Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die sprechende Bibliothek
Die sprechende Bibliothek
Die sprechende Bibliothek
eBook614 Seiten8 Stunden

Die sprechende Bibliothek

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Lennys Zukunft scheint in Stein gemeißelt. Doch als düstere Maschinenwesen ihm das Wichtigste - seine Fantasie - nehmen, werden die Karten neu gemischt.
Die Lösung soll in der sprechenden Bibliothek liegen, in der Phantasie und Wirklichkeit miteinander verschmelzen. Doch um dort hineinzugelangen, muss Lenny sich in die Hände des Feindes begeben…

Eine Geschichte über die Macht der Fantasie, Vertrauen, Mut und den unerschütterlichen Glauben an eine bessere Zukunft.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum22. Nov. 2019
ISBN9783748288299
Die sprechende Bibliothek

Ähnlich wie Die sprechende Bibliothek

Ähnliche E-Books

Fantasy für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Die sprechende Bibliothek

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die sprechende Bibliothek - Sven Hüsken

    TEIL 1 – DIE VERWUNSCHARMEE

    1.  KAPITEL

    Lennys Haare hatten erstaunliche Ähnlichkeit mit der Sonne. Sie leuchteten knallrot, und sobald sie eine kritische Masse erreichten, waren sie nicht mehr zu bändigen. Doch die Haare waren nicht sein hervorstechendstes Merkmal, denn das waren eigentlich seine Ohren, die jetzt gerade gelangweilt in die Nacht lauschten.

    Die Welt verharrte in Bewegungslosigkeit. Sie war müde geworden und bereit zu sterben, und Lenny wartete am Fenster und starrte ins Leere.

    Der Donnerstag war genauso ereignislos verlaufen wie jeder andere Tag in den Wochen zuvor. Mal wieder hatte seine Mutter eine Schicht für Ajda übernommen und offenbar eine weitere drangehängt.

    Lenny schob den Unterkiefer nach vorne und zog die Augenbrauen zusammen. Seine Mutter hatte ihm viel versprochen nach dem Tod seines Vaters und seines Bruders. Doch inzwischen musste er einsehen, dass sie ihr eigenes Leben lebte und für ihn darin kaum Platz war. Für ihn war es an der Zeit, erwachsen zu werden. Allein bei dem Gedanken kribbelte seine Kopfhaut. Lenny fuhr sich durch die Haare. Er war an einem Scheideweg angekommen und alle Zuschauer um ihn herum brüllten ihn an, den linken Weg einzuschlagen. Alles aufgeben, was ihn ausmachte. Das wollten sie.

    Er wischte über die beschlagene Scheibe. Düster lag die Stadt vor ihm.

    Ihm war schlecht.

    Wenn man alles Lebenswerte aus einem Menschen saugen würde, davon war er überzeugt, bliebe das Flechtwerk aus Mauern und Rohren übrig, das sich vor ihm erstreckte. Ein Zusammenschluss von unzähligen Produktionsstätten. Eine Stadt voller Leben, ohne lebendig zu sein.

    Sie schimmerte im Laternenlicht, als wäre sie in eine Orange gebaut worden.

    So gerne hätte Lenny sie in die Hand genommen und zerquetscht. Zugeschaut, wie das faulige Fruchtfleisch herausquoll und auf den Asphalt tropfte.

    Wie oft hatte er sich vorgestellt, die Stadt nach seinen Vorstellungen neu zu erschaffen? Wie in einem Märchen.

    Lenny schüttelte den Kopf.

    Er würde ihr nicht entkommen können. Nicht ihren Regeln und nicht ihren Sitten. Mit sechzehn würde sein Leben vorbei sein. Und das war schon nächstes Jahr. In einer Stadt wie Little Temptington gab es keine Ausflüchte. Hier gab es nur Schichtarbeit, Essensrationen, Krankheit und Verfall.

    Lennys Finger zitterten. Das taten sie oft in letzter Zeit. Er atmete durch, um sich zu beruhigen. Seine Bücher hatten ihn früher von den schlimmen Gedanken abgelenkt, doch nun kam er in ein Alter, in dem man mit beiden Beinen auf der Erde stehen musste.

    Er streckte einen Finger aus und malte zwei Punkte und einen grinsenden Mund auf die Scheibe.

    Die Schlote vor seinem Fenster spuckten Rauchschwaden, die den Himmel bedeckten.

    Wie Vogelnester hingen die Wohnungen der Einwohner inmitten des Arteriengeflechts aus Rohrleitungen, von denen die dritte Schicht Farbe blätterte.

    Der einsetzende Platzregen spülte Ruß und Unrat von den Dächern. Der Schlamm sammelte sich in den Gassen, die zusammen ein Spinnennetz bildeten, das eine orientierungslose Spinne hastig gesponnen hatte.

    Hier und da sah Lenny ein paar Leute Schutz suchend über Stege und Treppen in die verschiedenen Ebenen der Stadt rennen.

    Die meisten höher gelegenen Wohnungen erreichte man über die Dächer der unteren Gebäude, was häufig im Streit endete. Der Vater von Pepe war einmal zwei Stockwerke tief gefallen. Er war auf einem Dach der Nachbarswohnung ausgerutscht und es hatte pro Stockwerk einen Monat gedauert, bis er wieder arbeiten konnte.

    Lenny wischte das Grinsegesicht mit der Faust wieder weg. Nur noch ein paar Monate und er würde alles, was ihm wichtig war, hinter sich lassen.

    In dieser Stadt war das Leben eines jeden in Stein gemeißelt. Und am schlimmsten fand Lenny die Tatsache, dass die Meisten kein Problem damit hatten.

    Mit sechzehn machte man den Schulabschluss und fing direkt an, in einer der unzähligen Fabriken zu arbeiten. In der Regel lernte man dort das Mädchen kennen, mit dem man einmal selbst Kinder haben würde. Man zog in eines der Vogelnester und mit etwas Glück wurde man alt und irgendwann erschien man nicht mehr auf seiner Schicht.

    Lenny schnaufte, was sein Magen mit einem hungrigen Knurren quittierte.

    Er dachte an seinen Vater und an seinen Bruder Patrick, die nicht so viel Glück hatten. Es war nur ein Zettel. Ein lausiges Stück Papier, das zwischen Leben und Tod entschied.

    Eine Anweisung, wie sie tagtäglich gegeben wurde. Nur an jenem Tag lauerte in dem Rohr, das demontiert werden sollte, noch eine reaktive Substanz.

    Was mochte ihnen durch den Kopf gegangen sein, kurz bevor sich die austretende Flüssigkeit an der Luft entzündete? Dachten sie an das Abendessen, als sich das flüssige Feuer über sie ergoss? Dachte Patrick an seine Freundin, mit der er sich schon ein paar Wohnungen angesehen hatte, bevor er mit dem Boden verschmolz?

