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INSEL DER PUPPEN (Die beängstigendsten Orte der Welt 4): Horrorthriller
INSEL DER PUPPEN (Die beängstigendsten Orte der Welt 4): Horrorthriller
INSEL DER PUPPEN (Die beängstigendsten Orte der Welt 4): Horrorthriller
eBook404 Seiten6 Stunden

INSEL DER PUPPEN (Die beängstigendsten Orte der Welt 4): Horrorthriller

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Über dieses E-Book

Weit im Süden der heutigen Mexiko-Stadt, in einem Gebiet aus unzähligen Wasseradern und Inseln, liegt die Isla de las Muñecas – ein kleines Stück Land, in dessen Bäumen hunderte verstümmelter Spielzeugpuppen hängen …
Ein Team junger Dokumentarfilmer wird während ihrer Dreharbeiten auf der Insel Zeuge eines brutalen Mordes. Schnell sorgen Angst und Paranoia dafür, dass sich die jungen Leute gegeneinander wenden - und das, obwohl sie in der vielleicht längsten Nacht ihres Lebens von einem unbekannten Killer gejagt werden …
In seiner Romanreihe »Die beängstigendsten Orte der Welt« entführt Jeremy Bates seine Leser an real existierende verfluchte, beängstigende oder berühmt-berüchtigte Schauplätze auf der ganzen Welt, und verbindet den Mythos dieser Orte geschickt mit fiktiven Begebenheiten. Und gerade dieser Bezug zu realen Orten, die der interessierte Leser nach der Lektüre im Prinzip vor Ort selbst erforschen kann, macht diese Romane zu einem Wagnis – oder einem besonderen Vergnügen. Lesen als Grenzerfahrung.
SpracheDeutsch
HerausgeberLuzifer-Verlag
Erscheinungsdatum21. Juli 2023
ISBN9783958357624
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    Buchvorschau

    INSEL DER PUPPEN (Die beängstigendsten Orte der Welt 4) - Jeremy Bates

    Prolog

    Der Ochsenfrosch saß auf einem großen, grünen Seerosenblatt in der Mitte eines faulig riechenden Tümpels. Seine Kehle blähte sich wie Ballon auf, als er einen rostig klingenden, krächzenden Laut von sich gab.

    Die acht Jahre alte Rosa Sánchez machte einen weiteren vorsichtigen Schritt auf ihn zu, dann noch einen, wobei sie sich bemühte, das trübe Wasser nicht aufzustören. Sie hatte ihren Sandalen ausgezogen, und der Schlamm am Grund des Tümpels quetschte sich zwischen ihre Zehen, was sich gleichzeitig gut und ekelhaft anfühlte.

    Der Frosch verschob seinen dicken Körper auf dem Seerosenblatt, sodass er sie jetzt direkt anzustarren schien, seine hervorstehenden Augen glänzten.

    Rosa erstarrte mit einem Fuß in der Luft, wie ein Storch.

    Der Ochsenfrosch quakte.

    »Sieh weg, Frosch«, murmelte Rosa auf Spanisch. »Sieh weg.«

    Er tat es nicht und Rosa, die fürchtete, sie könnte umfallen, ihre Sachen nass und schmutzig machen, setzte ihren vorderen Fuß ab. Etwas Scharfes – ein Stein oder ein spitzes Aststück – stach in die Unterseite ihrer Ferse. Sie ignorierte den Schmerz und behielt den Ochsenfrosch im Blick.

    Er starrte weiterhin ohne zu blinzeln zurück. Die Luft wich aus seinem Kehlsack, und der Ochsenfrosch schrumpfte fast um die Hälfte. Trotzdem war er immer noch ein großer Kerl. Und er war so nah …

    Rosa machte einen weiteren Schritt und dachte, dass sie ihn jetzt vielleicht fangen könnte, wenn sie schnell genug wäre. Sie streckte die Arme vor sich aus und beugte sich langsam vor.

    Der Ochsenfrosch sprang. Rosas Hände schlossen sich um seine glitschigen Seiten. Doch sie war zu langsam. Er platschte ins Wasser und verschwand.

    Rosas Schwung trieb sie jedoch weiter vorwärts. Ein, zwei unkoordinierte Schritte, dann stürzte sie kopfüber ins Wasser. Sie kniff die Augen zu, vergaß aber, den Mund zu schließen, und schluckte eine Menge Wasser, das wie Jauche schmeckte. Ihre Hände versanken in dem schlammigen Grund des Teichs, dann ihre Knie, aber es gelang ihr, den Rücken durchzudrücken, sodass ihr Kopf nicht völlig versank.

