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Prosecco~Wellen: Roman
Prosecco~Wellen: Roman
Prosecco~Wellen: Roman
eBook723 Seiten9 Stunden

Prosecco~Wellen: Roman

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Über dieses E-Book

Eine spaßversprechende Reise nach Hamburg zu einem A-cappella-Wettbewerb entwickelt sich anders, als es sich die fünf Freundinnen des Prosecco-Chors erhofft haben. Während sich die verheiratete Melanie den Auswüchsen ihres übermäßigen Alkoholkonsums stellen muss, findet sich die ungebundene Lilli unerwartet in der Beschützerrolle wieder, als sie ein herumstreunendes Mädchen auf der Reeperbahn aufliest. Marie, die kurz vor der Abreise von ihrem Mann verlassen wurde, fühlt sich von den lustvollen Verlockungen der Großstadt abgestoßen, anders als ihre Schwester Sandra, die sich auf einen verhängnisvollen Flirt einlässt. Emma will dem Pflegealltag mit ihrer dementen Mutter entfliehen und taucht in eine ungehörige Welt ein, die sie nicht mehr loslässt. Nach Hause zurückgekehrt, müssen sich die Freundinnen entscheidenden Wendpunkten in ihrem Leben stellen, während mehr als nur ihre Freundschaft am Abgrund baumelt. Ein Roman über das Selbstfinden, Annehmen und Verzeihen - und in dem die Zuversicht mitschwingt: Liebe ist eine Antwort.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum19. März 2021
ISBN9783347243330
Prosecco~Wellen: Roman

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    Buchvorschau

    Prosecco~Wellen - Ursula Flajs

    Chorprobe I

    „Halleluuuuujaaaaa …"

    „Mensch, Lilli, brüll nicht so! Du klingst, als wärst du ein Reintreiber auf dem Rummelplatz! Melanie zupfte genervt an den Saiten ihrer Gitarre, bereute es aber umgehend. „Autsch! Ich glaub, ich krieg wieder einen Riss auf der Kuppe! Bin froh, dass ich nächste Woche beim A-cappella-Wettbewerb nicht spielen muss. Sie tauchte ihren Daumen in das Glas mit Prosecco und steckte ihn in den Mund: „Desinfizieren", nuschelte sie in die Runde.

    „Ich glaub, das nennt sich eher betäuben", kicherte Sandra in ihr Glas.

    „Wieso kreisch ich? Du hast doch gesagt, zum Schluss müssen wir anschwellen!", beschwerte sich Lilli.

    Melanie schnaubte: „Zwischen Anschwellen und Kreischen ist aber ein Unterschied! Du hast von Natur aus eine laute Stimme. Sing einfach leiser, dann klingt’s schöner."

    „Aber … Lillis Erwiderung wurde von einem „Plopp unterbrochen. Emma schenkte aus einer neuen Flasche Prosecco nach.

    „Bitte nicht so voll! Ich muss noch fahren", sagte Marie. Sie wirkte heute abwesend und streifte eine undisziplinierte Haarsträhne hinter ihr Ohr zurück.

    Nachdem sich alle mit einem Schluck Prosecco gestärkt hatten, spielte Melanie die ersten Takte, bevor die Freundinnen das Lied anstimmten.

    „Now I`ve heard there was a secret chord, that David played and it pleased the …"

    Auf einmal, als wären vier Batterien gleichzeitig leer gelaufen, verstummte eine Stimme nach der anderen, bis nur noch ein bestürztes Schweigen über dem Tisch hing. Alle Augenpaare waren auf Marie gerichtet, die nicht mitgesungen hatte. Sie hielt sich die Hände vors Gesicht und ein dumpfes Schluchzen drang zwischen ihren Fingern hervor. Das Ticken der alten Kaminuhr mischte sich mit Maries Weinkrampf, während über dem Tisch fassungslose Blicke getauscht wurden. Und wahrscheinlich, weil ausnahmsweise keine ihrer Freundinnen einen Ton herausbrachte, berichtete Marie mit erstickter Stimme, was sie eigentlich niemandem erzählen wollte.

    „Johannes … hat … w…w…will mich … verlassen! Er hat es mir heute ge… gesagt, er übernachtet bei einem Freund!" Marie schniefte und kramte in ihrer Prada-Handtasche nach einem Taschentuch. Dann schnäuzte sie sich alles andere als damenhaft.

    „Was? Wie? Verlassen! Warum?" Obwohl ihre übliche Redegewandtheit zu wünschen übrig ließ, fand Lilli noch vor den anderen, die mit offenen Mündern auf Marie starrten, ihre Sprache wieder.

    „Johannes meint, wir hätten uns entfremdet, und er will eine Auszeit, damit wir uns beide Gedanken darüber machen können, wie es weitergehen soll." Marie hatte sich wieder gefangen und versuchte, ihre verbliebene Würde mit einer aufrechten Sitzposition zu untermauern.

    „Eine Auszeit nehmen! Aber wovon?", hakte Lilli nach.

    „Wir sind jetzt fünfzehn Jahre zusammen! Da lebt man sich schon mal auseinander!" Marie schaute trotzig auf ihre ungebundene Freundin.

    „Jaaa, aber warum?" Lilli ließ sich nicht so leicht einschüchtern. Sie hob ihre Augenbrauen und blickte vielsagend in die Runde.

    Marie kräuselte die Lippen und schnippte einen imaginären Fusel von ihrer eleganten Bluse. „Du glaubst, er hat eine andere?" Ihre Stimme klang eisig. Sie konnte in den Gesichtern ihrer Freundinnen lesen, dass jede von ihnen den gleichen Gedanken hegte.

    „Nein! Das glaube ich nicht!", stieß Marie hervor. Sie hatte alles, was ein Mann sich nur wünschen konnte: gutes Aussehen, Stilsicherheit, gute Umgangsformen. Warum sollte er eine andere wollen?

    Marie fixierte die Tischplatte, als wären Tarotkarten darauf ausgebreitet. „Es wird sich wieder einrenken!" Ihre Worte klangen wie eine Beschwörung und der Ausdruck auf ihrem Gesicht verriet, dass das Thema für sie erledigt war. Marie tupfte ihre Augenwinkel ein letztes Mal ab, dann steckte sie das feuchte Taschentuch wieder ein.

    Ihre Freundinnen warfen sich ratlose Blicke zu, aber keine sprach aus, an was alle dachten. Die Ehe des scheinbar perfekten Johannes und seiner ebenso perfekten Marie war allen suspekt.

    Emma fasste sich als Erste wieder: „Aber dann ist die Reise nach Hamburg ja genau das Richtige. Das tut dir gut – du wirst sehen. Ihre Stimme holte alle aus den Grübeleien. „Ja, Marie, wir lassen es uns gut gehen. Melanie hob aufmunternd ihr Glas. „Lass ihn doch, den Scheißkerl!, wagte Lilli zu sagen und prostete Marie zu. „Dort gibt es sicher ganz tolle Männer!, war Sandra zuversichtlich.

    Während alle aus ihren Gläsern tranken, wurde die schlürfende Stille durch ein hohles Krächzen unterbrochen: „Emma! Aufs Klo …!"

    Vier mitfühlende Augenpaare richteten sich augenblicklich auf Emma, die aufsprang, eine Taste auf dem Babyfon drückte und rief: „Mama, ich komm sofort!" Das Gerät stand wie ein Fremdkörper auf der antiken Anrichte.

    „Tut mir leid! Bin gleich wieder da, Mädels." Emma huschte hinaus.

    „Wäh! Grausig! Ich könnte das nicht! Und dann noch in diesem Befehlston!" Lilli blickte angewidert in die Runde.

    „Ihre Mama ist dement, Lilli! Sie weiß wahrscheinlich nicht mal, wo sie ist. Aber es ist gut, dass sie noch Emmas Namen kennt", erklärte Sandra, die erfahrene Krankenschwester. Aber auch sie war dankbar, wenn betreuungsintensive Patienten, so wie Emmas Mutter, wieder in ihre vertraute Umgebung entlassen wurden.

    „Ja, und es haben auch nicht alle so ein Honigleben wie …", wagte Melanie anzumerken, bevor sie demütig auf Lillis Ausbruch wartete.

    „Du meinst, wie ich? Ja, ich habe keinen Mann und keine Kinder, um die ich mich kümmern muss, aber dafür eine depressive Mutter, das ist doch auch was!" Sie funkelte Melanie empört an.