    Lenny selbst konnte sich kaum noch daran erinnern, doch seine Mutter erzählte oft von ihnen. Er dachte an den Tag, als die Männer in schwarzen Anzügen vor ihrer Wohnung standen.

    Der Tod war in dieser Stadt ein treuer Begleiter.

    Lennys Mutter weinte häufig, wenn sie glaubte, er würde schlafen. Es musste schwer sein, sie beide über Wasser zu halten.

    Er gab der Uhr, die vor ihm auf der Fensterbank stand, einen Stoß. Sie fiel auf den Boden und ihre Innereien brachen aus dem Gehäuse. Zahnräder, Muttern, Federn und Schrauben kullerten über die Holzdielen des Zimmers.

    Seine Mutter würde vor Morgen nicht mehr kommen, soviel stand fest. Obwohl er damit gerechnet hatte, versetzte es ihm einen Stoß in die Magengegend.

    Lenny sammelte Spucke im Mund und schluckte.

    Die Menschen in dieser Stadt waren genauso furchtbar wie die Stadt selbst. Es gab nur Arbeit. Nichts anderes zählte.

    Lenny bemerkte den Lastwagen zunächst nicht, der in einer der Straßen unter ihm hielt.

    Doch die Gestalten, die heraussprangen, rissen ihn aus den Gedanken.

    Ihre Form war missgebildet. Unmenschlich.

    Im orangefarbenen Licht der Laternen schwärmte gut ein Dutzend von ihnen aus.

    Lenny konnte sie nicht deutlich erkennen. Er setzte sich auf.

    Eine Razzia, mitten in der Nacht? Unwahrscheinlich.

    Aber was war es dann? Eine Rettungsaktion? War jemand in Gefahr?

    Lenny wischte mit dem Pulli über die Scheibe, um besser sehen zu können.

    Die Unbekannten erklommen nach und nach die Treppen und verschwanden auf den verschiedenen Ebenen in den Wohnungen.

    Was Lenny erschauern ließ, war ein bläuliches Glimmen im Innern der Wesen.

    Ob man ihnen die Türen aufmachte, oder ob sie gewaltsam eindrangen, konnte er nicht sehen. Die Laternen beleuchteten nur die Straßen. Die meisten Wohnungen lagen tief im Schatten der Fabriken.

    Es knallte.

    Einige Sekunden lang hörte Lenny nur noch ein helles Pfeifen. Instinktiv drückte er die Handflächen gegen die Ohren.

    Es knallte erneut. Dieses Mal dumpfer.

    Jemand schoss in der Dunkelheit.

    Männer schrien.

    Für einen Augenblick sah Lenny das Gesicht eines Mannes vor der gegenüberliegenden Wohnung. Ängstlich verzehrt.

    Noch ein Schuss.

    War da eine Gestalt hinter dem Mann?

    Lenny drückte sein Gesicht so dicht an die Scheibe, als wollte er sie wie ein Magier durchdringen.

    Der Mann schrie und feuerte um sich.

    Etwas war hinter ihm. Es überragte ihn um mindestens einen halben Meter. Ein unförmiges Gebilde.

    Im Stakkato des Mündungsfeuers wanden sich Tentakel, stießen zu und rissen den Mann in die Höhe.

    Die Waffe fiel zu Boden und gab beim Aufprall einen letzten Schuss von sich.

    Dann war es ruhig und die Dunkelheit kehrte zurück.

    Lennys Atem verschleierte die Scheibe. Er hatte keine Ahnung, was er machen sollte.

    »Na los«, schrie jemand in seinem Kopf, »versteck dich. Was immer diese Dinger machen, es ist bestimmt nicht angenehm. Verschwinde!«

    Einen Moment war Lenny gewillt, der Stimme zu folgen. Doch sein Gewissen schrie ihn an, er solle Hilfe holen. Aber wann hatte sich in dieser Stadt schon mal jemand Sorgen um die Bürger gemacht? Und wenn sich herausstellte, dass gar nichts passiert ist, würde er die Kosten des Polizeieinsatzes übernehmen müssen. Abwarten war die beste Alternative. Abwarten und beobachten.

    Vorsichtig wischte er den feuchten Beschlag beiseite.

    Draußen regte sich nichts mehr. Nur die Regentropfen zersprangen hypnotisierend auf der Fensterbank.

    Irgendwann glommen die blauen Lichter wieder auf. Sie waren in der Dunkelheit deutlich zu erkennen.

    Eines von ihnen kam näher. Als das Wesen in einen Lichtkegel trat, hatte Lenny das Gefühl, von einer verhassten Tante umarmt zu werden. Einen Moment lang war es ihm nicht möglich, zu atmen.

    Über dem Kopf wippten zwei mechanische Tentakel, die aus dem Rücken zu kommen schienen. Und aus dem Gesicht ragte ein Rohr.

    Doch das Schlimmste war: Die Gestalt kam direkt auf sein Fenster zu.

    Bisher hatte er es als Vorteil angesehen, jederzeit die Wohnung verlassen zu können, ohne dass seine Mutter es mitbekam, doch nun verfluchte er es.

    Er konnte sich tausend Dinge vorstellen, was diese Typen mit ihm machen würden, und ›mit einer Nagelpistole an die Zimmerdecke tackern‹ war dabei noch das Harmloseste.

    Er saß in der Falle.

    Aus der Wohnung gegenüber hallten Schreie.

    Wie immer, wenn Lenny sich konzentrierte, strich er seine Haare hinter die Ohren.

    Er biss sich auf die Unterlippe, bis es schmerzte, während er überlegte, ob die Gestalt so viel Anstand hatte, die Wohnungstür zu benutzen.

    Sie war jetzt so nah, dass Lenny das Gesicht erkennen konnte. Neben einem normalen Auge zuckte eine Art Teleskop suchend in alle Richtungen. Da, wo die Nase sein sollte, ragte ein kurzer Rüssel mit einer Maske am Ende heraus, wie Ärzte sie zum Beatmen brauchten. Das Gewebe ringsherum war ledrig und mit Wülsten übersät.

    Die Stadt hatte ein Kind gezeugt, halb Mensch, halb Maschine. Und jetzt hetzte sie es auf ihn, weil er sie hasste.

    Lenny sprang auf.

    Die Gestalt machte keine Anstalten, die Richtung zu wechseln. Sie wollte durch sein Fenster.

    Das Teleskopauge war verbogen, das Echte starrte ihn an.

    Lenny wollte sich abwenden, sich verkriechen, doch seine Muskeln wehrten sich.

