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Sunny & Einauge: Eine Wolfsgeschichte
Sunny & Einauge: Eine Wolfsgeschichte
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eBook270 Seiten4 Stunden

Sunny & Einauge: Eine Wolfsgeschichte

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Über dieses E-Book

Rio und Lea schwimmen auf die andere Seite des großen Flusses (Oder) und beginnen dort ein neues Leben. Dort bekommen sie ihre ersten Welpen, zu denen auch die beiden Mädchen Sunny und Einauge gehören. Nach dem tragischen Tod von Lea und dem Verschwinden von Rio müssen sie die Rudelführung übernehmen und sich um die jüngeren Geschwister kümmern. Wie in jeder Familie gibt es auch hier immer wieder Streit, bis die Jungen nach und nach abwandern und die beiden Schwestern allein übrigbleiben. Als ein neuer Rüde hinzukommt und sich mit Einauge zusammentut, kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen. Sunny träumt von einem eigenen Rudel und lässt sich mit einem Hund ein, von dem sie Mischlingskinder bekommt, die sie allein großzuziehen versucht. Doch eins nach dem anderen stirbt. Die letzten verbliebenen werden plötzlich gemeinsam mit ihr verschleppt. Im Exil sterben auch sie. Sunny wird in ihren Wald zurückgebracht. Als ein neuer Wolfsmann auftaucht, kann sie endlich ihr eigenes Rudel gründen, ganz in der Nähe ihrer Schwester Einauge, denn die Bindung der beiden Schwestern ist nach wie vor stark.
Eine Geschichte über Wölfe, die das typische Wolfsverhalten adaptiert hat.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum9. Aug. 2019
ISBN9783965180291
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    Buchvorschau

    Sunny & Einauge - Marga Rodmann

    Es lockt das andere Ufer

    Rio folgt dem Duft des jungen Mädchens. Er hat sie schon oft beobachtet, während sie allein durch die Wälder streifte. Die unendlich wirkenden dunklen Wälder, in denen sie beide aufgewachsen sind. Das Mädchen ist eigenwillig. Sondert sich gern von ihrer Gruppe ab und macht ausgedehnte Streifzüge. Anscheinend will sie sich nicht unterordnen, kann sich aber auch noch nicht dazu durchringen, ganz abzuwandern.

    Seit langem zieht sie allein ihre Kreise. Und Rio ist ihr schon oft dabei gefolgt. Ebenso wie heute hält er meist etwas Abstand. Aber er beobachtet sie genau. Grazil und leichtfüßig setzt sie einen Fuß vor den anderen. Ihr Gang ist federnd. Unbeschwert. Ob sie von einem eigenen Rudel träumt? Rio wäre bereit gewesen, es mit ihr zu gründen. Er hat sich ihr sogar schon genähert. Ihr vorgeschlagen, gemeinsam abzuwandern. Sie hat ihn zurückgewiesen. Aber Rio ist geduldig.

    Diese graubraune schöne Wölfin ist noch sehr jung und hat noch nicht viel Erfahrung. Jagen kann sie bereits ausgezeichnet. Sie kann bestens für sich allein sorgen. Das ist Rio gleich aufgefallen.

    Und sie riecht so gut. Rio hätte ihr überall hin folgen können. Das tut er jetzt auch, während sie ihre Runde ausdehnt und sich immer weiter von ihrem elterlichen Rudel entfernt. Zweimal ist es bereits Nacht geworden, ohne dass sie zum Rudel zurückgekehrt ist. Rio spürt, dass etwas Besonderes in der Luft weht. Etwas ist anders als sonst. Das riecht er. Der Wald riecht anders. Fremder. Die Duftmarken der Rudel fehlen und auch sie riecht anders. Voller Anspannung. Seinen leeren Magen beachtet er nicht. So weit entfernt darf er sie auf keinen Fall verlieren. Die Nase dicht am Boden trabt er weiter und folgt ihrem Duft. Plötzlich taucht der große Fluss vor ihm auf. Dort verliert sich ihre Spur.

