Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Aura von Thalos: Am Pass
Aura von Thalos: Am Pass
Aura von Thalos: Am Pass
eBook405 Seiten5 Stunden

Aura von Thalos: Am Pass

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Wie alle Waisenkinder in Neramah wird die fünfzehnjährige Aura als Sklavin zum Verkauf angeboten. Das aufmüpfige Mädchen rechnet sich keine guten Chancen für ihre Zukunft aus. Dennoch hofft Aura darauf, von irgendwem gekauft zu werden, denn die Alternative wäre noch schlimmer. Umso größer ist ihre Überraschung, als ein Krieger sie erwirbt. Ausgerechnet sie! Dabei weiß doch jeder, dass Krieger sich nur begabte und folgsame Sklaven und Sklavinnen kaufen. Ob es sich um ein Versehen handelt? Aber Aaron Thalos nimmt Aura mit zum Pass, wo die Gefahr der Kreaturen aus dem Anderen Land allgegenwärtig ist. Schon bald stellt Aura fest, dass ihr neuer Herr nicht wie die anderen Krieger ist. Und auch die Aufgabe, die er ihr auferlegt, ist alles andere als gewöhnlich. Was zunächst wie eine glückliche Fügung des Schicksals aussieht, bringt schon bald jede Menge Probleme mit sich.
Aura muss beweisen, was in ihr steckt - denn Gefahr lauert nicht nur außerhalb der Landesgrenzen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum17. Aug. 2022
ISBN9783347616325
Aura von Thalos: Am Pass
Autor

Britta Heinemeyer

Britta Heinemeyer wurde 1986 in Gladbeck geboren. Nach dem Abitur zog sie nach Bückeburg, wo sie eine Ausbildung zur Pharmazeutisch-technischen Assistentin absolvierte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits mehrere Notizbücher mit Ideen und Bruchstücken von Romanen gefüllt. Die Arbeit in der Apotheke ließ ihr jedoch kaum Zeit, an diesen Ideen weiterzuarbeiten. Unzufrieden mit der Situation, entschloss sie sich zu einer Veränderung. 2010 schrieb sie sich an der Ruhr-Universität Bochum für ein Studium der Komparatistik und Medienwissenschaften ein. Gegen Ende des Studiums stellte sie die Rohfassung ihres ersten Romans fertig (dieser wird voraussichtlich Ende 2022 veröffentlicht). Nach dem erfolgreichen Studienabschluss zog sie mit ihrem Mann nach England und lebte dort in der Nähe von Cambridge. Sie überarbeitete den ersten Roman und schrieb zwei weitere Romane, bevor sie sich Ende 2021 dazu entschied, ihre Bücher selbst zu publizieren. Im gleichen Jahr verließen sie und ihr Mann England und wohnen nun in den Niederlanden, wo sie an ihrem nächsten Roman arbeitet.

Ähnlich wie Aura von Thalos

Titel in dieser Serie (1)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Kinder – Tiere für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Aura von Thalos

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Aura von Thalos - Britta Heinemeyer

    1

    Ich rede mir ein, dass ich nur aufgrund der Kälte dermaßen zittere. Es hat nicht im Geringsten damit zu tun, dass ich in den nächsten Stunden verkauft werde. Mir ist so schlecht wie schon lange nicht mehr, aber ich habe mir geschworen, stark zu bleiben und mir keine Blöße zu geben.

    Der Weg zum Marktplatz von Naarel, der Stadt, in der ich mein bisheriges Leben verbracht habe, kommt mir heute wesentlich länger vor als sonst. Vielleicht liegt es an meinen winzigen, unsteten Schritten. Ich halte meinen Blick auf den vereisten Boden vor mir gesenkt. Zum einen will ich auf dem glatten Untergrund nicht wegrutschen, was einen großen Teil meiner Konzentration in Anspruch nimmt. Zum anderen, und das ist der wichtigere Punkt, habe ich keine Lust, in die Gesichter der Menschen zu blicken, die uns auf unserem Weg anstarren. Fenster werden geöffnet, und ich kann mir vorstellen, wie sich die Bewohner von Naarel aus ihnen hinauslehnen, um einen besseren Blick auf uns erhaschen zu können. Sie machen sich nicht die Mühe, ihre tratschenden Stimmen zu senken, sondern kommentieren uns mit einer hämischen Freude, die mir egal sein sollte, es aber nicht ist. Die Verkaufstage lösen in dieser Stadt eine schon fast festtägliche Stimmung aus und sorgen bei denen, die nicht betroffen sind, für gern gesehene Abwechslung zum Alltag.