    Sie gab einen Laut von sich, als würde sie weinen, obwohl sie gar nicht weinte. Sie war acht Jahre alt, ein großes Mädchen, und große Mädchen weinten nicht, wenn sie ins Wasser fielen. Allerdings wollte sie es. Sie war durchnässt, hatte einen ekligen Geschmack im Mund und kam nicht wieder auf die Füße. Der Schlamm, der an ihren Händen und Knien saugte, war zu glitschig.

    Jetzt verschwand ihr Kopf doch unter der Oberfläche. Wasser lief in ihre Ohren und die Nase, aber zumindest ließ sie dieses Mal den Mund geschlossen. Als sie wieder durch die Oberfläche brach, kroch sie stöhnend auf das Ufer zu und griff nach allen hohen Gräsern und Wurzeln, nach allem, was sie zu fassen bekam, bis sie wieder auf trockenem Boden war. Rosa drehte sich auf den Bauch, in ihren Augen brannten Tränen. Dann setzte sie sich auf. Ihre Sachen klebten unangenehm an ihrem Körper. Und sie roch wie eine Toilette. Schlimmer als eine Toilette. Es erinnerte sie an den Geruch, als ihr älterer Bruder Miguel die tote Ratte in der Wand ihres Hauses gefunden und Rosa gesagt hatte, sie solle sie nach draußen bringen.

    Miguel. Er würde sie umbringen. Er war schon wütend auf sie, weil sie zu langsam gegangen war, als sie auf die Insel kamen und nach einem Platz zum Campen suchten. Dann wurde er sogar noch wütender, weil er seine Freundin küssen wollte, es aber nicht tun konnte, wenn Rosa in der Nähe war. Darum hatte er Rosa gesagt, sie solle irgendwohin gehen und etwas machen. Rosa wollte zuerst nicht. Die Insel jagte ihr Angst ein, weil überall Puppen in den Bäumen hingen oder auf dem Boden saßen. Sie starrten sie mit ihren angemalten Gesichtern und den Glasaugen an. Allerdings sagte man nicht Nein zu Miguel, außer man wollte eine Kopfnuss bekommen. Also ging Rosa los, allerdings hatte sie nicht vorgehabt, so weit zu gehen. Und dann sah sie den Teich. Zuerst wollte sie ein bisschen im Wasser herumplanschen. Sie hatte nicht gewusst, dass es hier Ochsenfrösche gab. Doch es gab sie hier, sogar überall. Sie entdeckte auf Anhieb drei. Anfangs war sie allerdings nicht vorsichtig, und sie sprangen alle von ihren Seerosenblättern und verschwanden unter Wasser, bevor sie dicht genug herankam, um einen zu fangen. Es dauerte weitere fünfzehn Minuten, bis sie diesen großen, dicken Frosch fand.

    Und jetzt war er auch weg, und sie war klatschnass, und Miguel würde sie beschimpfen und sie auf den Kopf schlagen.

    Ein Schrei durchbrach die Stille.

    Rosa riss den Kopf herum.

    Das war die Freundin ihres Bruders, Lucinda, gewesen.

    War Miguel hinter irgendetwas hervorgesprungen und hatte sie erschreckt, wie er es so gern bei Rosa machte? Oder war eine in den Bäumen hängende Puppen lebendig geworden und hatte sie angegriffen? Das hatte Miguel Rosa immer wieder gesagt: Die Puppen waren lebendig, sie schliefen nur. Und wenn man sie ansah, dann würden sie …

    Ein weiterer Schrei.

    Nicht Lucinda. Es war eine tiefere Stimme, männlich.

    Miguel?

    Rosa wusste es nicht, denn sie hatte ihren Bruder noch nie schreien hören, zumindest schon seit Jahren nicht weit. Miguel hatte vor nichts Angst.

    Rosa stand auf, ihre klatschnassen Sachen waren vergessen.

    Ihr Blick glitt suchend über die Bäume vor ihr, sie hielt nach Bewegung Ausschau, nach Miguel, der sich hinter Sträuchern verborgen anschlich. Denn genau darum ging es hier, oder nicht? Ein Scherz, nicht auf Lucindas Kosten, sondern auf Rosas. Miguel hatte Lucinda dazu gebracht, zu schreien. Dann hatte Miguel auch geschrien. Und sobald Rosa kommen würde, um nachzusehen, würden sie irgendwo hervorspringen und sie erschrecken.