    Rio zittert leicht und blickt über die Wasseroberfläche, die sich im Wind kräuselt und leise gurgelt. Und dort sieht er sie. Er hat schon öfters davon gehört.

    Dass Wölfe, die ihren eigenen Weg suchen, hinübergeschwommen sind. Angeblich ist noch keiner zurückgekommen. Was sie da drüben erleben, darüber erzählen die Alten ganz unterschiedliche Geschichten.

    Manche behaupten, da drüben gäbe es unglaublich schmackhafte Reviere. Voller dummer Tiere, die zum Reißen bereitstehen. Es soll früher auch einmal Wolfsland gewesen sein und nun darauf warten, dass sie es wiederentdecken.

    Manche allerdings sagen, dort sei eine ganz grauenvolle Gegend. Voller Menschen, die die Wölfe unbedingt umbringen wollen, um sie loszuwerden. Die Menschen dort sollen angeblich viel größer, klüger und gefährlicher sein als die Menschen hier.

    In den heimischen Wäldern schießen sie auch. Rio muss auch hier auf der Hut sein. Aber in den dunklen Wäldern sind die Menschen relativ gemütlich und interessieren sich im Allgemeinen nicht so sehr für ihre Nachbarn im Wald.

    Nun schwimmt sie also hinüber. Seine Traumwölfin. Auch sie würde nicht mehr zurückkommen. Niemand kommt von drüben zurück. Wenn er ihr jetzt nicht folgt, würde er sie für immer verlieren. Wenn er ihr folgt, würde auch er nicht zurückkommen. Auch er hätte somit sein Rudel verlassen. Er läuft ein paar Schritte hin und her. Unschlüssig. Seine Füße treten die feuchte Erde platt, so dass sich unter ihnen eine Pfütze bildet und die Krallen im Schlamm versinken. Sie ist schon in der Mitte des Flusses. Wird ein wenig von der Strömung abgetrieben. Aber sie hält zielstrebig auf das andere Ufer zu. Sie ist entschlossen. Rio leckt unentschlossen über seine Brust und betrachtet die Schlammkuhle, in der er steht. Er denkt an seine Eltern und an seine jüngeren Geschwister, die noch bei den Eltern leben. Aus seinem Wurf ist er der letzte. Rio schüttelt sich, als wolle er alle Zweifel aus seinem Fell schleudern. Dann springt er ins Wasser und schwimmt.

    Mit strampelnden Füßen und auf dem Wasser liegenden Schwanz steuert er auf die Mitte des Flusses zu. Den Blick auf sie gerichtet. Und auf das andere Ufer.

    Rio strampelt und strampelt. Fest davon überzeugt, sie auf der anderen Seite erobern zu können. Es ist anstrengend. Der Fluss ist breiter, als er vermutet hat. Es erscheint ihm wie eine Ewigkeit, bis das andere Ufer tatsächlich größer wird und er alle Details der Böschung erkennen kann.

    Sie hat er doch noch aus den Augen verloren. Sie muss drüben angekommen und an der Uferböschung emporgeklettert sein, als ihn ein Wirbel erwischt und er sich ganz auf das Wasser konzentriert hat. Außerdem muss er aufpassen, dass er nicht zu weit abgetrieben wird, damit er drüben ihre Fährte wieder aufnehmen kann. Sie würde sicherlich nicht auf ihn warten. So sind Frauen leider nicht. Er muss ihr so lange hinterherrennen, bis sie ihn erhört.