    „Tut mir leid, Lilli, aber heute war zu Hause wieder die Hölle los! Max wollte partout nicht mit seinem blöden Computerspiel aufhören und Simone hat Manuel den Laufpass gegeben, obwohl sie immer noch in ihn verliebt ist. Sie hat die ganze Zeit geheult! Es ist so anstrengend, wenn Jakob einmal nicht da ist." Melanie seufzte und war froh, dass ihr Mann selten in die Zentrale von der Bank reisen musste, in der er arbeitete. Sie hob entschuldigend ihr Glas.

    Lillis empörter Ausdruck verschwand: „Na gut! Trinken wir auf jede Menge Spaß in Hamburg, den können wir alle gut gebrauchen!"

    Als Emma bald darauf wieder zurückkam, öffnete sie eine weitere Flasche Prosecco und die Freundinnen stießen zuversichtlich auf eine schöne Chorreise an.

    Sie ließ sich beschwipst auf das Bett fallen.

    Es war spät geworden, aber sie war noch nicht müde. Durch das geöffnete Fenster strömte kühle Nachtluft ins Zimmer. Der Mond zauberte tanzende Schatten an die Wand, als der Wind durch die Zweige der alten Eiche vor dem Fenster fuhr.

    Ihr war heiß, obwohl sie nackt war. Der Alkohol trieb ihr den Schweiß aus allen Poren. Sie warf die Bettdecke zur Seite und blickte auf ihre feuchten Schenkel, die hell im Mondlicht schimmerten.

    Während sie seine Nummer wählte, schoben sich die Finger der anderen Hand an die pulsierende Stelle zwischen ihren Beinen. Ihre Lust ließ ihr keinen Platz für ein schlechtes Gewissen.

    Und als hätte er auf ihren Anruf gewartet, nahm er sofort ab.

    „Johannes, ich bin’s."

    „Ja, meine Süße."

    „Ich hab Sehnsucht nach dir. Magst du noch kommen?"

    „Sicher, ich komm garantiert noch! Er lachte heiser: „… bis gleich.

    Brian Air

    Der April, der seinem Namen alle Ehre machte, meinte es nicht gut mit den Freundinnen. Als sie in Friedrichshafen durchs Gate ins Freie traten, verwandelte ein launiger Föhn ihre gestylten Frisuren zu Vogelnestern und die ersten Regentropfen spendeten ihren Segen dazu.

    „Warum hat dieser blöde Flughafen keine überdachten Gangways?" Lilli musste trotz olympiareifem Sprint vom Gate bis zum Flugzeug wie alle anderen Gäste am unteren Ende der Zugangstreppe warten, bis sie an der Reihe war. Sie funkelte den schuldlosen Sicherheitsbeamten böse an. Dieser war mit schwierigen Fluggästen bestens vertraut und quittierte Lillis Feindseligkeit mit einem schiefen Lächeln.

    „Lilli, er kann doch nichts dafür!", murmelte Sandra über Lillis Schulter hinweg und versuchte mit einem entschuldigenden Blick, den geduldigen Mann vom friedlichen Naturell seiner Fluggäste zu überzeugen.

    „Macht doch nichts, das bisschen Regen. Bis Hamburg sind wir wieder trocken." Emmas Naturlocken bauschten sich zu einem nostalgischen Afrolook auf.

    „Genau! Was soll das Gemecker? Jetzt fängt unser Urlaub an!" Melanie wollte sich die Reise nicht verderben lassen und ging in Gedanken bereits die Getränkekarte an Bord durch.

    Marie, die neben ihr stand, hielt sich würdevoll aus der Diskussion heraus und wartete trotz inzwischen heftigem Regenfall, bis sie an der Reihe war.

    Der altgediente Spruch „Zeit ist Geld" musste vom Gründer der Brian Air stammen. Kaum hatten die letzten Passagiere die Boeing betreten, wurden sie von den Flugbegleitern bereits auf ihre Plätze gescheucht. Und sie mussten hilflos zusehen, wie ihnen die Gepäckstücke entrissen und in die Ablagefächer über ihren Köpfen gestopft wurden. Lilli hatte ihre Geldtasche im Handkoffer vergessen und wurde zurechtgewiesen, als sie noch einmal aufstand.

    „Madam, please sit down! We will take off in a few minutes!", wies ein Flugbegleiter sie zurecht.

    Man konnte Lilli ansehen, was sie von der Rüge hielt, doch Melanie drückte ihre Freundin in den Sitz und zischte: „Sei bloß still, sonst bekommen wir später nichts zu trinken! Lilli verdrehte ihre Augen: „Du wirst schon nicht verdursten!

    „Mein Opa hat immer gesagt: ‚Durst ist schlimmer als Heimweh!‘ Obwohl – an Heimweh leide ich im Moment auch nicht." Melanie zog kichernd die Getränkekarte aus der Tasche am Vordersitz. Gemeinsam mit Lilli studierte sie die Auswahl.

    Emma saß direkt vor Lilli. Sie blickte durch das mit Regentropfen gesprenkelte Fenster in den grauen Himmel. Auch wenn es geschneit hätte, nichts konnte ihre Vorfreude trüben. Sie wollte nur einmal alles hinter sich lassen. Hoffentlich hatte Frau Hagen mit ihrer Mutter keine Probleme!

    Marie, die neben Emma saß, starrte Löcher in die Luft. Emma legte die Hand auf den Arm ihrer Freundin: „Geht’s dir gut? Marie zuckte zusammen, bevor sie mit zittriger Stimme antwortete: „Danke. Mir geht’s gut. Ihre geröteten Augen sagten jedoch etwas anderes. Emma streichelte den Arm ihrer Freundin.

    „Bye bye, Friedrichshafen! Yuhuuu!, schmetterte Melanie, als das Flugzeug langsam losrollte. Sie erntete den mitleidigen Blick einer Passagierin jenseits des Mittelgangs. So viel Enthusiasmus war bei Vielfliegern nicht üblich. Doch das tat Melanies Freude keinen Abbruch: „Sollen wir uns was zu trinken bestellen?

    „Ja, Melanie, sobald das Personal wieder Zeit hat, bestellen wir." Lilli linste über Melanies Brüste hinweg zur anderen Seite, um die schweigsame Sandra zu beobachten, deren Aufmerksamkeit anderweitig beansprucht wurde.

    Ein sehr britisch anmutender Flugbegleiter mit rötlichen Haaren und Sommersprossen kam eilig den Gang entlang, um vermutlich etwas Wichtiges im hinteren Teil des Flugzeugs zu erledigen. Sandra fixierte ihn mit ihrem Blick. Als der Mann ihre Sitzreihe passierte, legte sie ein Bein über das andere, sodass ihr kurzer Rock noch höher rutschte.

    Lilli schnaubte: „Also, Sandra! Du stehst auf Prinz Harry?"

    „Ich weiß nicht, was du meinst!" Sandra zuckte ungerührt die Schultern und schwenkte ihren Kopf, damit sie auch die Rückenansicht des Flugbegleiters begutachten konnte. Ihren geweiteten Augen nach fiel das Urteil positiv aus.

    Marie hatte den Wortwechsel auf der hinteren Sitzreihe mitbekommen und schüttelte stumm ihren Kopf. Sie fragte sich nicht zum ersten Mal, wie Sandra und sie Schwestern sein konnten.

    Nachdem das Flugzeug seine Reisehöhe erreicht hatte, wurde Melanie ungeduldig. „So, jetzt könnte mal jemand auftauchen und die Bestellungen aufnehmen! Ich hab geglaubt, diese Fluggesellschaften legen Wert auf konsumierende Gäste."

    „Melanie, man könnte denken, du hast Entzugserscheinungen." Lilli deutete auf eine Passagierin, die mit hochgezogenen Augenbrauen zu ihnen herübersah.

    Aber Melanie zuckte nur mit den Achseln: „Und? Mir egal! Ich will Spaß!"

    Der große Wunsch nach Getränken einiger Passagiere musste bis zur Crew vorgedrungen sein. Denn bald darauf schob Prinz Harry mit einer blonden Kollegin den heißersehnten Getränkewagen durch den Gang.

    „Und was möchtet ihr? Ich bezahle! Die erste Runde geht auf mich! Melanie fuchtelte mit der Getränkekarte zwischen Maries und Emmas Sitz herum. Da die beiden unentschlossen mit ihren Schultern zuckten, entschied Melanie: „Also gut, fünf Mal Prosecco! Der Flugbegleiter schenkte ihnen ein erfreutes Lächeln und bediente sie mit geschulten Handgriffen: „That costs 35 Euros, Madam, please!"

    Melanie schlug ein ordentliches Trinkgeld drauf und bezahlte ohne mit der Wimper zu zucken. Prinz Harry bedankte sich mit einem royalen Lächeln.