    Rosa wartete. Der Wald war still. Kein Wind. Keine Grillen. Nichts.

    »Miguel?«, sagte sie.

    Keine Antwort.

    Rosa hob ihre Sandalen auf und ging den Weg zurück, den sie gekommen war, auf den Ursprung der Schreie zu. Sie wusste, dass Miguel ihr auflauern würde, aber das war okay, denn es würde sie nur für eine Sekunde erschrecken, danach würden alle lachen. Und das wäre besser als das Gefühl, das Rosa im Moment hatte. Ihr war übel, so als würde sie sich gleich übergeben müssen.

    Rosa verließ die Lichtung mit dem Teich. Die Bäume schlossen sich eng um sie. Sie musste sich unter Zweigen ducken und aufpassen, wohin sie trat. Der Spätnachmittag erschien ihr plötzlich dunkel. Sie erinnerte sich nicht daran, dass es vorhin so dunkel gewesen war. Lag es daran, dass wegen der Äste die Sonne und der Himmel nicht zu sehen waren? Oder hatte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben?

    »Miguel?«, sagte sie, dieses Mal allerdings nicht besonders laut.

    Denn was war, wenn etwas anderes sie hörte?

    Was denn zum Beispiel?

    Die Puppen?

    Sie konnten ihr nichts antun. Es waren nur Puppen. Selbst wenn sie zum Leben erwachten, war sie viel größer als sie.

    Aber sie haben Miguel und Lucinda erwischt.

    Nein, das hatten sie nicht! Das sagte sich Rosa jedenfalls streng. Miguel alberte herum. Er würde jetzt jede Sekunde irgendwo hervorspringen.

    Er sprang jedoch nirgendwo hervor.

    Der Wald blieb still und dunkel.

    Vielleicht sollte sie zum Teich zurückgehen und dort darauf warten, dass Miguel sein Spielchen langweilig wurde und kam, um sie zu holen. Doch was war, wenn Miguel oder Lucinda wirklich verletzt war? Was war, wenn sie Hilfe brauchten?

    Rosa ging weiter, drängte sich durch das dichte Unterholz.

    Sie bewegte sich schneller, ignorierte die kratzenden Zweige, die spitzen Steine und den Windbruch unter ihren nackten Füßen. Dann rannte sie. Alles, was sie hörte, war ein Dröhnen in ihrem Kopf und ihr lauter Atem. Jeder Baum sah gleich aus und sie fragte sich, ob sie in die richtige Richtung lief. Doch sie blieb nicht stehen. Wenn sie sich umdrehte, würde sie sich wahrscheinlich noch mehr verirren. Außerdem war sie sich sicher, dass das Camp direkt vor ihr war. Es konnte nicht mehr weit sein.

    Sie duckte sich um einen Baum herum – und lief in mehrere Puppen, die von einem tiefen Ast hingen. Sie schrie auf und fiel auf den Hintern. Sie sah auf und erkannte die Puppen von vorhin: schmutzig, sich abschälend, düster.

    Das bedeutete, dass das Camp nicht mehr weit weg war.

    »Miguel!«, rief sie. Sie konnte ihre Furcht nicht mehr länger unterdrücken.

    »Rosa!«, kam seine Stimme zurück, erstickt, schwach und angsterfüllt. »Hau ab! Lauf!«

    Rosa kam auf die Füße. Ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf, die sich eng anfühlte und schmerzte.

    »Miguel!«

    »Lauf weg …« Er wurde abrupt unterbrochen.

    Rosa zögerte noch einen Augenblick, dann drehte sie sich um und rannte los.

    Xochimilco, Mexiko

    2001

    Jack

    1

    Ich wachte in meinem eigenen Blut liegend auf.

    Es war zwischen meiner rechten Kopfseite und dem Kissen geronnen, und ich musste das verdammte Kissen abschälen, als ob es ein verkrusteter Verband wäre. Ich hielt das Kissen vor mich und starrte die braunen Flecken auf dem weißen Stoff angeekelt an. Dabei versuchte ich mich die ganze Zeit daran zu erinnern, was in der Nacht zuvor passiert war.