    Endlich, nach einer endlos scheinenden Zeit, hat er es geschafft. Seine strampelnden Beine berühren etwas und seine Pfoten ertasten den schlammigen Untergrund. Kurz darauf kann er stehen – wenn auch nur mühsam, da er immer wieder in dem weichen Boden einsinkt. Aber er hat das andere Ufer erreicht. Er hechelt laut und zieht sich die steile Böschung hinauf. Die lockeren Steine, gemischt mit Schlamm und Erde, rutschen unter ihm weg und ziehen ihn immer wieder nach unten. Schließlich bekommt er mit den Pfoten ein paar Wurzeln zu fassen und schafft es auf den ebenen, grasbewachsenen Boden oberhalb der Böschung.

    Rio schüttelt sich kräftig, so dass tausende von Wassertropfen in alle Richtungen aus seinem Fell springen. Daraufhin bleibt er reglos stehen. Seine Nase in die Luft gereckt, versucht er, alle Düfte, die er wahrnimmt, einzuordnen. Die meisten davon, wie Erde, Pilze oder Wildschwein, sind ihm bekannt. Ihrer ist nicht dabei. Sie muss an einer anderen Stelle aus dem Wasser gekommen sein. Doch wo? Weiter oben oder weiter unten?

    Rio dreht sich um und blickt auf die Böschung und auf das alte Ufer. Das, von dem er gekommen ist. Er erkennt die Stelle, an der er losgeschwommen ist. Sie ist schräg gegenüber. Rio betrachtet den Fluss und die darauf treibenden Hölzer eine Weile. Dann ist er sich sicher, dass es ihn weniger stark abgetrieben hat als sie, da er größer und kräftiger ist. Also wendet er sich flussabwärts, die Nase dicht am Boden.

    Es gibt viele interessante Gerüche, von denen er sich normalerweise liebend gern hätte ablenken lassen. Doch jetzt gibt es etwas Wichtigeres. Hier in diesem unbekannten Gebiet will er ihre Fährte so schnell wie möglich wieder aufnehmen. Nicht zu viel Fremdes zwischen sich und seine Traumwölfin kommen lassen.

    Da. Endlich. Ganz schwach riecht Rio sie. Hier in der Nähe muss ihre Spur sein. Wie wild rennt er hin und her und versucht, die richtige Stelle zu finden, an der der Duft am stärksten ist. Rio schnuppert immer hastiger umher und wedelt immer heftiger mit dem Schwanz. Er fühlt sich seinem Ziel ganz nah. Kann es kaum erwarten, loszurennen.

    Als er ein lautes Knallen hört, schreckt er zusammen. Er kennt dieses unangenehme Geräusch. Es kommt von den Menschen mit ihren Knallstöcken. Auch wenn er so etwas noch nie gesehen hat, gehört hat er so einen Knall auch im dunklen Wald schon oft. Sollten die Erzählungen stimmen, von den besonders bösen Menschen in diesem Land? Ein erneuter Knall. Diesmal näher. Es tut seinen Ohren weh. Rio hört auf zu denken und rennt riechlings davon. Er achtet nicht mehr auf die Spur seiner auserkorenen Wölfin. Er läuft einfach hinein in den Wald. Irgendwo, mitten im dichtesten Dickicht, hält er inne und hechelt lautlos vor sich hin.

    Bewegungslos steht er da und lauscht. Er hört nichts. Zumindest nichts, was in einem Wald nicht immer zu hören ist. Dafür riecht er etwas Wunderbares. Es riecht nach Wolf. Enttäuscht erschnuppert er allerdings, dass es nicht ihr Duft ist. Auch wenn es eindeutig ein Wolf ist.

    Langsam schleicht er in die Richtung, aus der ihm der wohltuende Duft entgegen strömt. Mit jedem Schritt wird er intensiver. Doch dann mischt sich ein unguter Geruch hinzu. Der Gestank nach Menschen. Und etwas Weiteres, das nicht in die Welt des Waldes gehört, das Rio aber nicht einordnen kann. Es riecht zwar ganz anders, aber ebenso unangenehm, wie der Mensch.