    Der Mund des Wesens war zu einem stillen Schrei aufgerissen.

    Mit jedem Atemstoß verschwamm Lennys Sicht mehr.

    Schließlich traute er sich, abzutauchen.

    Er warf sich auf den Boden, in der Erwartung, dass eine Hand das Fenster eindrücken und nach ihm greifen würde. Doch nichts dergleichen geschah.

    »Jetzt verkriech dich unter das Bett, gottverdammt«, rief die Gnomenstimme in seinem Kopf. Lenny mochte sie nicht. Sie hinterließ eine Gänsehaut auf seinem Rücken.

    Er hörte die Gestalt röcheln. Sie musste direkt am Fenster verharren. Das erstickende Geräusch ließ ihn zusammenzucken.

    Lenny brauchte etwas, um sich zu wehren.

    Das Licht, das von der Straße hereinleuchtete, reichte aus, um sich zu orientieren.

    Sein Blick wanderte über den Holzboden mit den Tintenflecken bis zu dem Bücherregal an der Wand gegenüber. Die meisten Bücher waren wissenschaftliche Abhandlungen. Doch zwischen ihnen hatte er die wirklich wichtigen Bücher versteckt. All die Märchen und Grusel-, Science-Fiction- und Fantasyromane, die man in Little Temptington nur bekam, wenn man bereit war, sich bloßzustellen. Nicht, dass es verboten gewesen wäre, Romane zu lesen, aber in dieser Stadt hatte Fantasie in etwa den gleichen Stellenwert wie Cholera. Aber Bücher waren im Augenblick nicht das Richtige.

    Vor dem Regal lagen haufenweise Zettel, auf denen Lenny Wörter geschrieben hatte, die ihm interessant erschienen. Neben dem Haufen war seine persönliche Totenecke. Dort lagen die mechanischen Leichen, mit dem seine Mutter versucht hatte, sein Interesse für Technik zu wecken. Eisenbahnen lagen da genauso wie Aufziehmotoren, Barometer, der Inhalt diverser Baukästen und Spielzeugautos. Sogar eine Dampfmaschine mit durchgerostetem Kessel lag irgendwo dazwischen.

    Er zog die Füße dicht an seinen Po und ging in Startposition, als wollte er einen Hundertmeterlauf absolvieren.

    Irgendwo in dem Haufen mit dem kaputten Spielzeug versteckte sich ein Blasrohr, das ein wenig verbogen war. Aber für das, was er vorhatte, sollte es reichen.

    Lenny lauschte. Das Zischgeräusch war noch da. Dreimal atmete er tief durch, dann sprang er auf und hechtete zu den Eisenbahnen und Autos.

    Seine Hand tauchte ein.

    Hinter ihm zerbrach das Fenster.

    Er fühlte Federn, Schrauben, viel kaltes Metall, aber kein Blasrohr.

    Kalte Luft und der Geruch von Regen drangen in das Zimmer.

    Lenny wühlte mit beiden Händen, warf die Sachen hinter sich, bis er das Gesuchte in der Hand hatte.

    Ohne zu überlegen drehte er sich um.

    Das Wesen sprang mit einem Satz ins Zimmer und hinterließ mit jedem Schritt eine Wasserlache.

    Lenny hielt das Rohr wie einen Speer vor sich.

    Das Wesen schien unbeeindruckt. Die Tentakel tanzten in der Luft, rissen Teile der Decke herunter.

    Wind zerrte an Lennys Haaren und die Luft schmeckte nach Ruß.

    Das Wesen riss den Mund auf und sprang ihm mit einem entsetzlichen Schrei entgegen.

    Lenny öffnete mit klopfendem Herzen die Augen. Sein Kopf lehnte an der Fensterscheibe und er schmeckte Ruß in seinem Mund. Es dauerte eine Weile, bis er wusste, wo er war. Er konnte sich nicht erinnern eingeschlafen zu sein. Hatte er geträumt?

    Unten auf der Straße verschwanden zwei Schlussleuchten im Schleier des Regens.

    Vielleicht waren die Gestalten nicht in sein Zimmer eingebrochen, aber sie waren in der Stadt. Ganz bestimmt.

    Lenny hielt die flache Hand vor sich und beobachtete, wie seine Finger zitterten. So viel Leben hatte er schon lange nicht mehr gespürt.

    Nach einer Weile schnappte er sich eine Decke und verließ das Zimmer. Er war sich sicher, dass in dieser Nacht nichts mehr passieren würde, dennoch verriegelte er die Tür hinter sich.

    Im Bett seiner Mutter wartete er auf ihre Rückkehr. Doch er schlief ein, noch bevor sie die Tür aufschloss.

    2.  KAPITEL

    Am nächsten Morgen saß Lenny am Frühstückstisch, in ein Buch vertieft. Das Pfeifen und Zischen der Maschinenwesen aus der letzten Nacht hallte in seinen Ohren wie ein Echo.

    Doch Dinge, die in der Nacht passierten, waren am Tage weit weniger real.

    Nach dem Aufstehen hatte er eine Weile die Nachbarschaft beobachtet. Der Mann mit dem Gewehr war ganz normal zur Arbeit gefahren. Er wirkte ernster als sonst und hatte nicht wie üblich die Tauben gefüttert, was natürlich kein Indiz für einen Angriff sein musste. Nur eines war komisch: Am Morgen waren viele Krankenwagen in der Nachbarschaft unterwegs gewesen. Mehr als sonst. Das hatte etwas zu bedeuten, und Lenny war sicher, dass es etwas mit den Ereignissen der letzten Nacht zu tun hatte.

    Er musste unbedingt Pepe davon erzählen.

    Lennys Mutter schlurfte träge durch die Küche und kochte Kaffee. Sie war erst vor wenigen Minuten nach Hause gekommen und wusste noch nichts von Lennys Beobachtung. Und so würde es auch bleiben.

    Mit halb geschlossenen Augen blieb sie vor ihm stehen. »Würdest du endlich dieses Buch weglegen und dich auf die wichtigen Dinge des Lebens konzentrieren? Muss ich dir das denn immer und immer wieder sagen? Niemand sieht es gern, wenn sich ein erwachsener Mensch mit diesen Fantastereien befasst. Verdammt, Lenny, langsam solltest selbst du das begriffen haben. Hast du deine Bewerbungen abgeschickt?«

    Lenny wusste, dass es das Beste in dieser Situation war, zu nicken. Also nickte er, klappte das Buch zusammen, legte es zur Seite und versuchte, dem dürftigen Frühstück etwas abzugewinnen.

    Wie so häufig waren die Lebensmittel knapp geworden, und er hatte sich ein paar Reste zusammengesucht. Mit Blick auf seinen Teller korrigierte er sich. Es waren eher die Reste von den Resten.