    Ich war mit meiner Verlobten, ihrem Bruder und seiner Freundin essen gewesen. Das war vielleicht etwas gewesen. Ich musste zuhören, während Jesus die ganze Zeit über sich selbst sprach. So hieß Pitas Bruder, Jesus. Ironisch – er war der einzige Typ, dem ich je begegnet war, der nach Gott benannt war, und er hatte das dazu passende Ego eines Gottes. Seine Freundin, Elizaveta, war viel zu gut für ihn. Klug, bodenständig, attraktiv. Ich wusste nicht, wie er sich sie geangelt hatte. Doch, ich wusste es eigentlich: Geld. Pitas und Jesus Vater, Marco, hatte ein Familienrestaurant und –pub in eine Multimillionen-Brauerei verwandelt, und nachdem Marco im vorigen Jahr an einem Hirnaneurysma gestorben war, übernahm der neunundzwanzigjährige Jesus die Geschäftsführung.

    Ich legte das schmutzige Kissen beiseite und berührte den Schnitt an meinem Kopf, was einen scharfen Schmerz hervorrief, der bis dahin geschlummert hatte. Der Schnitt verlief von der Außenseite meiner Augenbraue bis zu meinem Haaransatz. Getrocknetes Blut bröselte unter meinen Fingerspitzen und fiel wie rote Schuppen auf das Bett.

    Als ich mich erinnerte, was passiert war, zuckte ich vor Verlegenheit zusammen.

    Wir saßen auf der hinteren Terrasse, wir vier. Das Abendessen war beendet. Jesus rauchte eine seiner teuren Zigarren und erzählte endlos von dem Ski-Ausflug, den er und Elizaveta im vorigen Winter nach Chile gemacht hatten. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, bis er mit einer lächerlichen Geschichte anfing, wie er außerhalb des Bereichs des Skigebiets Ski gefahren war, wohin er mit einem Hubschrauber gekommen war. Ich lachte laut. Es war nicht so, dass ich ihm nicht glaubte. Pita hat mir mal erzählt, dass sie und Jesus jedes Jahr im Ski-Urlaub gewesen waren, als sie noch jünger waren. Also nahm ich an, dass er ein ganz guter Skifahrer war. Es lag an seiner Angeberei. Er sorgte dafür, dass wir erfuhren, dass er einen Hubschrauber gechartert hatte, erwähnte das schwierige Terrain abseits der Pisten und seine Begleiter, unter denen sich ein berühmter mexikanischer Sänger befand.

    Ich war gegenüber Jesus nicht kleinlich oder überkritisch. Alles, was der Typ sagte oder tat, war darauf ausgelegt, ihn gut aussehen zu lassen, damit die Leute ihn bewunderten und ihn als ein Sinnbild des Erfolgs sahen. Gleichzeitig war alles mit Bescheidenheit überzogen, als wäre er ein Kerl wie jeder andere. Seine Bemühungen waren so durchsichtig, dass er zu einer Karikatur, zu einer Witzfigur wurde. Man konnte sich manchmal ein Lachen über ihn nicht verkneifen.

    Jesus fragte mich, was so lustig wäre. Ich antwortete nichts und bat ihn, fortzufahren. Das Wortgefecht eskalierte, die Beleidigungen wurden schärfer und Pita und Elizaveta baten uns, damit aufzuhören. Dann versetzte mir das Arschloch einen Tiefschlag, indem er den Unfall erwähnte, der meine Karriere als Rennfahrer beendete. Er meinte, dass ich nicht mehr den Mut hätte, das Tempolimit zu überschreiten.

    Ich hätte ihn schlagen können. Das hätte ich tun sollen. Stattdessen ging ich hinein, um zu pinkeln. Ich kehrte nicht auf die Terrasse zurück. Ich ging in den zweiten Stock auf den Balkon, von dem aus man die Terrasse und den daneben liegenden Swimmingpool überblicken konnte. Ich kletterte auf das Geländer, sodass ich schwankend auf der oberen Stange stand. Ich schrie, dass ich in den Pool springen würde, und forderte Jesus, den furchtlosen alpinen Skifahrer, dazu auf, dasselbe zu tun.

    Es war wahrscheinlich gut, dass ich ausrutschte. Zwischen dem Balkon und dem Pool lagen ungefähr drei Meter und wäre ich gesprungen, hätte ich das Wasser vielleicht nicht erreicht. Doch das passierte nicht. Ich rutschte aus, oder verlor das Gleichgewicht, das ist alles etwas verschwommen, fiel nach hinten und schlug mir den Kopf an etwas auf. Ich habe keine Ahnung, woran. Alles, woran ich mich erinnere, ist der explodierende Schmerz – er fühlte sich irgendwie laut an – das hervorspritzende Blut und wie sich alle um mich herum versammelten. Sie wollten einen Krankenwagen rufen, aber aus irgendeinem Grund wollte ich das nicht. Ich glaube, ich wollte die Nacht nicht im Krankenhaus verbringen. Dann stand ich unter der Dusche. Ich meine mich zu erinnern, dass ich sehr lange geduscht und zugesehen habe, wie rosafarbenes Wasser in den Abfluss lief.