    Vorsichtig schleicht er weiter. Nun gefällt ihm auch der Wolfsgeruch nicht mehr. Denn es riecht nach totem Wolf. Sein Herz poltert unter seinem Fell. In dem Moment ist er heilfroh, dass es nicht ihr Geruch ist. Er schleicht noch näher heran. Und nun kann er das Gerochene auch sehen. Der Wolf liegt am Boden, ein blutiges Rinnsal fließt an seiner Flanke entlang in den Waldboden. Ein Mann, blattfarben eingehüllt, steht daneben. Er sieht unbeholfen aus.

    Sein Gesichtsausdruck und der Knallstock in seiner Hand machen allerdings einen anderen Eindruck. Beides kommt Rio böse und bedrohlich vor.

    Und von dem Knallstock geht dieser unangenehme Geruch aus, den er zuvor noch nicht zuordnen konnte. Jetzt wird Rio diesen nicht mehr vergessen.

    Rio weiß nicht, was er tun soll. Er verharrt in seinem Versteck, in der Hoffnung, nicht entdeckt zu werden. Sonst würde er sicherlich auch getötet werden. Das hat er bereits von seinen Eltern gelernt. Doch er erinnert sich auch daran, dass Menschen nicht riechen können. Oder zumindest nur sehr sehr schlecht. Auch hören können sie nicht gut. Also legt Rio sich flach auf den Boden und wartet.

    Der Mensch fummelt an sich herum und hebt anschließend den männlichen Jährling, der noch nicht sehr schwer ist, auf seine Schulter und stapft mit donnernden Schritten davon. Rio folgt ihm mit den Augen, soweit es ohne große Bewegungen möglich ist.

    Wie laut dieser Mensch doch ist. Und wie unbeholfen er wirkt. Kaum zu glauben, dass er trotzdem so gefährlich sein kann. Aber ohne seinen lauten Knallstock wäre er das wohl nicht.

    Dann könnte man ihn leicht erlegen. Aber was dann? Als Nahrung würde er sich nicht eignen. Menschen stinken so fürchterlich, dass Rio schon bei dem Gedanken, ein Stück Fleisch aus einem von ihnen herauszureißen, schlecht wird.

    Mittlerweile ist dieser Mensch aus seiner Nähe verschwunden. Auch der Geruch nimmt mehr und mehr ab. Und der Freude darüber, dass es nicht sie war, die der Mensch da weggeschleppt hat, folgt Traurigkeit, weil er ihre Spur verloren hat. Er sollte wieder zurück zum Fluss, damit er ihre Fährte erneut aufnehmen kann. Zwischenzeitlich ist sie vielleicht schon unendlich weit entfernt. Schließlich hat sie kein Rudel in der Nähe. Kein Territorium, in das sie zurückkehren würde und Niemanden, auf den sie Rücksicht nehmen muss.

    Sie ist auf der Durchreise. Auf der Suche nach einer neuen Heimat. Wie sie machen es viele Wölfe. Wenn sie den Drang verspüren, eine eigene Familie zu gründen, verlassen sie ihr Rudel. Denn ihre Eltern würden es ihnen nicht erlauben, in ihrem Territorium eine eigene Familie zu gründen. Das dürfen nur sie, die Leitwölfe.

    Wer sonst noch einen Partner und Kinder haben möchte, muss gehen und sich ein eigenes Revier suchen.

    Daher gehen auch einige hierher. In das unbekannte Land auf der anderen Seite des Flusses. Denn hier gibt es anscheinend noch nicht viele Rudel oder kaum Rudel mehr und somit auch genügend Platz, um mit Niemandem um ein Territorium kämpfen zu müssen. Im Gebiet seiner alten Heimat gibt es zwar auch nicht viele Rudel und noch genügend Platz. Aber dennoch mussten sie des Öfteren um die leckerste Beute streiten, da es davon nicht immer genügend gab.