    „Melanie, das ist aber teuer. Emma guckte zwischen den Sitzen hindurch nach hinten und hob dankbar das Plastikglas. „Auf dich! Mit zustimmendem Gemurmel streckten alle die Hände über ihren Köpfen zusammen: „Zum Wohl, Mädels! Melanie grinste: „Was soll’s? Das Geld kommt ohnehin von Jakobs Konto. Dann nahm sie einen kräftigen Schluck.

    Gut eineinhalb Stunden und zwei Runden Prosecco später landete das Flugzeug in Hamburg. Sandra trödelte beim Aussteigen und bedachte den rothaarigen Flugbegleiter mit einem: „Thank you so much! Lilli schubste sie unsanft: „Sandra, du blockierst hier alles. Los raus! Sandra ließ sich von Lillis Kommentar nicht beeindrucken. Dafür dankte Prinz Harry Lilli mit einem: „I hope you’ve enjoyed the flight."

    Im Terminal schickte Melanie eine Nachricht an ihre Familie, auch die anderen waren mit ihren Handys beschäftigt.

    „So, jetzt wissen alle, dass Brian Air uns nicht mit dem Schleudersitz frühzeitig von Bord geschafft hat. Auf zur S-Bahn!, trieb Melanie ihre Freundinnen an. Melanie, Lilli und Sandra gingen voraus, während Emma sich bei Marie einhängte, die konzentriert auf ihr Telefon starrte. „Alles okay?

    Marie blickte kurz auf. „Ich habe Johannes Bescheid gegeben. Schließlich sind wir verheiratet!", sagte sie mit Nachdruck. Emma drückte Maries Arm und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, dann folgten sie ihren Freundinnen.

    Eine Viertelstunde später saß das Quintett in der S-Bahn und ließ die Hamburger Vorstadt am Fenster vorbeiziehen. Melanie, Lilli, Emma und Sandra saßen sich gegenüber, Marie belegte die 4er-Sitzgruppe nebenan allein. Sie blickte aus dem Fenster, ohne die Landschaft zu sehen, das Geplauder ihrer Freundinnen nahm sie wie durch einen Schalldämpfer wahr. Ihre Gedanken kreisten um den Abschied von Johannes am Morgen.

    „So, ich muss dann los", hatte Johannes gesagt. Er war vorbeigekommen, um seinen Tennisschläger zu holen, und Marie hatte den Eindruck gehabt, er sei überrascht, sie hier noch zu sehen. Sie bot ihm einen Kaffee an, den er im Stehen trank. Johannes stellte die leere Tasse in den Geschirrspüler. Sie hatte seine Ordentlichkeit immer gemocht.

    Marie saß auf einem der Chromstahlhocker an der Theke und fragte in ihre Tasse: „So früh schon unterwegs heute?"

    Johannes zerrte an seinem ohnehin perfekten Krawattenknoten: „Ich habe Interessenten für die Weißenstein-Villa. Da möchte ich rechtzeitig vor Ort sein. Ich wünsche dir eine schöne Reise!" Aber er rührte sich nicht von der Stelle und hielt sich mit beiden Händen an der Marmorarbeitsplatte fest – so, als hätte er Angst.

    Wie lächerlich! Er musste doch wissen, dass sie niemals eine Szene machen würde. Maries Magen zog sich zusammen. Mit geschlossenen Augen atmete sie tief durch die Nase ein und blies die Luft langsam wieder aus den Lungen. Dann öffnete sie ihre Lider und sah Johannes direkt in die Augen – nicht fragend, sondern klar und offen. Sein Blick war distanziert, als würde er eine mäßig interessante Immobilie betrachten. Marie war gekränkt. Sie wusste, dass sie heute gut aussah – so wie immer! Sie trug eine schmal geschnittene dunkelblaue Hose, die ihre langen Beine gut zur Geltung brachten. Dazu eine weiße Bluse mit einem locker gebundenen Schal im weiß-blau-roten Paisley-Muster. Ihr langes dunkles Haar hatte sie im Nacken zusammengebunden. Früher hatte Johannes sie bewundert. Als ‚sein schönstes Objekthatte er sie oft bezeichnet. Sie war eine Frau, die bei Geschäftsessen redegewandt und elegant an seiner Seite geblieben war und ihn bei seiner Karriere unterstützt hatte.

    Marie hätte nicht sagen können, was sie mehr schmerzte: Sein offensichtliches Desinteresse oder die Tatsache, dass er nicht mehr da sein würde, wenn sie zurückkam. Und ohne lange zu überlegen, rutschten die Worte aus ihrem Mund: „Soll ich hierbleiben? Soll ich nicht nach Hamburg fahren?" Oh, Gott – was sag ich da? Marie schluckte ihre Reue hinunter.

    Johannes Blick wechselte von distanziert zu mitleidig, was sie noch mehr beschämte.

    „Es tut mir leid, Marie. Ich werde am Wochenende meine restlichen Sachen packen und am Sonntagabend ausgezogen sein, wenn du zurückkommst." Johannes presste seine Lippen zusammen.

    Seltsam! Marie konnte sich nicht daran erinnern, ihm gesagt zu haben, wann sie wieder zurückkam.

    „Ich muss jetzt los. Mach’s gut!" Johannes flüchtete mit einem letzten schiefen Lächeln aus der Küche.

    Marie hörte, wie die Wohnungstür ins Schloss fiel. Ihr Blick blieb an der kalten Marmorarbeitsplatte haften, an die sich Johannes vorhin gelehnt hatte. Es fühlte sich an, als läge ihr Herz darauf.

    „Marie, Marie …!" Die Worte kamen von weit her. Eine Stimme rettete Marie aus ihren düsteren Gedanken. Emma musterte sie fragend, doch sie schüttelte ihren Kopf. Auch die Augen der anderen Freundinnen ruhten mitleidig auf ihr, was sie als demütigend empfand.

    „Wie heißt nochmal das Hotel, in dem wir heute Abend auftreten?", versuchte Marie, ihre Freundinnen abzulenken.

    „Zur goldenen Welle!" Melanie zog einen Brief aus ihrer Handtasche und las ihn nicht zum ersten Mal vor:

    Sehr geehrte Mitglieder des Prosecco-Chors,

    wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Sie zu den sechs auserwählten Chören gehören, die sich um den Titel der A-cappella-Königinnen messen dürfen. Die Vorentscheidung findet am Donnerstag, den 24. April, um 20.00 Uhr im Ballsaal des Hotels Zur goldenen Welle statt. Wir bitten Sie, sich pünktlich bis 18.00 Uhr dort einzufinden, damit Sie sich auf Ihren Auftritt vorbereiten können. Beiliegend übersenden wir Ihnen Informationen für den weiteren Ablauf des Wettbewerbs.

    Wir freuen uns auf Ihr Kommen!

    Mit freundlichen Grüßen

    Franco Monetta, Redaktion: Singspuren

    RHM – Radio Hamburg Musikwelle

    Melanie hatte von dem Wettbewerb im Internet gelesen und ihren Chor zur Teilnahme überredet. Die Freundinnen sangen seit zwanzig Jahren zusammen, sie wurden vorwiegend für Hochzeiten oder Taufen gebucht. Wobei sich die Anzahl der Auftritte in Grenzen hielt, da der Chor seine Engagements ausschließlich über Mundpropaganda erhielt. Der Auftritt in Hamburg versprach, eine aufregende Erfahrung zu werden.

    Da Melanie den Chor üblicherweise mit ihrer Gitarre begleitete, war der A-cappella-Auftritt eine Herausforderung. Doch offensichtlich entsprachen sie den Vorstellungen des Sendeteams. Denn bald nach der geforderten Videobewerbung waren sie vom Sender zur Teilnahme eingeladen worden. Den Gewinnern winkten eine professionelle Studioaufnahme sowie die Ausstrahlung im RHM-Sender. Melanie hatte ihre Freundinnen im Laufe der letzten Wochen mit einem straffen Probenplan zu gesanglichen Höchstleistungen angetrieben.

    „Warum machen sie den Wettbewerb nicht im Sendergebäude?", rätselte die Chorleiterin, während sie in einen Schokokeks biss und die offene Packung einladend in die Runde hielt. Sie dachte an den heimischen Radiosender Ländlefunk, der immer wieder mit Veranstaltungen im Publikumssaal lockte.

    „Wahrscheinlich haben sie dort nicht genug Platz. Die Amsel findet ja auch nicht im Studio statt!", stellte Lilli fest.

    Die Amsel war ein musikalischer Wettbewerb, bei dem die lokalen Bands im Vorarlberger Dialekt sangen. Die Veranstaltung fand immer auf einer großen Bühne im Freien statt.