    Mit einem Messer schnitzte er ein wenig Käse von der Rinde und schob es sich in den Mund. Seine Mutter setzte sich ihm gegenüber. »Ich hoffe, du hast nicht nur eine Bewerbung geschrieben.«

    »Hm«, machte Lenny nur. Natürlich hatte er nur eine Bewerbung geschrieben.

    Seine Mutter nippte am Kaffee und verzog das Gesicht. »Das Pulver ist schon viel zu alt«, sie schob die Tasse von sich. »Denk bitte daran, die Rationsmarken zu besorgen. Am besten heute noch. Ich werde in den nächsten Tagen die Stadt verlassen müssen und muss noch einiges vorbereiten.«

    Lenny schluckte den Käse hinunter. »Du gehst weg?«

    »Eigentlich wäre es Ajdas Job gewesen, aber sie kann eine Weile nicht zur Arbeit kommen, deshalb muss ich einspringen.«

    Ajda schon wieder. Lenny hatte das Gefühl, er wäre von ihr hinterhältig in ein Loch gestoßen worden. »Was ist nur mit dieser Ajda los?«, fragte er leichtfertig und bereute es sofort. Instinktiv duckte er sich.

    Seine Mutter atmete scharf aus. »Im Gegensatz zu dir weiß sie, was es heißt, Verantwortung zu tragen.« Sie seufzte, nahm die Tasse in die Hand und stand auf. »Wenn du nur halb so viel von diesen Schmarrn lesen und dich mehr für die Dinge interessieren würdest, die um dich herum geschehen, müssten wir uns nicht immer Sorgen machen, ob wir etwas zu Essen auf den Tisch kriegen. Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, Lenny«, ihre Stimme wurde lauter und die Tasse begann zu zittern, »ich arbeite so viel ich kann, um dich zu füttern und damit du nicht nackt herumlaufen musst. Was glaubst du, wie lange ich das noch aushalte? Du bist alt genug, selbst arbeiten zu gehen.« Das Zittern übertrug sich auf ihre Lippen.

    Lenny starrte vor sich auf den Teller mit der Käserinde. Er wusste, dass sie weinte. Ein Teil von ihm wollte aufstehen und sie trösten, der andere Teil war wütend. Auf seine Mutter, die ihre Verzweiflung auf ihn abwälzte, auf sich selbst, weil er so faul war und seine Aufgaben nicht ernst nahm, auf die Stadt. Vor allem auf die Stadt.

    »Ich weiß, dass du viel arbeiten musst«, sagte er kleinlaut, »aber mehr als bewerben kann ich mich nicht.« Er schaute auf.

    Sie stand mit zuckendem Rücken zu ihm und tat so, als spülte sie die Tasse.

    »Wann fährst du?«

    Sie zog die Nase hoch, ehe sie antwortete. »Der Zug fährt Sonntag nachmittags um drei. In ein paar Tagen bin ich zurück.« Sie drehte sich zu ihm. Ihre Augen waren gerötet. »Lenny, mach mir keine Schande und versprich mir, dass du keines von deinen Büchern liest. Mach etwas Sinnvolles, ja?«

    Lennys Kopf war leer. Er nickte automatisch. Das war eine seltsame Angewohnheit, aber das war einfacher als eine Diskussion, die er nicht gewinnen konnte. Er beschloss, die Gestalten nicht zu erwähnen. Außerdem gab ihm die Abwesenheit seiner Mutter die Gelegenheit, auf eigene Faust herauszufinden, wer sie waren und vor allem, was sie im Schilde führten.

    Dann stand er doch noch auf und nahm seine Mutter in den Arm. »Keine Sorge Mama«, flüsterte er, »es wird schon alles gut.«

    Als er das Haus verließ, um zur Schule zu gehen, hatte er die Rationsmarken schon fast vergessen.

    3.  KAPITEL

    Beatrice von Glok betrachtete den abfahrenden Zug durch das Bürofenster. Eine Dampfwolke hüllte die Hütte ein und ließ sie erzittern.

    Vor vielen Jahrzehnten hatte man hier die Armenküche eingerichtet, die ihr seit einem Jahr unterstellt war. Es war ein Hobby von ihr. Sie hatte schon immer das Bedürfnis, sich um die Menschen in der Stadt zu kümmern. Und wer brauchte mehr Hilfe als die Armen und Gescheiterten?

    Die Hütte stand in der Nähe der Gleise wie ein Mahnmal, das den ankommenden Arbeitern zeigte, was sie erwartete, wenn sie sich nicht an die Regeln hielten.

    Kaum jemand würde das finden, was er suchte. Und dennoch würde keiner versuchen, diese Stadt wieder zu verlassen. Zu maßlos war die Gier nach Geld, zu greifbar die Möglichkeit mehr aus sich zu machen.

    Doch so groß die Versprechungen waren, so klein war die Chance, dass sie sich erfüllten.

    Beatrice wusste das. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass niemand anderes die Dinge so klar sah wie sie.

    Ein Teil der Neuankömmlinge würde sogar in ihrer Fabrik arbeiten, um Medikamente herzustellen und anschließend einen Teil davon selbst konsumieren. Doch auch die Krankheiten, die immer zahlreicher wurden, hielten die Leute nicht ab, in Scharen herzukommen.

    Beatrice wandte sich vom Fenster ab und schloss die Schreibtischschublade, in der Bewerbungen und Übernahmeempfehlungen lagen. Um die Neuankömmlinge würde sie sich später kümmern müssen. Jetzt gab es Wichtigeres zu tun.

    Vor ihr lag eine Pillendose in Form eines Zylinders. Außen waren Tasten angebracht, die der Dose das Aussehen einer zu klein geratenen Schreibmaschine verliehen. Die Zahlencodes auf den Tasten kannte sie in und auswendig. Sie drückte drei herunter, sie rasteten ein und ein Fach öffnete sich. Eine grüne Kapsel lag darin.

    Beatrice machte sich nichts vor. Die ständige Medikamenteneinnahme zermürbte ihren Körper. Jede Dosis fraß ein Stückchen ihrer Lebenszeit, jedes neue Medikament konnte sie beenden.

    Sie beschloss eine Weile zu warten und schob das Fach zurück, ohne die Kapsel zu nehmen. Stattdessen ergriff sie einen Korb mit Schmutzwäsche und verließ das Büro.

    Ihr Weg führte über einen Flur durch die Küche, in der Helga, die Köchin, mit hochroten Wangen von einem Topf zum anderen hüpfte. Ihr Kopf verschwand im Dampf, als sie einen Deckel hob, probierte, nachwürzte, abschmeckte, erneut würzte und zufrieden seufzte.