    Ich verzog das Gesicht, schob mich aus dem Bett und stand auf. Einen Augenblick lang war mir schwindelig, wahrscheinlich wegen des Blutverlustes. Ich war im Gästezimmer. Es war nicht überraschend, dass Pita mich nicht in unserem Bett hatte schlafen lassen, so wie ich blutete, obwohl es mein Haus war. Und was hatte sie sich dabei gedacht, mich mit einer ernsthaften Kopfverletzung schlafen gehen zu lassen? Ich weiß, dass ich gesagt hatte, sie sollte keinen Krankenwagen rufen, doch sie hätte es trotzdem tun müssen. Ich hätte nicht wieder aufwachen können.

    Licht fiel durch das Fenster, viel zu hell, fast hörbar, wie eine Hupe. Ich fragte mich, wie spät es war. Ich trat in den mit Kiefernholz vertäfelten Flur und ging zum Badezimmer, weil ich laufendes Wasser hörte.

    Ich klopfte leise an die Tür, öffnete sie dann. Der Dampf hatte den Spiegel beschlagen lassen. Pita stand unter dem Wasserstrahl der Dusche, ihren mokkafarbenen Rücken und Hintern mir zugewandt, und massierte sich entweder Shampoo oder Conditioner in ihr dunkles Haar.

    »Hey«, sagte ich, und das Wort kam heiser heraus. Meine Kehle war so trocken, als hätte ich eine Handvoll gesalzene Kräcker gegessen.

    Als wir vor etwa fünf Jahren das erste Mal miteinander ausgingen, hätte Pita sich ganz umgedreht und ihren Körper gezeigt. Jetzt drehte sie nur etwas den Kopf, sodass sie mich von der Seite sehen konnte. Sie legte einen Arm über ihre Brüste.

    »Du lebst noch«, sagte sie in ihrem Englisch mit spanischem Akzent.

    »Gerade so«, sagte ich.

    »Heißt das, dass du nicht mehr mitkommst?«

    »Mitkommen?«

    »Erinnerst du dich an gar nichts mehr von gestern Abend?«

    Das ärgerte mich, aber ich sagte: »Was meinst du damit?«

    »Du weißt es nicht?«

    »Ich würde nicht fragen, wenn ich es wüsste.«

    »Wenn du vielleicht nicht so viel getrunken hättest …«

    »Vergiss es, Pita.«

    Ich wollte gerade die Tür schließen, als sie sagte: »Isla de las Muñecas.« Dann wusch sie sich weiter das Haar.

    2

    Mann, ich musste so betrunken gewesen sein, dass ich einen Blackout gehabt hatte. Doch jetzt ging mir ein Licht auf, die Dunkelheit, in der meine Erinnerungen verborgen gewesen waren, klärte sich und der Rest des Abends kehrte in Bruchstücken zurück. Isla de las Muñecas, Insel der Puppen. Das war der Grund, weswegen Jesus und Elizaveta vorbeigekommen waren. Wir hatten die meiste Zeit beim Abendessen damit verbracht, über die Einzelheiten des Ausflugs zu sprechen. Wir waren übereingekommen, um zehn Uhr zu starten. Jesus und Elizaveta würden Pepper abholen und dann zu meinem Haus kommen. Pita und ich würden ihnen in meinem Auto nach Xochimilco folgen, wo wir ein Boot besteigen wollten, das uns innerhalb von zwei Stunden zu der Insel brachte.