    „Im Hotel wird es sicher schöner sein!", meinte Emma zuversichtlich und griff nach einem Keks. Sie verspürte ohnehin keinen Drang, im hohen Norden auf einer zugigen Bühne zu singen.

    „Wo wohnen wir noch mal? Im Hotel Rote Schwalbe, oder?", fragte Melanie und beförderte die Keksbrösel von ihrem Shirt auf den Boden.

    „Hotel Rote Möwe im Stadtteil St. David", erklärte Lilli und verschränkte die Arme vor ihrem Körper, um der lockenden Kekspackung zu widerstehen. Sie hatte den Flug und das Hotel organisiert.

    „Ist das nicht ein Rotlichtviertel?, fragte Melanie, wobei sie sich verschluckte und von Lilli mit einem Trommelwirbel auf ihrem Rücken gerettet wurde. Als Melanie sich wieder beruhigt hatte, stellte Lilli grinsend klar: „Ja und? Du willst doch auch einmal nach St. Pauli – dort geht sicher noch mehr ‚die Post ab‘! Und wir müssen auf jeden Fall unser Sightseeing-Programm durchziehen! Wer weiß, wann wir wieder mal hierher kommen?

    „Aber erst holen wir uns den Titel der A-cappella-Königinnen!" Melanie spülte ein letztes Räuspern mit einem Schluck aus ihrer Wasserflasche hinunter. Dann reckte sie sich in eine aufrechte Position und forderte spontan: „Also Mädels, auf geht’s! Wir singen jetzt Only you."

    „Hier im Zug?" Marie blickte sich unsicher im gut besetzten Zugabteil um, während die anderen bereits auf Melanies Kommando warteten.

    „Warum nicht? Das ist doch eine gute Übung für heute Abend. Melanie kramte nach ihrer Stimmgabel und hob die Hände wie ein Dirigent. Dann summte sie den ersten Ton und alle stimmten in das Lied ein: „Badadada, Badadada, Badadada, Badadada …

    Nach dem letzten „Badadada war es, bis auf das Rauschen des Zuges, im ganzen Abteil mucksmäuschenstill. Dann begannen zwei ältere Herren im Businessanzug, zu applaudieren, bald stimmten weitere Fahrgäste ein. Dazwischen waren sogar ein paar „Bravo-Rufe zu hören. Melanie stand auf und verbeugte sich dankend, bis Lilli sie am Saum ihres Trenchcoats wieder auf den Sitz zog. Doch Melanies Busen schien um eine Körbchengröße gewachsen zu sein. Sie verkündete: „Na, das war doch schon was, Mädels! Ich bin stolz auf euch!"

    Als sich der Zug dem Hauptbahnhof näherte, sammelten die Freundinnen ihr Gepäck ein und machten sich für den Ausstieg bereit. Die älteren Herren im Anzug schoben ihre Trolleys vorbei. Der Größere der beiden, vom Typ: Sky Du Mont, bemerkte dabei: „Das war wirklich ein Ohrenschmaus, meine Damen. Planen Sie einen Auftritt oder soll es nur ein wenig Straßenmusik werden?"

    Sein Tonfall klang durchaus respektvoll, doch Lilli schnaubte entrüstet: „Also bitte! Straßenmusik! Was denken Sie von uns? Wir fahren zum Wettbewerb der A-cappella-Königinnen!"

    „Verzeihung, gnädige Frau! Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten!" Sky Du Mont verbeugte sich wie ein Butler und schenkte Lilli ein schelmisches Lächeln, bevor er das Abteil verließ.

    „Und die ‚Gnädige‘ kann er sich auch schenken." Lilli schnappte sich ihren Blazer vom Haken.

    „Aber der war doch ganz nett, sei nicht immer so angriffslustig!" Sandra zog ihre kurze Lederjacke an und hängte sich ihre Handtasche quer über die Brust.

    „Ich bin nicht angriffslustig!", knurrte Lilli.

    Melanie grinste: „Nein, überhaupt nicht!" Sie schubste Lilli vor sich her, die anderen folgten ihnen. Auf dem Bahnsteig waren sie aber nur noch zu viert.

    „Wo ist Emma? Lilli drehte sich suchend im Kreis. Dann schaute sie durch das Zugfenster in das Abteil zurück. Dort saß Emma mit dem Handy in der Hand und tippte darauf herum. Lilli trommelte ans Fenster: „Emma, was machst du? Komm raus! Oder willst du wieder zurück zum Flughafen fahren?

    Emma stolperte mit roten Wangen aus dem Zug und stammelte: „Oh, entschuldigt! Ich habe gerade eine Nachricht von Frau Hagen bekommen! Sie wollte nur etwas wegen Mama wissen."

    „Gut, dass du Frau Hagen hast!" Sandra tätschelte den Rücken ihrer Freundin, bis die Sorgenfalte auf Emmas Stirn verschwand.

    Rote Möwe

    Melanie wollte am Hauptbahnhof erst noch ein Ankunftsgläschen nehmen und musste davon überzeugt werden, dass es dafür schönere Plätze gab. Als die fünf Frauen endlich in der U-Bahn saßen, diskutierten Lilli und Marie darüber, ob sich heute noch eine Shoppingrunde ergeben könnte.

    „Am Jungfernstieg soll es tolle Geschäfte geben. Das ist ein Tipp von meiner Chefin", erklärte Lilli.

    „Ja, das habe ich auch gehört." Marie stand neben ihren Freundinnen, die sich zusammengesetzt hatten. Sie fand öffentliche Verkehrsmittel unhygienisch. Man wusste nie, wer hier schon gesessen hatte. Wenn es kälter gewesen wäre, hätte Marie Handschuhe getragen, um die Haltestangen nicht mit bloßen Händen berühren zu müssen. Sie war froh, dass sich Desinfektionstücher in ihrer Tasche befanden.

    Melanie saß neben der stehenden Marie auf der Sitzbank: „Bis wir im Hotel sind, ist es bereits Mittag! Sollen wir nicht zuerst etwas essen gehen und danach die Gegend erkunden?"

    „Also ich bin dafür, dass wir unser Gepäck auf die Zimmer bringen und gleich zu den Landungsbrücken gehen. Ich liebe das Meer!" Emma blickte verträumt auf die vorbeizischenden Wände des U-Bahn-Tunnels.

    „Dort ist die Elbe, du Träumerchen. Melanie lehnte sich an Emma. „Aber irgendwann fließt sie dann auch ins Meer, fügte sie versöhnlich hinzu.

    Das Hotel Rote Möwe lag in einer umtriebigen Straße. Die Freundinnen schoben ihre Trolleys über den Gehweg und wurden von taxierenden Blicken verfolgt. Anbieterinnen des leichten Gewerbes posierten hier wie in einem Spalier. Mit scheinbar gelangweilten Blicken verfolgten sie das offensichtlich unerwünschte Quintett.

    „Wie peinlich, Lilli! Was für eine Gegend hast du denn ausgesucht?" Marie schob sich ihre Sonnenbrille ins Gesicht, obwohl der Himmel bewölkt war.

    „Auf allgemeinen Wunsch eine günstige mit einem akzeptablen Hotel. Und wir sind in Hamburg! Marie, du wirst noch ganz andere Sachen zu sehen bekommen!", stellte Lilli klar.

    Emma zog ihren Koffer wie in Trance hinter sich her, ihre Augen waren staunend auf die Schaufenster entlang des Gehwegs gerichtet. Grelle Neonplakate und blinkende Anzeigen versprachen Spaß für alle nur erdenklichen sexuellen Neigungen.

    Sandra murmelte Emma begeistert ins Ohr: „Ein Wahnsinn! Man hört und liest überall davon, aber glauben kann man es erst, wenn man es mit eigenen Augen sieht! Sie blieb an einer schwarz abgeklebten Auslage mit der roten Aufschrift: Bondage Angels live stehen: „Was soll das sein?

    „Das will ich gar nicht wissen", bemerkte Lilli altklug und schubste die grinsende Sandra weiter, während Emma einen verstohlenen Blick zurückwarf.

    „Da ist es!" Melanie deutete auf ein bescheidenes Schild mit der Aufschrift: Hotel Rote Möwe, welches über einem schmalen Eingang hing.

    „Wo?" Sandras Blick wanderte über die Häuserfront und suchte nach weiteren Anzeichen dafür, dass sich hier ein Hotel befand.

    „Na, hier ist der Eingang – und da ist eine Klingel. Wir müssen wohl läuten, damit man uns reinlässt." Lilli fragte sich gerade, ob sie bei der Hotelwahl nicht sorgfältiger hätte sein sollen, doch die Bewertungen im Internet waren gut gewesen. Tapfer drückte sie den Knopf. An der Decke über dem Eingang blinkte das rote Licht einer Überwachungskamera.