    Beatrice quetschte sich an ihr vorbei und betrat den Speisesaal.

    »Ich habe nicht gesehen, dass Sie mit der dreckigen Wäsche durch meine Küche gegangen sind«, raunte ihr Helga hinterher.

    Beatrice lächelte.

    Der Speisesaal füllte sich langsam, auch wenn weit weniger Obdachlose da waren als üblich. Manchmal bekam Beatrice ein paar Gesprächsfetzen mit, daher wusste sie, dass sie Angst hatten. Sie fürchteten sich vor Dämonen, die nachts durch die Straßen zogen und ihresgleichen verschleppten. Laut Kommissar Longstrøm nahmen die Vermisstenmeldungen unter den Obdachlosen zu, ohne dass jemals einer wieder aufgetaucht wäre.

    Dafür zählten seit ein paar Wochen vermehrt Kinder zu Beatrices Gästen.

    Eve, ein vierzehnjähriges Mädchen, stand inmitten einer Gruppe Jugendlicher und dirigierte ein paar jüngere Kinder an die Tische.

    Beatrice steuerte auf sie zu und blieb vor ihr stehen.

    »Madame von Glok. Sagen Sie nichts, es gibt bestimmt Arbeit für mich.«

    Beatrice stellte den Wäschekorb beiseite. »Hallo Eve, schön dich zu sehen, und es ist schön zu sehen, wie du dich um die Kleinen kümmerst.«

    Eve winkte ab. »Ach, die kümmern sich eigentlich schon um sich selbst. Ich muss nur hier und da für einen Verband sorgen und aufpassen, dass sie genug essen.« Ein Lächeln huschte ihr über das Gesicht, ohne die Besorgnis, die darin lag, zu überdecken.

    Beatrice nickte. »Die Wäsche muss in die Reinigung. Allerdings solltest du dich sputen. Lange hat die Wäscherei heute nicht mehr auf.«

    »Sie können sich natürlich auf mich verlassen.« Eve hob den Korb auf.

    Beatrice kramte ein paar Münzen hervor und drückte sie ihr in die Hand. »Der Rest ist für dich. Ich werde Helga sagen, dass sie dir etwas zu Essen aufheben und dass sie deinen Lohn wie üblich in Lebensmitteln auszahlen soll.«

    Eve bedankte sich mit einem Lächeln. Dann drehte sie sich zu den Kindern, die sie mit großen Augen anstarrten. »Ich bin in spätestens zwei Stunden zurück. Bleibt hier sitzen. Geht nicht einfach auf die Straße, Karla wird gleich hier sein und Lia und Jasper auch.« Sie warf den Kindern einen warnenden Blick zu und ging nach draußen. Im gleichen Moment kamen die Zwillinge Lia und Jasper herein. Sie schauten sich kurz um und gingen auf Beatrice zu. Jasper streckte ihr eine Hand entgegen, zog sie allerdings zurück als Beatrice sie ergreifen wollte. Sein Mund stand ein Spalt weit offen.

    Beatrice war sich ihrer Wirkung auf Fremde bewusst. Ihr Anblick musste fürchterlich sein.

    Doch das war der Preis.

    »Keine Sorge mein Junge«, sagte sie, »es ist nicht ansteckend. Ich hätte nur längst meine Medizin nehmen sollen.«

    »Tun Ihnen die Pocken nicht weh?« Jasper verzog das Gesicht und schob sich schützend vor seine Schwester.

    Beatrice hatte durchaus Verständnis für diese Reaktion. Inzwischen dürften die Pusteln und Pocken jede freie Hautstelle besiedelt haben.

    Sie beschloss, mit der Einnahme des Medikaments nicht länger zu warten. Sie zog den Pillenzylinder hervor, der inzwischen so etwas wie eine zweite Handtasche geworden war, drückte die entsprechenden Tasten und schluckte die grüne Pille. Die Wirkung trat fast sofort ein. Die roten Flecken auf ihren Händen verschwanden.

    »Das ist ungewöhnlich«, hauchte Jasper ehrfurchtsvoll.

    Beatrice winkte ab. »Na, na, so ungewöhnlich auch wieder nicht. Wer weiß, vielleicht arbeitest du eines Tages in meiner Fabrik und stellst bald selbst solche Medikamente her?«

    Jasper schob Lia zum Tisch. »Man kann nie wissen.« Sie setzten sich.

    »So ein verfluchtes Miststück.«

    Beatrice fuhr herum. Die Arbeit in der Armenküche war wunderbar. Hier gab es immer etwas, um das sie sich kümmern musste.

    Der alte Jakob kam ihr mit hochrotem Kopf entgegengehumpelt. Er stützte seinen mageren Körper auf einen Stock, der bedenkenlos ein Vielfaches von ihm getragen hätte. »Dieses dämliche, rostzerfressene Unding von einem Ofen. Seit über fünfzig Jahren ist mir ein so widerspenstiges, gieriges, kohlefressendes Ungetüm nicht untergekommen.«

    Er blieb vor ihr stehen. Sein Gesicht war noch verknitterter als sonst. Er schob die Nickelbrille zurecht und kratzte sich den Bart. »Ich sag es ganz unverhohlen: Dieser Ofen wird Ihnen noch eines Tages die Haare vom Kopf fressen. Der braucht dringend ein paar neue Teile. Am besten, sie reißen ihn auseinander, lassen ihn verschrotten und kaufen einen Neuen. Nein, besser ich reiße ihn auseinander und sie kaufen einen Neuen.«

    Beatrice wartete einen Moment, bis sie sicher war, dass er ausgeredet hatte. Dann sagte sie so beschwichtigend wie möglich:

    »Schön, dass sie so fleißig bei der Arbeit sind, Jakob. Aber sie sollten nicht so laut fluchen. Es sind Kinder hier. Was gibt es denn für ein Problem?«

    »Na, Ihr Ofen«, schimpfte er weiter, »der hat in den letzten gottverdammten Monaten mehr Kohle verbraucht als die Dampffabrik des ollen Rasputin im letzten Jahr.«

    Beatrice hob eine Augenbraue. »Und was wäre ihrer Meinung nach die beste Lösung?«

    Jakob stutzte und hob die Schultern. »Rausreißen. Das habe ich doch gerade gesagt. Rede ich denn mit der Wand? Rausreißen! Die ganze Anlage. Wahrscheinlich sitzen die Rohre alle zu. Die meiste Hitze pusten wir übers Dach raus. Entweder das, oder wir werden noch mehr Kohle verbrauchen, sobald es kälter wird.«

    Beatrice dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf. »Es wird Herbst. Jetzt alles herauszureißen würde bedeuten, dass die Küche für ein paar Wochen geschlossen bleiben müsste. Besorgen Sie mehr Kohle. Im Frühjahr werde ich die Anlage dann ersetzen lassen.«

    Jakob schob den Unterkiefer nach vorne, sodass sich sein Gebiss verschob. Mit der Zunge drückte er die Zähne wieder in Position. »Gottverdammt, dann werde ich diesen dummen Ofen eben weiter füttern. Es ist ja nicht so, als hätte ich nicht noch andere Dinge zu tun. Das Beste wird sein, ich lasse mich vierteilen, dann könnte ich mir während des Kohleschaufelns selbst in den Hintern treten …«

    Die Eingangstür schwang auf und knallte mit einem lauten Poltern gegen die Wand.