    Im Moment beschäftigt sich Rio allerdings nicht damit. Er hat noch nicht nach großer Beute Ausschau gehalten. Der Schreck, ausgelöst von dem lauten Knall und dem toten Wolf, sitzt ihm immer noch in den Knochen. Außerdem ist er ja auf der Suche nach seiner Auserwählten. Und das ist ihm im Moment wichtiger als Beute.

    Rio hebt die Nase in die Luft und schnuppert. Es riecht nach den Düften des Waldes. Harmlose Bäume und Sträucher, Pilze und viele Tiere verteilen ihre Gerüche. Mäuse, Rehe, Hirsche und Wildschweine nimmt Rio wahr. Die müssen natürlich nicht alle in der Nähe sein, um gerochen zu werden. Rio hat schließlich eine Wolfsnase und die ist sehr fein und kann Gerüche auch noch wahrnehmen, wenn die dazugehörigen Tiere schon längst woanders sind. Und er kann stärkere Gerüche, wie die von Wildschweinen oder Menschen, über weite Strecken erschnuppern, wenn er aufmerksam ist. Als Welpe musste er das erst trainieren und war manchmal überrascht über die Fähigkeiten der Alttiere. Jetzt ist Rio eher erstaunt darüber, dass er über all das nachdenkt, obwohl es mittlerweile so normal für ihn ist. Jeder Wolf kann das, wenn er noch nicht zu alt geworden ist. Hier sind die Gerüche zwar ähnlich wie in seiner alten Heimat, aber doch anders. Rio muss sich erst wieder eine neue Geruchskarte in seinem Kopf erstellen.

    Es dämmert bereits. Rio weiß nicht so recht, was er machen soll. Hätte er ihren Duft in die Nase bekommen, wäre er auch die ganze Nacht durchgelaufen. Nur um sie wieder zu finden. Wölfe sind gerne in der Nacht unterwegs. Doch er riecht nichts von ihr. So sehr er sich auch anstrengt und die Nase in die Luft hält. Da er nicht ewig so stehen bleiben kann, überlegt er, wohin er sich wenden soll, wenn er ihre Spur nicht wiederfindet. Wenn er in die falsche Richtung laufen würde, würde er sich noch weiter von ihr entfernen. Dann würde er sie vielleicht niemals wiederfinden.

    Nein. So etwas darf er nicht denken. Er muss sie wiederfinden. Er fühlt sich, als hinge sein Leben davon ab.

    Sein Magen meldet sich, als er ein Rascheln im Gebüsch neben sich hört. Das lenkt ihn ab. Er konzentriert sich darauf. Es riecht nach Maus. Einem kleinen Häppchen. Immerhin. Mit angespannten Muskeln und gesenktem Kopf fixiert er das Gebüsch. Als die Maus ihre Nase hervorstreckt, springt er ruckartig vor und schnappt nach ihrem Kopf.

    Die Maus wirkt so überrascht, dass sie nicht einmal mehr versucht, wegzurennen. Rio fasst noch einmal nach und mit einem kleinen Rülpser ist sie auch schon in seinem Bauch verschwunden.

    Da Rio immer noch nicht weiß, welche Richtung er einschlagen soll, drängt er sich in das Gebüsch, aus dem die Maus gekommen ist. Er rollt sich zu zusammen, schließt die Augen und döst vor sich hin. Vielleicht bringt die Nacht eine neue Idee. Eine neue Möglichkeit, die ihm weiterhelfen kann.

    Zunächst träumt er von Mäusen, die um ihn herum wuseln. Dann träumt er von seiner Traumwölfin und davon, dass sie sich bald wiedersehen werden.

    Mit neuer Zuversicht wacht er auf, als die Schwärze der Nacht um ihn herum in sanftes Grau übergeht und die Konturen der Umgebung deutlicher werden lässt.

    Aus einem Impuls heraus, den die Nacht ihm zugeflüstert hat, wendet er sich in die entgegengesetzte Richtung des aufgehenden Lichtballs.