    „Sie wünsen?" Eine blecherne Stimme tönte aus einem Kästchen neben der Klingel.

    „Wir haben auf Lilli Hammer Zimmer reserviert, fünf Personen", antwortete Lilli.

    Die blecherne Stimme sagte: „Ja lichtig, bitte tleten Sie ain." Mit einem Surren öffnete sich die schwere Eingangstür.

    Das Innere des Hotels entpuppte sich als angenehme Überraschung. Trotz Teppichläufern roch es weder muffig noch abgestanden. Ein frühlingsfrischer Jasminduft geleitete die Freundinnen über ein weiß getünchtes Stiegenhaus in den ersten Stock, wo sich die Rezeption befand.

    Dort saß ein kleiner asiatischer Mann am Empfangstresen. Er trug einen schwarzen Anzug mit roten Paspeln am Revers. „Helzlich willkommen!, sagte Mr. Fu Chang, so stand es auf seinem Namensschild. „Hatten Sie eine gute Leise, meine Damen?

    Melanie räusperte sich, während Lilli näselnd erwiderte: „Danke, wir sind wohlauf", als würde sie an der Rezeption eines Luxushotels stehen. Marie verdrehte schmunzelnd ihre Augen und betrachtete die Bilder an den Wänden. Zarte Geishas in farbig leuchtenden Gewändern fächelten sich anmutig zu. Marie hätte niemals so auffällige Farben getragen, aber zu diesen zarten, puppenhaften Persönchen passten die bunten Gewänder. Sie überlegte, ob sie Johannes gefallen würden. Marie hatte eigentlich nie infrage gestellt, dass sie das Maß aller Dinge für ihren Mann war.

    „Ganz schön bunt, oder? Melanies Blick war dem von Marie gefolgt. „Wir haben die Schlüssel. Komm!

    Der Miniaturlift bot nur Platz für drei Personen.

    „Also, Mädels, wie machen wir es? Wir haben ein Dreibett- und ein Zweibettzimmer!" Lillis Frage war rhetorisch, denn Melanie, Lilli und Sandra teilten sich immer ein Zimmer, während Marie und Emma das andere nahmen. Also quetschten sich zuerst drei Freundinnen in den Lift und ruckelten in die dritte Etage.

    „Gut, dass wir so gedrängt stehen, meinte Melanie, als der Lift ruckartig stehen blieb und ihre Knie einknickten, „sonst würden wir jetzt alle am Boden liegen.

    Dafür fanden die hellen Zimmer großen Anklang bei den Freundinnen.

    „Toll!, zeigte sich Lilli begeistert, als sie durch die hohen Fenster auf die Straße blickte, „falls uns langweilig wird, können wir uns ja das Treiben da unten ansehen.

    „Ich hoffe nicht, dass es so weit kommt. Melanie warf sich samt ihren Schuhen auf das Doppelbett und streckte ihre Arme und Beine von sich. „Ah, herrlich! Wow! Da ist sogar Stuck an der Decke!

    Lillis Stimme hallte aus dem Bad: „Alles schön sauber! Ich muss mal …"

    Sandra warf ihre Handtasche auf das zusätzliche Einzelbett. An der Zimmertür klopfte es. Marie und Emma rauschten herein. „Tolles Hotel! Gute Wahl, Lilli!", lobten beide.

    „Danke! Weiß ich doch!", tönte es aus dem Bad.

    Melanie rappelte sich wieder vom Bett hoch und blickte erwartungsvoll in die Runde: „Und jetzt? Gehen wir was trinken?" Sandra und Emma nickten. Marie schlug vor, zu den Landungsbrücken zu fahren und dort ein nettes Restaurant zu suchen.

    „Genau! Wir haben ja ein paar Stunden Zeit, bis wir uns wieder aufbrezeln müssen. Lilli gesellte sich, in eine Parfümwolke gehüllt, dazu und rief: „Auf geht’s!

    Die grauen Wolken hatten sich fast verzogen. Erste Sonnenstrahlen wärmten gegen eine von Norden her wehende Brise an. Der riesige äthiopische Frachter, der gerade vorbeigeschleppt wurde, pflügte das dunkle Wasser und ließ diagonale Wellen ans Ufer schwappen.

    Emma hätte am liebsten ihre Schuhe ausgezogen, sich hinunter auf das Holz der Landungsbrücken gesetzt und die Füße über dem Wasser baumeln lassen. Marie, die neben ihr stand, blickte einer Möwe nach, die mit einem kleinen Fisch im Schnabel vor ihren kreischenden Artgenossen floh. Sandra und Lilli lehnten nebeneinander am Holzgeländer der Aussichtsplattform und hielten ihre Gesichter mit geschlossenen Augen in die Sonne. Einzig Melanie scannte mit einem Radarblick die Umgebung ab. Er blieb an einer Reihe von Restaurants hängen, die auf den Landungsbrücken standen. „Schaut! Da unten können wir einkehren und fast am Wasser sitzen!", rief sie.

    „Ja, Melanie, jetzt wird es wirklich höchste Zeit für was Flüssiges!", neckte Lilli sie und hakte sich zwischen Melanie und Sandra ein. Gemeinsam steuerten sie auf Melanies Wunschziel zu. Marie und Emma schlenderten hinterher.

    Auf dem Weg zu den Landungsbrücken hinunter kamen sie an einem Mädchen vorbei, dass sich sitzend an das Geländer der Holztreppe lehnte. Die Freundinnen ignorierten es, weil sie das Mädchen für eine Bettlerin hielten. Nur Lilli blickte zurück. Die bettelt doch gar nicht – sie sieht nur traurig aus. Trotz einem Funken schlechten Gewissens lief Lilli weiter. Melanie steuerte zielstrebig auf ein Fischrestaurant mit Terrasse im Freien zu und ersparte somit dem davor stehenden Gastwerber die Arbeit.

    „Hier ist es gut. Es ist auch nicht windig. Super! Melanie warf sich in den ersten Sessel und zog sofort eine Getränkekarte von der Mitte des Tisches an sich. „Hmmm, Hafenwelle, ein Cocktail ähnlich dem Long Island Ice Tea. Das klingt spannend!

    „Ich würde eher sagen, dass klingt mörderisch! Also ich trinke höchstens etwas Verdünntes. Lilli zog eine Speisekarte zu sich heran. „Und ein Krabbenbrötchen nehme ich auch.

    Melanie konnte von ihren Freundinnen zu einer entschärften alkoholischen Variante überredet werden. Darum bestellten sie neben einem Imbiss nur Weißweinschorle für alle. Nachdem sie sich gestärkt hatten, fragte Melanie: „Wie sieht das weitere Programm aus?" Sie schaute dabei bewundernd auf die glitzernde Elbe und lehnte sich mit wohlig gefülltem Bauch in ihren Sessel.

    „Wir hätten noch Zeit für eine Hafenrundfahrt", meinte Lilli.

    „Klingt gut, das würde mir gefallen." Emmas Blick glitt über die Flotte an Ausflugsschiffen, die sich am Ufer entlang reihte.

    „Ja, auf dem dort wär es schön!" Sandra deutete auf einen blau gestrichenen Raddampfer, der sich wohl vom Mississippi hierher verirrt hatte.

    „Das wird nichts mehr", bemerkte Marie, denn der blaue Dampfer ließ in diesem Moment ein lang gezogenes Tuten ertönen und die Schaufeln setzten sich in Bewegung.

    Sie entschieden sich für ein kleineres Schiff, das mit einladender Partymusik punktete. Sandra war bereits davor mit dem attraktiven Matrosen, der wohl Kunden anlocken sollte, ins Gespräch gekommen. Sie winkte die anderen heran.

    „Das ist Dimitri, stellte Sandra vor, „er arbeitet hier, bis er wieder eine Heuer auf einem Frachter bekommt. Sie bekundete ihre Kenntnisse von der ‚christlichen Seefahrt‘, indem sie Dimitri eine baldige Anstellung vorhersagte.

    Lilli schubste Sandra. „Los, weiter, Olive, Popeye hat noch Arbeit."

    Sandra schenkte Dimitri ein strahlendes Lächeln, bevor sie unter Lillis Drängeln aufs Schiff stieg. „Ich weiß nicht, wieso du es immer so eilig hast, protestierte sie. „Wie willst du da jemals einen Mann kennenlernen?