    Ein Clown stürmte mit einem breiten Grinsen herein.

    Von draußen säuselte ein Glockenspiel.

    »Oi, oi, oi«, rief er und pustete in eine Tröte.

    Seine riesigen Schuhe klatschten auf den Boden, während er wie ein Soldat mit durchgedrücktem Rücken hin und her marschierte.

    »Es ist wahr, ja es ist wahr,

    Octavian ist endlich da.

    Sein Weg war schwer, doch er ist hier

    und nimmt nur wenig Geld von dir.«

    Ein paar der Kinder sprangen augenblicklich auf und umzingelten ihn lachend. Die Zwillinge sahen sich besorgt an.

    »So kommt, so kommt, schnell aufgewacht,

    er hat euch Sachen mitgebracht.«

    Der Clown begann wild zu zucken und fuchtelte mit den Armen. Seine Augen quollen hervor, während er sie gackernd verdrehte.

    Die Obdachlosen im Raum sahen kurz erschrocken auf, widmeten sich dann aber wieder ihren Gesprächen.

    Es ist kein Dämon, sondern nur ein dämlicher Clown, dachte Beatrice mit Blick auf ihre zerlumpten Gäste.

    »Oi, oi, oi, was sitzt ihr hier?

    Was ihr wollt, das …«

    Jakob warf Beatrice einen flehenden Blick zu. »Darf ich?«

    Sie verdrehte die Augen. Auch wenn sie sich über die umhertanzenden Kinder amüsierte, sie mochte es nicht, wenn die geregelten Dinge durcheinandergebracht wurden. Mit einer Handbewegung deutete sie ihm an, dass er freie Hand hatte.

    Jakob humpelte auf den Clown zu und tippte ihn mit dem Stock an. »Hör mal zu du Kanaille, du solltest dein schlecht geschminktes Tomatengesicht aus diesem Etablissement bugsieren, wenn du deine übergroßen Schuhe nicht in fisseliger Kleinarbeit aus deinem …«

    »Jakob!«, ermahnte Beatrice.

    »… herausfischen willst.«

    Der bunte Geselle schien unbeeindruckt. Er tapste laut lachend und in die Tröte pustend nach draußen, als hätte er nichts anderes vorgehabt.

    Die Kinder folgten ihm wie Ratten dem Rattenfänger.

    Der Gedanke war beunruhigend.

    Beatrices Neugier war geweckt. Von diesem Händler Octavian hatte sie schon gehört, und den Clown als Werbefigur kannte sie von den Plakaten.

    Sie folgte dem Pulk auf den Bahnsteig und stutzte. Da stand vor den Gleisen ein Verkaufswagen. Bunt herausgeputzt. So vollgepackt mit Fähnchen und Bändern, Glöckchen und hübschen Bildern, dass sie sich in ihre Kindheit versetzt fühlte. Ein verschnörkeltes Schild verriet den Besitzer: Octavian. Natürlich.

    Luftballons wirbelten im Wind und das Glockenspiel klang jetzt hell und klar.

    Hinter dem Tresen stand ein bärtiger Mann. Eine weiße Schürze spannte sich über seinen Kugelbauch und sein verschmitztes Lächeln lockte Beatrice näher. Sie ließ ihren Blick schweifen.

    Die ganze Ware war billiger Plunder. Einfach herzustellen und völlig ohne Nutzen. Sie hatte sich noch nie etwas aus Statussymbolen gemacht, aber all diese Kugeln, Würfel, Pyramiden und Mobiles waren Ramsch. Sie begriff nicht, warum so viele Menschen so begeistert davon waren. Sie mussten verrückt sein.

    Auch den Kindern schien die Ware zu gefallen. Sie bildeten eine Traube um den Verkaufswagen und deuteten aufgeregt mal hierauf und mal darauf.

    Der Bärtige schaute Beatrice noch immer an. »Möchten Sie, dass ich Ihnen etwas zeige?« Er breitete die Arme über der Ware aus. »Dies ist alles wunderschöne Handarbeit. Alles genial verarbeitet und detailreich geschmückt. Genial in ihrer Einfachheit. Nehmen Sie das«, er zog eine Kugel hervor, »die Oberfläche ist glatt wie ein Babypopo.«

    Beatrice winkte ab. »Wenn Sie diesen Kindern das Geld aus der Tasche ziehen, sorge ich dafür, dass Sie nie wieder etwas verkaufen.« Sie lächelte.

    Doch der Mann ließ sich nicht beeindrucken. Er legte die Kugel zurück. »Ich habe auch Briefbeschwerer, wenn Ihnen das eher zusagt.« Er deutete auf eine verzierte Pyramide.

    Beatrice schüttelte energisch den Kopf. »Sie haben nichts, was mich interessieren würde.« Damit drehte sie sich um und ging zur Tür zurück, wo sie stehen blieb und die Szene beobachtete.

    Inzwischen versammelten sich auch die frisch angekommenen Arbeiter um den Wagen.

    Was war an diesem Ramsch so attraktiv? Beatrice konnte sich keinen Reim darauf machen.

    »Ist das nicht unglaublich?« fragte der Clown, der mit einem Mal neben Beatrice an der Hauswand lehnte.

    Sie zuckte zusammen und fuhr herum.

    Er deutete auf die Menschenmasse, die schnell größer wurde. »Das hat es noch nie gegeben. Dieser Octavian muss genial sein.«

    »Sollten Sie Ihren Arbeitgeber nicht kennen?« Sie musterte den Clown eingehender. Er hatte sich die Schminke über sein schlecht rasiertes Kinn geschmiert. Der Lippenstift war verlaufen. Von Nahem sah der Clown alles andere als lustig aus. Dieser Anblick brachte die Anzeige ihrer Abneigungsskala gegen Clowns bis zum Anschlag.