    Pepper war ein Moderator der mexikanischen Version von The Travel Channel, eine einfache Kabelserie, die Dokumentationen und Erläuterungsprogramme zeigte, die mit Reisen und Freizeit in dem Land zu tun hatten. Er hatte am Anfang seiner Karriere Glück gehabt und regelmäßige Auftritte als Moderator für Tiersafaris, Touren durch große Hotels und Resorts und Lifestyle-Themen ergattert. Dadurch war er eine Art Mini-Promi geworden. Trotzdem startete er erst im letzten Jahr richtig durch, und zwar weil er eine Dokumentation im El Museo De Las Momias, dem Mumienmuseum, moderierte. Die Geschichte erzählte, dass sich während eines Choleraausbruchs im neunzehnten Jahrhundert der Stadtfriedhof von Guanajuato so schnell füllte, dass eine örtliche Steuer erhoben wurde, die von Verwandten eine Gebühr forderte, damit die Leichen begraben blieben. Die meisten Verwandten konnten sich das nicht leisten, oder es war ihnen egal. Also wurden die Leichen exhumiert und die am besten erhaltenen wurden in einem Gebäude gelagert. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts verlangten geschäftstüchtige Friedhofsarbeiter von Touristen ein paar Pesos, damit sie sich die Knochen und Mumien ansehen durften. Und seitdem ist der Ort zu einem Museum geworden, das mehr als hundert getrocknete menschliche Leichname zeigt, inklusive Mordopfer, ein Opfer der Spanischen Inquisition in einer Eisernen Jungfrau, lebend begrabenen Kriminellen und Kindern, die als Heilige gekleidet zur Ruhe gebettet wurden. Die meisten waren so gut erhalten, dass ihre Haare, Augenbrauen und Fingernägel noch intakt waren, und bei fast allen war der Mund zu einem ewigen Schrei erstarrt. Das lag daran, dass sich nach dem Tod die Zunge verhärtet hatte und die Kiefermuskeln erschlafft waren.

    Die Dokumentation wurde ein großer Hit, sodass Pepper die Moderation für die fortlaufende Serie mit dem Titel Mexikos furchterregendste Orte auf The Travel Channel anstieß. Ihnen gefiel die Idee, und Peppers nächstes Projekt führte ihn zu La Zona de Silencio, der Todeszone, ein Wüstenstück in Durango, das seinen Spitznamen erhielt, nachdem eine Testrakete, die von einem US-Militärstützpunkt in Utah gestartet wurde, eine Fehlfunktion hatte und in der Region von Mexikos Mapimi Wüste abstürzte. Die Rakete beförderte zwei Behälter mit radioaktivem Material. Ein groß angelegter Rückholversuch der US-Air Force dauerte Wochen – und verwandelte die Region in eine Pseudo-Area 51 voller Rätsel und lokaler Legenden, bei denen es um Mutationen der Flora und Fauna, um Lichter am Nachthimmel, Außerirdische und magnetische Anomalien ging, die Funkübertragungen verhinderten. Das volle Programm.

    Pepper hatte seitdem mehrere weitere Folgen der Serie moderiert – die meisten handelten von Spukhäusern, verlassenen Irrenhäusern und Ähnlichem – aber die Insel der Puppen war sozusagen immer sein Goldenes Ei gewesen. Das Problem war, dass die Insel sich in Privatbesitz befand. Der Besitzer war vor Kurzem gestorben, und jetzt hatte sein Neffe das Sagen. Er hatte sich wiederholt geweigert, Pepper und seine Filmcrew auf die Insel zu lassen. Vonseiten des Travel Channels hatte Pepper die inoffizielle Zustimmung für die Dokumentation. Man hatte ihm gesagt, dass es großartig wäre, wenn er verwendbare Aufnahmen bekäme. Wenn er allerdings dabei erwischt wurde, würden sie behaupten, nichts davon gewusst zu haben.

    Und hier kamen Pita und ich ins Spiel. Pepper wollte nicht allein zur Insel fahren, und wir standen in keinerlei Verbindung zu dem Fernsehsender. Ich hatte mich auf den Ausflug gefreut, Jesus bekam vor ein paar Tagen Wind davon, und bestand auf seine stürmische Art darauf, dass er und Elizaveta auch mitkommen würden.

    Pita spülte jetzt ihr Haar aus. Milchig-weißes Seifenwasser floss ihren Rücken hinunter. Ich fragte sie: »Fahren wir immer noch um zehn los?«

    »Ja«, sagte sie, ohne mich anzusehen.

    »Wie spät ist es?«

    »Du hast eine halbe Stunde, um dich fertigzumachen.«

    Ich stöhnte und fragte mich, ob ich mich in dieser Zeit zusammenreißen konnte.

    »Du musst nicht mitkommen«, sagte sie zu mir und drehte sich so weit um, dass ich die Seite ihrer linken Brust sehen konnte.