    Lilli verdrehte die Augen und schnauzte Sandra an: „Also ich muss mich ja nicht an jeden hängen, der mir über den Weg läuft. Als Sandra empört zu einer Erwiderung ansetzte, stellte sich Emma zwischen die beiden, legte jeweils einen Arm um sie und sang: „All we are saying, is give peace a chance. Das war eine Art Codewortzeile, die bei Zwistigkeiten zum Einsatz kam, seit die Freundinnen den Song Give Peace a Chance kurioserweise für eine Hochzeit einstudieren mussten. Und es funktionierte meistens – so auch diesmal. Lilli und Sandra grinsten sich wieder versöhnlich an. Danach gesellten sich die drei zu Melanie und Marie, die bereits an einem Tisch unter Deck saßen.

    Der Matrose Dimitri war offensichtlich auch der Schiffskellner, denn kurz darauf salutierte er am Tisch und fragte in gebrochenem Deutsch: „Meine Damen, darf was bringen?" Natürlich durfte er. Während die anderen auf Alkohol verzichteten und einen Cappuccino bestellten, wollte Melanie endlich die allseits gegenwärtige Hafenwelle probieren.

    Dimitri bedachte Sandra mit einem Augenzwinkern, bevor er den Tisch wieder verließ. „Ich finde diesen russischen Akzent so anziehend, gab Sandra zu. Lilli nahm Melanie kritisch ins Visier: „Du weißt schon, dass wir heute noch einen Auftritt haben?

    „Ich weiß, wie viel ich vertrage! Melanie blickte trotzig aus dem Fenster. Die anderen schwiegen verlegen. „Ihr wisst nicht, wie das ist: Immer nur zu Hause herumzulungern, hinter den Kindern herzuräumen und den Gatten zu bekochen. Da braucht man einfach mal ein bisschen Spaß und Ablenkung, klagte Melanie resigniert.

    Lilli bereute ihre unüberlegten Worte: „Entschuldige, Melanie. Ich wollte nicht auf dir rumhacken." Sie bedachte Melanie solange mit ihrem treuherzigen Bitte-verzeih-mir-Dackelblick, bis diese zu kichern begann.

    „Warum suchst du dir nicht eine Arbeit?" Lilli war klar, dass sie sich auf dünnes Eis begab, aber sie war der Ansicht, eine gute Freundin sollte auch die Wahrheit sagen dürfen.

    „Was soll ich denn tun? Ich habe ja keine abgeschlossene Ausbildung! Mit einem abgebrochenen Musikstudium kommt man zu keinem Job. Aber was soll’s! Jetzt genießen wir unsere Reise." Melanie fegte das Thema vom Tisch. Dimitri kam ihr mit seinem vollen Tablett gerade gelegen.

    Später begaben sich die Freundinnen aufs freie Oberdeck. Unter vielen „Ohs und „Ahs bewunderten sie die vorbeiziehenden Sehenswürdigkeiten. Am meisten Anklang fand die Elbphilharmonie mit den gebogenen Luxusfenstern und die Speicherstadt.

    „Also der Michel würde auch zum Pflichtprogramm gehören", versuchte Marie, ihre Freundinnen zu überzeugen.

    „Ich weiß nicht, wir haben doch in Vorarlberg mehr als genug Kirchen. Sandra schaute wenig begeistert auf den dunklen Turm und verschwand mit einem: „Ich muss mal, im Unterdeck.

    Lilli blickte ihr wissend nach und sprach aus, was die anderen dachten: „Ich schätze, Dimitri hat schon gepunktet."

    Da Sandra längere Zeit nicht mehr auftauchte und es draußen zu kalt wurde, stiegen sie wieder ins warme Unterdeck. Dort saß Sandra mit lasziv übereinandergeschlagenen Beinen und unterhielt sich angeregt mit Dimitri, der sich vornübergebeugt stehend mit den Händen am Tisch abstützte und an Sandras Lippen hing. Hinsetzen durfte er sich vermutlich nicht. Marie blieb unvermittelt stehen und sagte: „Ich muss noch mal an die frische Luft! Dem fragenden Blick ihrer Freundinnen entgegnete sie: „Danke, ich bin gern allein, und verschwand über die Treppe nach oben.

    Draußen lehnte sich Marie an die Reling, schlang die Arme um sich und atmete die kühle Aprilbrise ein. Sie sinnierte darüber, warum Sandra ihr so auf die Nerven ging. Ihre jüngere Schwester verbreitete meist gute Laune und wirkte so sorglos, wie sie es schon als Kind gewesen war. Marie erinnerte sich noch an Sandras freudiges Gekreische, wenn sie auf den Knien ihres Vaters hatte reiten dürfen oder er sie mit den Händen in die Luft geworfen hatte. Marie war sich sicher, niemals vor Freude gekreischt zu haben. Johannes hatte sie einmal geneckt: „Du bist eine Eisprinzessin. Zeigst nur deine kalte Spitze. Komm, lass mich darunter sehen!" Dann hatte er lustvoll an ihrem Ohrläppchen geknabbert. Marie war es immer zuwider gewesen, wenn Johannes seine Begierde so deutlich gezeigt hatte. Auch beim Sex – gerade beim Sex! Ihr war es am liebsten, wenn es dabei dunkel war und schnell ging. So konnte Johannes nicht bemerken, dass sie keinen Spaß daran hatte.

    Es dauerte länger als geplant, bis sie wieder im Hotel ankamen, weil Lilli unterwegs einen Abstecher in eine Boutique hatte machen wollen und ihre ohnehin üppige Garderobe um ein gelbes Cocktailkleid bereichert hatte.

    „Wir müssen heute Abend Eindruck machen!, erklärte sie ihren Freundinnen. „Du lässt uns alle daneben verblassen, neckte Emma Lilli und strich sich mit den Händen über ihre runden Hüften.

    Alle scharten sich im größeren Dreibettzimmer, um sich gemeinsam „aufzubrezeln, wie sich Melanie ausdrückte. „Gott, ich sehe aus wie Obelix, der Gallier!, klagte sie, als sie sich im großen Wandspiegel betrachtete. Mit ihrer beachtlichen Körpergröße von einhundertachtundachtzig Zentimetern hatte sie sich niemals anfreunden können.

    „Unsinn! Lilli zupfte den Saum von Melanies pflaumenblauem Kleid in die Länge und stellte sich hinter sie. „Sieh nur, die A-Linie und diese Länge passen perfekt zu deiner Figur. Dein Körper hat die Form einer Birne. Und die Farbe passt super zu deinen grauen Augen. Im Hintergrund hörten sie Sandra lachen: „Und was für ein Obst bin dann ich?"

    „Also ein Früchtchen bist du ganz sicher, stellte Lilli grinsend klar. „Aber ernsthaft, klein und zart wie du bist, kannst du fast alles tragen. Das Kleid steht dir übrigens gut, lobte sie Sandras enges hellblaues Kleid, „obwohl du für diese Kleiderlänge langsam doch zu alt bist." Diese Anmerkung konnte sich Lilli nicht verkneifen.

    „Was soll das heißen, zu alt? Solange ich es mir leisten kann, trage ich kurze Kleider!" Sandra blickte stolz auf ihre schlanken Beine, die in hohen Pumps endeten.

    „Recht hast du!, bestätigte Emma und jammerte: „Ich hätte gerne so eine Figur! Ich wurde im falschen Jahrhundert geboren. Rubens wäre mir mit seinem Pinsel nachgelaufen. Erst als ihre Freundinnen in schallendes Gelächter ausbrachen, wurde sich Emma bewusst, was sie soeben gesagt hatte und ein Hauch von Rosa überzog ihre Wangen.

    „Ach, Emma, wir haben doch alle unsere Problemzonen." Dass Maries gutgemeinter Trost unglaubwürdig war, entging keiner ihrer Freundinnen.

    Emma starrte auf Maries tadellose Figur, die in einem dunkelblauen Etuikleid sehr gut zur Geltung kam. „Wo bitte, hast du denn eine Problemzone? Man hörte selten klagende Worte von Emma. Marie murmelte verdutzt etwas von: „… zu schmale Hüften und krumme Zehen.

    „Du jammerst wirklich auf hohem Niveau! Lillis Blick wanderte über Maries perfekte Erscheinung. Dann zupfte sie an Emmas lavendelfarbigem Wickelkleid herum. „Übrigens, du siehst sehr gut aus. Die Farbe passt prima zu deinen himmelblauen Augen! Emma strahlte dankbar, immerhin hatte sie das Kleid auf Lillis Empfehlung hin gekauft.

    „Du bist jetzt die Einzige, die nicht in einer Beerenfarbe gekleidet ist!, stellte Melanie fest. Lilli stach in ihrem gelben Modell aus der farblich harmonisch gekleideten Runde heraus. „Wie ein Kanarienvogel, fügte Melanie frech hinzu, obwohl sie ahnte, dass ihr dafür ein Rüffel drohte.