    Er winkte ab. »Ich habe ihn nie zu Gesicht bekommen.«

    Beatrice runzelte die Stirn. »Ist er das nicht im Wagen?«

    Der Clown schüttelte den Kopf. »Das ist Winnie. Er ist nur Verkäufer. So«, er stieß sich von der Wand ab, »ich muss weiter arbeiten. Winnie wartet nur darauf, mich in die Pfanne zu hauen, und ich brauche den Job.«

    Beatrice zuckte mit den Schultern. »Ich werde Sie bei ihrer Arbeit nicht aufhalten.«

    Der Clown hielt noch einmal inne, zog etwas aus der Hosentasche und streckte es ihr entgegen.

    Beatrice hob die Augenbrauen.

    Ein Päckchen lag auf seiner ausgestreckten Hand.

    Als Beatrice keine Anstalten machte es entgegen zu nehmen, hielt er sie etwas höher. »Das ist ein Geschenk von Octavian.« Mit der anderen Hand zog er einen Zettel aus der Tasche. »Es wird einen großen Umzug geben. Nehmen Sie es.«

    Beatrice zögerte. »Schenken Sie es den Kindern«, sagte sie schließlich, »sie werden sich mehr freuen als ich.«

    Der Clown schaute auf die hüpfenden und schreienden Kinder, die immer wieder von den Arbeitern verdrängt wurden. Die Zwillinge beobachteten sie in gebührendem Abstand. Ihnen schien die Sache nicht zu gefallen.

    »Jeder bekommt dieses Geschenk. Octavian möchte in aller Munde sein.«

    »Ich kann mir vorstellen, dass er das will. Man hört seinen Namen ja bereits in der ganzen Stadt.«

    »Er ist einzigartig, nicht wahr?« Die Augen des Clowns flackerten, als hätte jemand ein Feuer in seinem Kopf entzündet.

    »Er hat immer das Passende für den Suchenden und sei das Gewünschte auch noch so ungewöhnlich.«

    »Ich bin nicht auf der Suche.«

    Das war untertrieben. Als Erbin der von Glok Pillenfabrik stand ihr das ganze Land offen. Ihre Fabrik war die größte und bedeutendste der Stadt.

    Das Gespräch langweilte sie. Sie wollte ins Haus gehen, doch der Clown hielt sie zurück. »Nehmen Sie es. Es enthält ein Geheimnis. Wenn es Ihnen nicht gefällt, schmeißen Sie es weg. Es ist ein Geschenk. Freuen Sie sich einfach.«

    Beatrice seufzte. Wenn sie ihm nur so entkommen konnte:

    »Also schön. Dann geben Sie es her, das Geschenk.«

    Die geschminkte Öffnung im Gesicht des Clowns wurde breiter. »Es enthält ein Geheimnis.«

    »Das sagten Sie schon.«

    »Es wird Ihnen Freude machen.«

    Beatrice nickte, nahm das Päckchen entgegen.

    »Dieser Zettel gehört noch dazu«, er reichte ihn ihr.

    Während beides in ihrer Tasche verschwand, drehte sie sich um. »Ich danke Ihnen. Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss noch dringende Angelegenheiten erledigen.«

    Sie hielt es nicht für nötig, sich zu verabschieden und spurtete ins Büro, froh, dem Clown entkommen zu sein. Die Tür fiel hinter ihr zu und sie setzte sich mit einem Seufzer an den Schreibtisch.

    Nachdem sie eine Weile so dasaß, holte sie den Zettel und das Päckchen des Clowns hervor.

    Ein Blick auf die Wanduhr verriet, dass sie noch knapp zwei Stunden hatte, bevor sie in die Vorstandssitzung musste.

    Ein wenig Schlaf würde ihr gut tun.

    Ein Geheimnis hatte er gesagt.

    Beatrice schüttelte das Päckchen und lauschte. Außer einem dumpfen Rappeln war nichts zu hören.

    Sie legte es vor sich auf den Tisch und las den Zettel.

    ›Tätärätääää! Wir haben all das, was Sie wollen, wo Sie wollen und wann Sie wollen. Denn mit Einsetzen des Herbstes müssen Sie nicht mehr zu uns. Nasse Kleidung und Wasser in den Schuhen gehören der Vergangenheit an. Sobald das Wetter ungastlich wird, kommen wir zu Ihnen. Und weil das sogar für uns unglaublich klingt, laden wir Sie hiermit zu der großen Parade ein, die quer durch die Stadt führen wird. Feiern Sie mit uns in eine neue Ära.

    Octavian macht Wünsche wahr.‹

    Kopfschüttelnd legte sie den Zettel beiseite.

    In ihrem Kopf begann es zu pochen und ihre linke Augenbraue hüpfte auf und ab.

    Mit einer Hand versuchte sie die Braue festzuhalten, mit der anderen nahm sie erneut das Päckchen.

    Was für ein Geheimnis mochte darin sein?

    Es lag schwer in der Hand.

    Für ein Werbegeschenk eigentlich zu schwer.

    Ihr linkes Auge schwoll erschreckend schnell an, und während Teile ihres Gesichts Richtung Boden drifteten, öffnete sie die Schachtel.

    4.  KAPITEL

    Es war Samstag und er hatte schulfrei.

    Lenny versuchte das Gleichgewicht zu halten, während sein Reitdrache über die Stadt hinwegflog.

    Die umliegenden Wälder standen in Flammen und schwärzten die Felsen, die hier und da aus dem Boden ragten. Unter ihm schauten neugierige Echsenköpfe aus den Häusern, die in einem Meer aus Unrat standen.

    Lenny rümpfte die Nase, als ihm der Geruch von Verwesung und Kloake entgegenschlug.

    Kaum ein Mensch schien den Überfall der X'arokaner überlebt zu haben.

    Er riss den Zügel herum und zwang den Drachen tiefer zu gehen.

    Den Würgereiz unterdrückend hielt er Ausschau nach seinem Freund Tzerzerot, dem Ritter der Wolfsmark. Wenn er vor ein paar Tagen hierher aufgebrochen war, musste er sich in dieser Gegend aufhalten.

    Hatte er sich von den stinkenden Echsen niedertrampeln lassen? Eher nicht. Tzerzerot hätte es mit zwei Armeen dieser Kreaturen aufnehmen können.

    Lennys Blick schweifte über die brennenden Häuser und Hütten. Die Leichenteile der Überfallenen brannten sich in sein Gedächtnis und in seine Nase.

    Er war zu spät. Hier war nichts mehr zu retten. Der Angriff musste schnell erfolgt sein. Auf normalem Wege hätten sie noch Tage benötigt, um die Stadt zu erreichen.

    »Na los, mein Mädchen«, schrie Lenny gegen den Wind und tätschelte den Hals des Drachens, »lass uns noch eine Schleife fliegen.«

    Der Drache hörte auf seinen Reiter, und mit ein paar kräftigen Flügelschlägen legte er sich in die Kurve und überflog die Stadt erneut.

