ich das Herz brechen, denn er hofft, dass ich in seine Kanzlei mit einsteige. Könnten wir uns ein anderes Mal weiter unterhalten? Ich muss an meinen Schreibtisch. Bitte, Herr Bach."

    Leander wurde allmählich nervös; das war ein Zeichen dafür, dass Carl ein Ende finden musste. Er nahm die Personalien des jungen Studenten auf und verabschiedete sich.

    Auf dem Königsplatz war alles ruhig. Also nichts wie ab ins Klinikum.

    Mirko hatte bereits eine SMS geschickt. Als Carl dort eintraf, saß Mirko vor dem Zimmer des Unfallopfers.

    „Carl, hier stimmt was nicht. Die Dame redet wirres Zeug. Ihre Aussagen sind widersprüchlich. Dietlinde Zinnow heißt die Gute übrigens."

    „Mhm … Ich gehe mal zu ihr rein. Vielleicht habe ich ja mehr Glück. Warte hier, ja?"

    Dietlinde Zinnow steckte sich gerade die Stöpsel in die Ohren und verdrehte die Augen. „Wie denn, schon wieder Polizei? Ich brauche meine Ruhe und ich muss mich auf ein Konzert vorbereiten. Außerdem wird der Arzt gleich hier sein. Dann müssen Sie und Ihr ruppiger Kollege von vorhin sowieso das Terrain räumen. Wer sind Sie denn nun schon wieder?"

    „Ich bin Hauptkommissar Carl Bach. Wir wollen Ihnen helfen, den Unfallhergang so schnell wie möglich zu klären."

    „Meinetwegen. Aber fassen Sie sich kurz."

    Frau Zinnow warf ihre Partitur achtlos auf den Boden und legte ihren tragbaren CD-Player auf ihren Nachtschrank. Die Ohrstöpsel behielt sie in der rechten Hand und wedelte Carl damit vor der Nase herum.

    „Fangen Sie endlich an. Wollen Sie hier Wurzeln schlagen oder was? Verstehen Sie überhaupt etwas von Musik? Kennen Sie den Komponisten namens Bach? Er hatte viele Söhne, aber ich

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