    »Ich habe Pepper schon gesagt, dass ich mitkomme.«

    »Ich bin sicher, er würde es verstehen – dein Kopf und all das.«

    »Würde es dir etwas ausmachen?«, fragte ich vorsichtig und fragte mich, ob ich gerade in eine ihrer Fallen tappte. Ich würde ihr zustimmen, und dann würde sie zuschlagen und mich beschuldigen, dass ich nie etwas mit ihr unternehmen wollte, ihren Bruder nicht mögen würde oder irgendetwas in dieser Art. Ihre Intrigen wären amüsant, wenn sie nicht immer gegen mich gerichtet wären.

    »Ich denke, dass du dich ausruhen solltest, Jack«, sagte sie. »Das denke ich. Aber es ist deine Entscheidung.«

    3

    Jesus und seine Crew fuhren vierzig Minuten später in seinem brandneuen Jaguar X vor. Das Auto passte zu ihm: viel Show, wenig Substanz. Denn hinter der Motorhaube, die mit einer tänzelnden Raubkatze verziert war, und der Innenausstattung aus Leder und Holz verbarg sich nur ein einfacher Ford Mondeo mit Allradantrieb. Wahrscheinlich wusste Jesus das nicht. Er hatte ihn wohl gekauft, weil es die Art von Auto war, das ein junger, reicher Kerl fahren sollte.

    Während Pita hinausging, um alle zu begrüßen - sie trug ein Chambray-Shirt mit hochgerollten Ärmeln und abgeschnittene Jeans-Shorts, die die Rundung ihres Hinterns betonte – ging ich in die Garage und lud unser Tagesgepäck in meinen drei Jahre alten Porsche 911. Er parkte neben einem schrottigen 79er Chevrolet Monte Carlo. Ich hatte als Jugendlicher in Vegas das gleiche Modell gehabt. Ich hatte drei Jahre lang in einer Autoreparaturwerkstatt gearbeitet, um genug Geld zu sparen, um mir dieses Auto zu kaufen. Als ich achtzehn wurde und meine Rennfahrerlizenz bekam, fuhr ich an vier Abenden in der Woche Rennen auf den örtlichen Bahnen. Ich endete immer im Mittelfeld oder als Schlusslicht, aber ich wurde wegen meines Namens trotzdem ein Liebling der Fans. Die Ansager bei den Rennen waren der Ansicht, dass Jack Goff wie ein Scherz klang, und ergriffen jede Gelegenheit, ihn zur Freude des Publikums über das Lautsprechersystem zu erwähnen. Bald nannte mich niemand mehr Jack. Es hieß immer Jack Goff. Ansager, Interviewer, Fans, wer auch immer. Alle sagten Jack Goff. Der Name hatte diesen zweisilbigen Rhythmus – und natürlich die Andeutung – was die Leute dazu brachte, ihn vollständig sagen zu wollen.

    Ich gewann mit dem Monte Carlo nie ein Rennen, aber er war mein erster Rennwagen und verband mit ihm einige meiner schönsten Erinnerungen. Darum hatte ich vor ein paar Monaten das Schrottauto gekauft, um es zu restaurieren. Es war ein Projekt, eine Möglichkeit für mich, meine Tage zu füllen, weil meine Rennzeit nun vorbei war.

    Ich setzte mich hinter das Lenkrad des Porsches und rollte die Zufahrt hinunter, bis ich Haube an Haube mit dem Jaguar stand. Elizaveta, die auf dem Beifahrersitz saß, das Gesicht hinter einem großen Sonnenhut und einer Sonnenbrille verborgen, lächelte mich an und winkte mir zu, was ich erwiderte. Jesus hatte sein Fenster geöffnet, sein Ellenbogen ragte heraus. Er sprach mit seiner Schwester. Sein Haar saß wie immer makellos, es war an den Seiten kurz geschnitten, die oberen Haare waren nach links gescheitelt und glatt an den Kopf gekämmt. Er trug eine Fliegersonnenbrille und hatte einen leichten Bartschatten, den er zweifellos für schick hielt. Das grelle Sonnenlicht auf der Windschutzscheibe verhinderte, dass ich Pepper auf dem Rücksitz sah, und ich fragte mich, ob ich aussteigen und ihn begrüßen sollte, als Jesus und Pita ihr Gespräch beendeten.