    Das Schreien eines Kindes ließ Lenny zusammenzucken.

    Es war schwer, etwas zwischen all den Trümmern und den brandschatzenden X'arokanern zu erkennen.

    »Langsamer«, schrie er seinem Drachen zu, der die Flügel nach vorne riss um zu stoppen und die Höhe zu halten.

    Einen Moment lang rauschte der Wind in Lennys Ohren, aber dann hörte er das Kind erneut.

    Wenig später sah er es auch, eingeklemmt unter einem Balken.

    Drei Echsen waren durch das Schreien aufmerksam geworden. Sie ließen die Arme und Beine fallen, die sie ihren Opfern aus dem Rumpf gerissen hatten, und stampften auf das Kind zu.

    Selbst die X'arokaner bevorzugten Frischfleisch, wenn sie auch sonst nicht wählerisch waren.

    Sie durften nicht näher kommen. Nicht, wenn das Kind überleben sollte.

    Der Drache begann kräftiger mit den Flügeln zu schlagen, um nicht an Höhe zu verlieren.

    »Na los Dyra«, rief Lenny seinem Drachen zu und deutete auf die Echsen, »zeig ihnen, wie heiß Drachenfeuer sein kann.«

    Er riss am Zügel und Dyra stieg in die Höhe, nur um in einen Steilflug überzugehen.

    »Lenny! Mensch Lenny, ich muss dir was erzählen.«

    Die Stimme drang aus einer anderen Welt zu ihm.

    Dyra verwandelte sich augenblicklich in ein von Rost zerfressenes Auto ohne Räder.

    Lenny drehte sich um und spähte den Hügel hinunter.

    Er konnte die Stadt sehen, die sich unter einer Dunstwolke versteckte und vereinzelte Schlote, die herausschauten, als wollten sie frische Luft schnappen. Die Phantomwelt, die gerade noch wie eine wärmende Decke über der Wirklichkeit lag, war verschwunden.

    Dafür kehrten die trüben Gedanken zurück, die ihn auf dem Weg hierher schon zermürbt hatten. Die Rationsmarken, die dunklen Gestalten und seine …

    »Lenny!« Pepe lief den Hügel zum Schrottplatz herauf, als würde er unsichtbaren Hindernissen ausweichen.

    Hier und da sprang er in die Luft und hinterließ tiefe Schlammspuren, die sich mit Wasser füllten.

    Pepe war nicht nur Lennys bester, sondern auch einziger Freund. Er war erst zwölf, und Lenny hatte oft Mühe, mit diesem Flummi mitzuhalten. Er war selten betrübt und noch seltener ängstlich. Lenny war gerne in Pepes Nähe, vor allem an deprimierenden Tagen wie diesen.

    »Oh Lenny, ist die Luft nicht wunderbar? Nach dem Regen stinkt es nicht wie sonst immer nach verbranntem Snörre - Hintern. Ich habe vorhin Boote gebastelt, hast du Lust sie im Kanal schwimmen zu lassen? Der Wasserstand ist genau richtig. Stör ich dich? Man ist das steil hier, puh.« Pepe blieb stehen und grinste. »Was machst du gerade? Darf ich mitmachen?«

    Lenny setzte eine schwarze Melone auf, schnappte sich den völlig zerschlissenen Regenschirm, der neben ihm lag, und rutschte vom Wagendach.

    Beides hatte er vor Jahren auf dem Schrottplatz zwischen mehreren Kesseln und einem Haufen Mülltüten gefunden. Sie hatten keinerlei Nutzen. Wahrscheinlich gefielen sie ihm deshalb so gut.

    Pepe ging auf Lenny zu und schüttelte ihm überschwänglich die Hand, während er ihn von unten mit Dackelaugen anblickte.

    »Was ist los«?, fragte Lenny.

    Pepe rührte sich nicht. »Warum?«, fragte er verschmitzt.

    »Du hast doch was.«

    Sein Freund schüttelte den Kopf. »Nö.«

    Lenny runzelte die Stirn. »Du kommst den Berg rauf gerannt, bist ganz aufgeregt, und dann soll nichts sein? Also spucks schon aus.«

    Pepe kniff die Lippen zusammen und sagte mit leiser Stimme: »Wir haben uns gestern wieder getroffen.«

    Lenny ignorierte den Stich, den er in der Brust spürte. Dennoch versuchte er, positiv zu klingen. »Hey, das ist ja großartig. Wie hieß sie noch gleich?«

    »Gertie.«

    »Gertie!« Er klopfte Pepe freundschaftlich auf die Schulter. »Du magst sie sehr, was?«

    Pepe nickte grinsend und seine Augen weiteten sich zu dunklen Ballons.

    Lenny spannte den Regenschirm auf und ließ den Griff auf seiner Schulter tanzen. Wenn jetzt auch Pepe erwachsen wurde, hatte er gar nichts mehr. Wenn ein Tag schon so doof anfängt …

    Plötzlich drängte sich ihm seine Mutter ins Gedächtnis. Das tat sie immer, wenn er nicht damit rechnete.

    Ihre Stimme ignorierte Einsteins Theorien und überwand Raum und Zeit und die Wahrscheinlichkeit. Sie schallte bis hier her, und klingelte in seinen Ohren:

    »Hast du die Rationsmarken schon besorgt? Ich hoffe dir ist klar, dass ich mich auf dich verlasse. Bis Samstag liegen sie im Amt aus. Danach rücken die Beamten keine mehr raus. Sie rücken keine mehr raus! Lenny, ich hoffe dir ist klar, dass wir verhungern werden, ohne diese Marken.«

    Gegen diese Stimme konnten sich seine Ohren nicht verschließen und sie drang tief in sein Gewissen, um wie ein Berserker darin herumzustochern.

    Eigentlich hatte Lenny nicht vorgehabt, es aufzuschieben, aber die Vorstellung ins Amt zu müssen, verknotete ihm die Eingeweide. Die Beamten wussten, wie dringend die Rationsmarken gebraucht wurden, und schikanierten die Leute, wo sie nur konnten. Doch jetzt war es eine gute Ausrede, um nicht weiter über Gertie reden zu müssen.

    Pepe fuchtelte mit den Händen vor Lennys Augen und angelte ihn aus einem Meer von Gedanken.

    »Hey Lenny, jemand zu Hause? Was hast du?«

    Lenny schüttelte den Kopf. »Nichts. Ich habe mich nur gerade an etwas erinnert. Tut mir leid, was hast du gesagt?«

    »Ich habe gesagt, dass Gertie mir etwas Wichtiges erzählen wollte. Aber dann sind ein paar Ältere gekommen und sie hat es mir nicht erzählt.«

    Lenny ging zurück zum Auto

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1