    Die Richtung, die ihn weiter weg von seiner alten Heimat bringt und weiter weg vom großen Fluss. Immer wieder bleibt er stehen und schnuppert in die Luft. Immer wieder riecht er dasselbe. Reh, Hirsch, Maus und Wildschwein. Und er nimmt den typischen Duft des Waldes wahr, der aus einer Mischung von Erde, Pilzen und Pflanzen besteht. Darüber hinaus riecht er nichts. Kein ungewöhnlicher Geruch. Und schon gar keinen nach Wolf, abgesehen von seinem eigenen.

    Er ist schon lange unterwegs, als er auf eine Lichtung hinaustritt. Dort legt er sich nieder, bettet seine Schnauze auf seine Vorderpfoten und klopft mit seinem Schwanz auf den Boden. Er wird wieder traurig. Die Zuversicht des Morgens beginnt hinter dem Horizont zu versinken, wie die Sonne, die bereits lange Schatten um ihn herum entstehen lässt. Nochmal schnuppert er in die Luft und saugt diese lange und ausgiebig ein. Da ist etwas. Ein wunderbarer Duft. Rio springt auf und wedelt kräftig mit seinem Schwanz.

    Erneut hat sich ein vertrauter Geruch zwischen all die anderen gemischt. Der Geruch nach Wolf. Rios Herz schlägt wild an sein Fell. Es ist ihr Duft. Sie muss in der Nähe sein. Zum Glück gibt es diesmal keinen Knall und es riecht nach gesunder lebendiger Wölfin. Rio stürzt dem Duft entgegen. Er springt über Wurzeln, schlängelt sich um zahlreiche Bäume herum und ab und zu drängt er sich mitten durchs Gebüsch. Der Duft wird stärker. Berauscht ihn regelrecht, als wäre er auf der Jagd.

    Da ist sie. Schlank und grazil steht sie da und blickt in seine Richtung. Hat sie ihn schon länger bemerkt? Erwartet sie ihn etwa?

    Jedenfalls blickt sie reglos in seine Richtung, bis er direkt vor ihr ist. Sie stehen sich gegenüber. Schnauze an Schnauze. Beschnuppern sich vorsichtig. Die Flanken angespannt. Auch sie scheint froh darüber zu sein, ihn zu sehen. Er ist sich allerdings nicht sicher, ob sie sich einfach über ein vertrautes Wesen aus ihrer Heimat freut oder ob da mehr ist.

    Die Jahreszeit ist günstig. Nicht mehr lange, und die Tage würden kürzer werden und die Nächte kälter. In dieser Zeit werden die Wölfinnen anhänglicher. Freuen sich mehr über die Annäherungsversuche der Männer und schließen Freundschaften, die ein Leben lang halten. Vielleicht würde auch er jetzt die Chance seines Lebens bekommen.

    Sie heißt Lea. Und sie ist tatsächlich froh, dass er ihr gefolgt ist. Sie hat sich immer wieder heimlich nach ihm umgesehen und in der letzten Nacht hat sie extra lange Pause gemacht, um auf ihn zu warten. Abgewiesen hat sie ihn zuvor nur, weil sie bereits den Entschluss gefasst hatte, über den Fluss zu schwimmen. Dadurch ist ihr in dem Moment nicht nach einer Bindung zumute gewesen. Sie wollte nicht riskieren, dass er versuchen würde, sie von ihrer Idee abzuhalten. Da er aber mit hinübergekommen ist, möchte sie ihren weiteren Weg nun mit ihm zusammen gehen.

    Rio ist außer sich vor Freude, als er das hört. Er tollt um sie herum wie ein kleiner Welpe, beißt sie freundschaftlich in Hals und Ohren und fängt an zu heulen. Sie stimmt mit ein in das Geheul. Es klingt gut. Sie gehören nun zusammen.