    Erstaunlicherweise blieb Lilli diesmal gelassen: „Weißt du, Melanie, wenn wir alle im gleichen Farbton kommen, sieht das zwar einheitlich aus, aber wir wollen ja einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Und außerdem macht es mir nichts aus, im Mittelpunkt zu stehen!", fügte sie selbstbewusst hinzu. Lillis Ehrlichkeit war entwaffnend.

    Als sie gemeinsam an Mr. Fu Changs Tresen vorbeistöckelten, schenkte dieser dem eleganten Quintett ein erfreutes Lächeln. „Wünse ainen sönen Abend, die Damen!"

    Vor dem Hotel wartete bereits das zuvor georderte Großraumtaxi, da sie sich aus zwei Gründen gegen die U-Bahn entschieden hatten. Erstens wollte keine der Freundinnen aufgedonnert durch die Flaniermeile von St. David laufen. „Ich hab schon einen Job!", hatte Lilli verkündet. Und zweitens fanden die Freundinnen, dass eine Ankunft im Taxi vor dem Hotel glamouröser wirkte.

    Zur goldenen Welle

    Das Hotel war ein stilvolles Gebäude, das sich in eine prachtvolle Backsteinhäuserzeile reihte. Kurz vor achtzehn Uhr fuhr das Taxi vor dem Hoteleingang vor.

    „Sieht historisch aus, bemerkte Sandra. Da sich ihr Wissen über Baukunst auf ‚gefallen‘ oder ‚nicht gefallen‘ beschränkte, fügte sie hinzu: „Ich meine, es sieht alt und edel aus.

    Lilli blickte suchend umher. „Hier deutet aber gar nichts auf einen Wettbewerb hin!", meinte sie stirnrunzelnd. Auch ihre Freundinnen sahen sich enttäuscht um. Keine Plakate, kein livriertes Empfangspersonal, kein roter Teppich und keine Fotografen waren zu sehen.

    „Sind wir hier schon richtig?" Emma blickte an dem hohen Bau nach oben, als erwarte sie, wenigstens an einem der Fenster einen lauernden Papparazzo zu entdecken.

    „Ich glaube, wir müssen uns damit abfinden, dass hier heute kein gesellschaftliches Ereignis stattfindet", verkündete Marie nüchtern. Sie übernahm würdevoll die Führung, indem sie durch die gläserne Eingangstür voranschritt.

    Die Eingangshalle war groß und versprühte einen altehrwürdigen Charme. Rötliche Marmorsäulen, gesäumt von goldenem Stuck, stützten die hohe Decke. Elegante Sofas und Chintz-Sessel standen auf gediegenen Perserteppichen, der Empfangstresen war aus glänzendem Mahagoni.

    „Mich würde es nicht wundern, wenn plötzlich ein Filmteam auftauchen würde, um die Neuauflage eines Agatha-Christie-Klassikers zu drehen." Melanie war wie ihre Freundinnen schwer beeindruckt.

    Nun eilte auch ein livrierter Page herbei und entschuldigte sich mehrfach, dass er den Damen nicht die Tür geöffnet habe. Die Ladys nahmen die Entschuldigung gnädig zur Kenntnis und gaben dem Pagen, auf dessen Namensschild: George stand, die Chance, sich zu rehabilitieren, indem sie ihn baten, sie zum Saal für den A-cappella-Königinnen-Wettbewerb zu geleiten.

    Boy George brachte sie über Marmorstufen einen Halbstock höher und stellte sie einem gedrungen wirkenden Mann im Nadelstreifenanzug vor. Dieser trug einen dunklen Schnauzbart, seine ebenfalls dunklen Haare waren wie ein Baldachin über die kahle Stirn frisiert.

    „Gefärbt!", tuschelte Lilli von hinten in Melanies Ohr.

    „Guten Tag, meine Damen, der Prosecco-Chor – vermute ich da richtig? Ein Nicken der Damenrunde bestätigte seine Vermutung. „Da dürfen wir uns ja auf einen spritzigen Auftritt freuen, fügte Mister Baldachin mit einem anzüglichen Grinsen hinzu.

    Lilli schnaubte und murmelte etwas, dass nach „Idiot" klang. Dafür musste sie einen Fußtritt von Melanie einstecken. Aber Mister Baldachin schien nichts bemerkt zu haben.

    „Ich bin Franco Monetta von der Redaktion Singspuren. Herzlich willkommen!" Franco Monetta verbeugte sich und gab den Blick auf eine kreisrunde Stelle am Hinterkopf frei, für die der Haarbaldachin nicht mehr ausgereicht hatte.

    „Guten Tag, Herr Monetta. Lilli übernahm heute nicht nur farblich das Zepter. „Wo können wir uns einsingen?

    „Ein Raum am Ende des Flurs steht für Sie bereit, erklärte Franco Monetta. „Aber zuerst erkläre ich Ihnen noch den Ablauf. Bitte folgen Sie mir in den Ballsaal!

    Der Saal war nicht sonderlich groß, aber ebenso elegant wie die Eingangshalle. Gegenüber der Eingangsflügeltür befand sich eine Bühne, welche beidseitig von einem dunkelroten Vorhang gerahmt wurde. Davor standen mehrere Stuhlreihen, die für etwa zweihundert Personen Platz boten. Hinter den Sitzplätzen befand sich ein Podest mit vier Stühlen für die Jury.

    „Unsere Fachjury besteht aus Harry Bert, der Ihnen wohl bekannt sein wird, sowie Frau Therese Mosswald, eine Professorin am Musikkonservatorium, dann noch einem Kollegen aus unserer Redaktion, Herr Reto Geser, und mir", erklärte ihnen Franco Monetta.

    „Wer ist Harry Bert?", zischte Lilli Melanie zu – jedoch nicht leise genug.

    „Sie kennen Harry Bert nicht! Sicher, es ist schon ein paar Jahre her, aber Der Junge mit der Mandoline und Möwengeflüster sollten Ihnen bekannt sein. Insbesondere, weil Sie auch nicht mehr zur jüngsten Generation gehören!, scherzte er grinsend. Der Scherz kam bei Lilli allerdings nicht gut an. „Es tut mir leid, aber dieser Sänger ist bei uns in Österreich unbekannt und … Ein weiterer Tritt von Melanie ließ sie verstummen. Lilli wurde bewusst, dass es vielleicht unklug war, ein Jurymitglied vor den Kopf zu stoßen. „Vielleicht sind wir doch schon zu alt", fügte sie selbstaufopfernd hinzu.

    Herr Monetta lächelte säuerlich: „Das kann ich mir nicht vorstellen, Harry Bert feiert nächstes Jahr seinen siebzigsten Geburtstag. Aber wenn Sie meinen …", er grinste süffisant.

    Melanie streifte Lilli mit einem wütenden Seitenblick, als Franco Monetta sie hinter die Bühne geleitete. Emma und Sandra folgten schweigend, während Marie würdevoll hinterher schritt.

    „Sie werden als dritter Chor an die Reihe kommen. Spätestens um viertel vor acht sollten Sie sich hier bereithalten. Welche …? Moment! Ja, hier habe ich die Liste. Ihr erstes Lied ist Only You – eine gute Wahl, das hat auch Chor Nummer 4 gewählt. Da kann die Jury gut einen Vergleich anstellen. Dann Just the way you are, ist zwar nicht so bekannt, aber ich bin darauf gespannt. Haben Sie noch Fragen?"

    „Danke, Herr Monetta. Wir werden uns jetzt vorbereiten." Melanie schenkte ihm ihr schönstes Lächeln und schubste Lilli unsanft vor sich her.

    „Was hast du dir dabei gedacht?", schimpfte sie, als sie die Tür zum Proberaum zugeworfen hatte.

    „Kennst du Harry Bert?" Angriff war die beste Verteidigung – Lilli wusste selbst, dass sie nicht gerade diplomatisch gewesen war.

    „Nein! Aber ist ja auch egal, oder? Es wäre nicht schlecht, wenn du mal nachdenken würdest, bevor du redest!", keifte Melanie.

    „Du bist einfach unge…!" Lillis Protest wurde unterbrochen.

    „Mädels, Give Peace a Chance. Emma schritt wieder einmal schlichtend zwischen die Streitenden ein. Melanie und Lilli verstummten, aber die Spannung zwischen den beiden Frauen war noch immer spürbar. Sandra hielt sich zurück, Marie stellte hingegen gelassen fest: „Ich finde, wir sollten das Ganze nicht so ernst nehmen. So wie es aussieht, wird das hier keine spektakuläre Show. Vermutlich sind wir nur das Animationsprogramm für die Hotelgäste. Aber machen wir das Beste daraus. Wir sind hier, um eine schöne Zeit zu haben, und das ist die Hauptsache oder etwa nicht?