    Jesus nahm mich endlich zur Kenntnis, grinste und drückte auf die Hupe des Jaguars. Ich umklammerte das Lenkrad fester und fragte mich, warum ich beschlossen hatte, mitzukommen. Doch ich hatte kaum eine Wahl gehabt. Wie ich Pita gesagt hatte, hatte ich Pepper bereits zugesagt. Ich wäre ein Drückeberger gewesen, wenn ich eine Ausrede vorgeschoben hätte, insbesondere da mein Kopf nicht allzu sehr schmerzte. Tatsächlich litt ich mehr unter meinem Kater als unter der Verletzung. Ich fühlte mich schwerfällig, unmotiviert, antriebslos – aber mir ging es gut genug für einen Tagesausflug. Und ob Jesus nun dabei war oder nicht, ich war immer noch daran interessiert, die berüchtigte Insel der Puppen zu sehen.

    Ich drehte die Lautstärke hoch, und die Bässe irgendeines mexikanischen Songs dröhnten, während Jesus rückwärts auf die Straße fuhr, drehte und losfuhr. Pita stieg neben mir in den Porsche.

    Nach ein paar Minuten Fahrt fing sie an, vor sich hin zu summen. Sie hatte ihr dickes, welliges Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, aus ihrem Gesicht heraus, das makellose Züge aufwies. Kojotenbraune Augen – von denen sie gerne behauptete, sie wären haselnussbraun - mit langen Wimpern, eine gerade Nase, die sie unauffällig war, dass man sie kaum bemerkte, was ein Vorteil war, wenn es um Nasen ging, volle Lippen, die eher verspielt als schmollend waren, hohe Wangenknochen und ein sanft gerundetes Kinn.

    Pitas Summen verwandelte sich in Worte, ein spanischer Song, den ich aus dem Radio kannte. Sie sang ihn leise vor sich hin. Sie hatte eine raue Singstimme.

    »Was ist los?«, fragte ich sie.

    Sie sah mich an. »Was meinst du?«

    »Du hast gute Laune.«

    »Darf ich keine gute Laune haben?«

    »Ich meine ja nur … worüber hast du mit Gott geredet?«

    »Nenn ihn nicht so.«

    »Ich sage es ihm ja nicht ins Gesicht.«

    »Er nennt dich Jack.«

    Was sie damit meinte, war, dass er mich nicht Jack Goff nannte. Und sie hatte recht, das tat er nicht. Jedenfalls nicht, wenn ich es hörte. Ich sagte: »Worüber hast du mit deinem Bruder geredet?«

    »Über nichts.«

    »Ihr habt fünf Minuten miteinander gesprochen.«

    »Er ist mein Bruder. Wir haben nur geredet.«

    »Über das Wetter? Über den Ausflug?«

    »Warum ist das wichtig?«

    »Ich mache nur Konversation, Pita.«

    »Nein, bei dir klingt es, als würden wir uns beschwören oder so etwas.«

    Ich korrigierte ihre falsche Aussprache nicht. Manchmal verwechselte sie englische Worte oder sagte sie völlig falsch. Ich hatte allerdings noch nie gehört, dass man beschwören und verschwören verwechselte.

    »Wie geht es Pepper?«, fragte ich und wechselte damit das Thema.

    »Er ist aufgeregt.«

    »Will er dich immer noch interviewen?«

    »Ja. Er wird mir auf dem Boot sagen, was ich mir merken soll. Er will auch, dass du ein paar Sachen sagst.«

    »Ich lasse mich nicht aufnehmen.«

    »Er will es aber.«

    »Warum fragt er nicht Jesus?«

    »Weil Jesus zu bekannt ist.«

    »Und ich nicht?«

    »Wir sind nicht mehr in Amerika, Jack«, sagte sie. »Ich rede von Mexiko. Die Leute hier kennen meinen Bruder. Dich kennen sie nicht.«

    Das stimmte. Ich fiel in diesem Land nur auf, weil ich weiß war, und wegen meiner Größe. Diese Anonymität war der anfängliche Auslöser gewesen, hierher zu ziehen. Denn mein Ausscheiden aus dem Rennsport ist eine ziemlich große Sache gewesen, und ich konnte mir vorstellen, wie ESPN eine Kopie von Peppers »Insel der Puppen«-Episode in die Finger bekam und einen Ausschnitt von mir sendete, mit der Überschrift: NASCAR Neuling des Jahres, Jack Goff, ist jetzt paranormaler Forscher für das mexikanische Fernsehen.

    »Ich lasse mich nicht aufnehmen«, wiederholte ich.

    Jesus hielt vor einer roten Ampel. Ich fuhr neben ihn.

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