    Nach diesem Ritual ziehen sie weiter. Weiter weg vom großen Fluss und weiter lichtwärts. Durch den Wald, über einige Wiesen und über Bäche. Als es richtig dunkel geworden ist, schleichen sie an menschlichen Behausungen vorbei und überqueren die grauen Bänder, auf denen sich die Menschen gerne bewegen. Oft haben sie die Rennhilfen beobachtet, mit denen sie unterwegs sind. Darin sind sie schnell. Ansonsten bewegen sie sich eher wie ein altersschwacher Hirsch.

    Hinter dem langen Streifen aus Behausungen, den sie ganz vorsichtig durchqueren, tauchen sie wieder ein in die angenehmere Landschaft. Bald fällt ihnen auf, dass sie in ein großes Gebiet gelangt sind, in dem es kaum menschliche Behausungen zu geben scheint. Die Umgebung wechselt sich ab zwischen hellen Wäldern, Wiesen und kahlen sandigen Bereichen.

    Der Boden ist weich, überall gibt es Möglichkeiten, sich zu verstecken und es riecht nach Wild. Dem Duft nach zu urteilen, laufen Rehe und Hirsche hier in Massen herum. Auch Wildschweine scheint es viele zu geben. Und die Wiesen und Sandflächen bieten ein ideales Gelände für Kleinbeute wie Mäuse und Kaninchen, die ein guter Happen für zwischendurch sind.

    Ab und zu schnappen sie sich eines der Mäuschen auf ihrem Weg in eine neue Zukunft. Da sie auf der Durchreise sind, ist es das Einfachste. Die können sie einfach im Ganzen verschlingen. Rio überschlägt sich vor Freude, endlich den Weg gemeinsam mit Lea fortzusetzen, anstatt ihr immerzu hinterher rennen zu müssen.

    Nachdem sie lange und weit gelaufen sind, bleibt Lea unvermittelt stehen und knufft ihn in den Hals. Sie will nicht länger auf der Durchreise sein, vermittelt sie Rio. Sie will ankommen. Rio versteht das. Ihm geht es genauso. Daher beschließen sie, eine Weile in dem Gebiet zu verweilen, in dem sie gerade sind. Irgendwie gefällt es ihnen sogar recht gut.

    Auch wenn der Wald nicht so dicht und dunkel ist, wie sie es aus ihrer alten Heimat kennen und lieben.

    Sie haben genug von Mäusen. Rio will endlich seine erste große Jagd starten. Er will eine richtige Herausforderung. Ein Blick auf Lea verrät ihm, dass es ihr genauso geht. Er will erneut diesen wunderbaren Rausch erleben, den er aus seinem alten Rudel kennt. Er liebt das.

    Wieder blickt er zu Lea hinüber, die neben ihm durch den lichten Birkenwald trabt. Sie hat bereits Witterung aufgenommen. Auch er nimmt den verheißungsvollen Duft wahr. Es riecht nach einer Hirschherde, in der sich eine alte Hirschkuh befindet. Genau das Richtige zum Jagen. Rio beschleunigt seine Schritte. Gemeinsam folgen sie dem verlockenden Duft und gelangen an eine Lichtung.

    Dort sehen sie die ausgewählte Beute, inmitten der anderen Hirsche, die sie bereits erschnuppert haben. Sie stehen verteilt auf der Wiese und grasen. Dennoch sind sie nicht weit voneinander entfernt.

    Die alte Kuh, die sie ins Visier genommen haben, steht mitten drin. Als sie ein paar Schritte weiter geht, und mit ihrer Zunge nach einem üppigen Grasbüschel angelt, sieht Rio, dass sie lahmt. Perfekt. Auch Lea ist dies nicht entgangen und sie leckt sich bereits über ihre Schnauze. Mit gespannten Muskeln stehen sie dicht beieinander im Schutz einiger Büsche und betrachten die Bewegungen der Herde. Voller Vorfreude streckt Rio seine Nase in die Luft und leckt Lea über das Gesicht. Sie schubst ihn zur Seite. Ganz konzentriert auf die Herde vor ihnen.

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