    Bei Maries Worten löste sich die Spannung. Emma und Sandra umarmten Marie dankbar. Lilli und Melanie blickten sich reuevoll an und stürzten sich ebenfalls auf Marie. Nach einem ausgiebigen Gruppenknuddeln holte Melanie alle auf den Boden der Tatsachen zurück: „Los, Mädels, einsingen! Zeigen wir denen, was der Prosecco-Chor draufhat!"

    Nach dem Einsingen machte sich trotz Melanies Anfeuerungsparole eine allgemeine Nervosität breit.

    „Verdammt, warum bin ich nur so zappelig? Melanie zerrte am Ausschnitt ihres Kleides wie an einer imaginären Krawatte und fixierte das Getränkeangebot auf dem Tisch. „Die hätten ruhig was Anständiges zum Trinken herstellen können!, maulte sie und schenkte sich aus dem Wasserkrug ein.

    „Hinterher lassen wir es krachen. Versprochen! Lilli trippelte nicht minder nervös im Zimmer umher und klopfte sich mit der Faust auf die Brust. Sandra und Emma saßen blass auf zwei Stühlen. Sie sahen aus, als warteten sie auf ein Strafkommando. Einzig Marie wirkte ruhig und entspannt. Sie hatte die Fingerkuppen aneinandergelegt und summte vor sich hin. „Disziplin ist alles! Die oft gepredigten Worte ihrer Mutter hallten in ihren Ohren.

    „Hört ihr? Lilli lief an die seitliche Zimmerwand und legte ihr Ohr daran. „Da singen sich auch welche ein! Jetzt waren deutlich Frauenstimmen zu hören, die Don’t worry, be happy schmetterten.

    Melanies Kampfgeist erwachte wieder: „Los, Mädels, das können wir besser! Nochmals von vorn!"

    Nach gefühlt fünf Minuten klopfte es an der Tür.

    „Meine Damen, es ist Zeit!" Franco Monetta steckte den Kopf herein und fuchtelte mit den Händen. Die Freundinnen strafften ihre Schultern, als sie ihm im Gänsemarsch folgten.

    Hinter der Bühne tummelten sich scharenweise schick gekleidete Frauen, die sich summend oder flüsternd auf ihren Auftritt vorbereiteten. Franco Monetta hüpfte zwischen ihnen umher wie ein Hahn, der in seinem Hühnerharem Inventur machte. „So, meine Damen, ich muss jetzt auf meinen Juryplatz! Die Reihenfolge sollte klar sein. Alles Weitere übernimmt jetzt mein Kollege Jens Eriksen." Er deutete auf einen großen breitschultrigen Mann mit schulterlangen Haaren und verschwand winkend durch die Menge.

    Jens Eriksen übernahm gelassen das Kommando. Er musste weder hüpfen noch schreien, da er alle durch seine Körpergröße überragte. „Als Erstes kommt der Chor Singschwalben dran. Bitte folgen Sie mir!" Eine Gruppe von Frauen Ende zwanzig versammelte sich vor Jens Eriksen. Sie trugen dunkelblaue knielange Röcke und weiße Blusen mit blauen Punkten. Die Haare hatten alle mit einer weißen Schleife zusammengebunden.

    „Wie ein Schülerchor!", flüsterte Lilli naserümpfend in Maries Ohr.

    Marie lächelte selbstsicher: „Wir sind eindeutig eleganter!" Die Singschwalben strömten an dem dunkelroten Vorhang vorbei auf die Bühne und der einsetzende Applaus verriet, dass sich der kleine Saal gefüllt hatte.

    Während Jens Eriksen hinter der Bühne seinen Zeigefinger an die Lippen hob und damit das letzte Geflüster zum Verstummen brachte, trällerten die Singschwalben los. Melanies stummes Augenrollen verriet, dass sie von der Darbietung nicht sonderlich beeindruckt war. Ihre Freundinnen teilten ihre Meinung. Melanie drehte ihren Kopf, um zu sehen, wie die anderen Sängerinnen auf diese Leistung reagierten. Ihr Blick blieb an Jens Eriksen hängen, der sie grinsend beobachtete. Melanie grinste zurück. Es war wirklich witzig, denn sie beide waren die Größten unter der wartenden Menschenschar. Er zwinkerte ihr zu und Melanie spürte, wie sie rot wurde. Verlegen senkte sie den Blick auf ihre Schuhspitzen.

    Nach einem weiteren Auftritt eines Chores, den Melanie mit kräuselnden Lippen als „gefahrlos" einstufte, war der Prosecco-Chor an der Reihe. Die Freundinnen schritten mit erhobenem Haupt auf die Bühne, lächelten unter dem aufmunternden Applaus der Gäste und begannen nach Melanies Zeichen für den Einsatz mit ihrem Gesang.

    Als der letzte Ton verklang, wussten sie, dass ihre Darbietung umwerfend gewesen sein musste, denn tosender Applaus schwappte auf die Bühne. Die Sängerinnen verbeugten sich mit strahlenden Gesichtern. Lillis Blick wanderte zum Jurypodest. Harry Bert musste wohl der grauhaarige Mann sein, der mit der selbstsicheren Ausstrahlung eines erfolgreichen Künstlers am Jurytisch saß. Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und hoffte, dass Franco Monetta ihre aufmüpfigen Kommentare für sich behalten hatte.

    „Los, Lilli! Wir sind fertig!" Melanie hakte sich bei Lilli unter. Mit einem letzten Winken folgten sie Sandra, Emma und Marie, die bereits hinter dem Vorhang verschwunden waren.

    „Na, das ist doch super gelaufen! Melanie und Lilli gesellten sich zu ihren wartenden Freundinnen, denen die Erleichterung anzusehen war. Ein pantomimisches „Juhuuu von Emma und eine freudig hüpfende Sandra sprachen für sich. Marie strahlte mit den anderen um die Wette und alle umarmten sich stürmisch.

    „Eine reife Leistung!", flüsterte eine männliche Stimme in Melanies Ohr. Jens Eriksen war von hinten an sie herangetreten. Als sie sich umdrehte, hob er beide Daumen in die Höhe.

    „Danke!", hauchte Melanie und senkte züchtig ihre Augenlider. Jens Eriksen schenkte ihr ein freches Grinsen, bevor er den nächsten Chor auf der Bühne ankündigte. Die Singing Ladys zeigten sich ebenfalls siegeswillig. Der Chor bestand aus sechs hübschen Frauen um die dreißig, die ihren Gesang mit einer hüftschwungreichen Choreografie aufpeppten.

    „Sie wissen, wie man punktet, flüsterte Lilli beeindruckt. „Salsa tanzen und sie klingen auch nicht schlecht.

    „Gesungen haben wir besser! Wenn alles korrekt abläuft, müssten wir ins Finale kommen!, konterte Melanie. „Falls nicht, ist das sowieso nur ein Pseudo-Wettbewerb!

    Melanie sollte Recht behalten. Nach dem letzten Auftritt versammelten sich alle Chöre auf der Bühne. Franco Monetta bahnte sich zwischen den Frauen seinen Weg nach vorne.

    „Meine sehr geehrten Damen! Danke für ihre Darbietungen, die wirklich eine großartige Qualität boten …" Er führte einen ausufernden Monolog, während die angesprochenen Damen auf der Bühne ungeduldig warteten.

    „Nun sag schon …" Melanies Gebet wurde erhört.

    „Und die drei Finalisten um den Titel der A-cappella-Königinnen siiind … Ein nervenzehrender Trommelwirbel übertönte jedes andere Geräusch, bevor er abrupt verstummte und Franco Monetta rief: „Die Singschwalben, der Prosecco-Chor und die Singing Ladys!

    Ein Jubelgeschrei erfüllte den Saal, wobei der Prosecco-Chor nicht minder enthusiastisch hüpfte wie die rund zehn Jahre jüngeren Konkurrentinnen. Franco Monetta informierte das Publikum noch über das Finale am folgenden Samstag, doch auf der Bühne hörte ihm niemand zu – zumindest nicht der Prosecco-Chor.

    „So, jetzt lasst uns feiern!" Lilli hakte sich bei Marie unter, die ungewohnt aufgekratzt wirkte. Sandra, Emma und Melanie lagen sich in den Armen und kicherten ausgelassen.

    „Jaaa – jetzt brauche ich was zu trinken!" Melanie zog ihre Freundinnen von der Bühne.

    „Sollen wir hier …?" Sandra sah sich im langsam sich leerenden Saal um.

    „Nein! Ich habe im Lust-auf-mehr reserviert! Schon vergessen?" Lilli hatte den Tipp aus einem

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