    Ich weiß, dass ich keine Wahl habe, trotzdem würde ich am liebsten davonrennen. Es ist ja nicht so, als wäre ich jemals in meinem Leben frei gewesen. Allerdings bevorzuge ich das bekannte Übel dem Unbekannten, das nun auf mich lauert. Einen Schritt vor den anderen setzen. Später am Tag wird sich die Frostschicht auf dem Boden in zähen Matsch verwandeln, aber noch ist es dafür zu früh, also passe ich weiter auf, wo ich hintrete.

    Ich höre Tilly hinter mir schniefen und muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass sie weint. Ich kann sie nicht ausstehen, habe in diesem Moment jedoch zum ersten Mal Mitleid mit ihr. Tilly hat die meiste Zeit ihres Lebens damit verbracht, mein Leben anstrengender zu machen. Sie ist hinterhältig und gemein, dennoch habe ich das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen und ihr zu sagen, dass alles nicht so schlimm wird.

    Wir haben alle versucht, uns auf diesen Tag vorzubereiten, aber ich bin überzeugt, dass es niemanden in unserer elenden Gruppe gibt, der nicht nervös und unsicher ist.

    In ganz Neramah werden Waisenkinder als Sklaven verkauft. Die Jungen mit vierzehn Jahren und die Mädchen mit fünfzehn. Ich habe meine Eltern nie gekannt, da ich als Baby ausgesetzt wurde und dann im Heim aufgewachsen bin. Seit frühesten Kindertagen wusste ich, dass der Tag kommen würde, an dem ich verkauft werde. Ich dachte immer, er wäre weit weg, aber hier bin ich nun. Wenige Schritte von dem großen Holzpodium entfernt, auf dem wir gleich ausgestellt werden. Dasselbe Podium, auf dem an anderen Tagen Tiere zum Verkauf angeboten werden.

    Es gibt einen Steckbrief zu jeder von uns, in dem unsere Stärken und Schwächen aufgelistet sind. Wir haben diese nie zu Gesicht bekommen, allerdings kann ich mir denken, was in meinem steht. Ich bin nicht gerade für Folgsamkeit und Höflichkeit bekannt. Dafür kann ich mir gut Dinge merken und bin ausdauernd, aber ich glaube kaum, dass diese Eigenschaften meine negativen ausbügeln können.

    Yvon war stark. Viel stärker als die meisten anderen Jungen, die mit ihm zusammen verkauft wurden. Eigentlich hätten sie mir nicht erzählen dürfen, wo er gelandet ist, aber ich habe damals keine Ruhe gegeben. Yvon und ich haben so gut wie keine Chance, uns jemals wiederzusehen. Ich musste nur wissen, wo er war. Sie hatten ihn an einen der Schiffsbauer verkauft, also war er nach Lumios gezogen, und nun lag das halbe Land zwischen ihm und mir. Seit einem Jahr habe ich nichts von ihm gehört. Ein stilles Jahr, in dem die Frage an mir nagte, was genau zwischen Yvon und mir eigentlich ist. Wir sind beste Freunde gewesen, all die Jahre, die wir zusammen im Heim gelebt und überlebt haben. Das wäre immer noch so, wenn da nicht die Ereignisse in der letzten Nacht gewesen wären, bevor er verkauft wurde.

    Nel vor mir hält an, und ich muss aufpassen, nicht in sie hineinzulaufen. Der abrupte Stopp lenkt meine Gedanken von der Vergangenheit auf das Geschehen um mich herum. Wir sind am Podium angekommen, und eine nach der anderen klettern wir empor. Das Konstrukt unter meinen Füßen weist deutlich Spuren von Blut und anderen Körperflüssigkeiten auf, die das Holz überziehen. Ich versuche mich daran zu erinnern, wann das Podium das letzte Mal komplett erneuert wurde, um nicht über den Verkauf nachdenken zu müssen. Mein Gedächtnis gibt mir jedoch keine Antwort, sosehr ich auch darin grabe, was ungewöhnlich ist, weil ich mir sonst immer alles merken kann. Aber heute ist eben nichts normal.

    Wir stellen uns in mehreren Reihen auf, wobei ich etwa in der Mitte der Plattform lande. Ich habe mir vorgenommen, gerade zu stehen, so stolz ich kann, und meinem Schicksal mutig entgegenzublicken. Der Wind bläst allerdings scharf und eisig, sodass ich die Schultern anziehe und meinen Kopf, soweit es geht, in meinem Halstuch verstecke. Wir finden nicht alle einen Platz, daher müssen etliche Mädchen in der Reihe darauf warten, aufrücken zu können, sobald eine vom Podium verkauft wird.

    Vor uns hat sich bereits eine große Menschenmenge versammelt. Zu den potenziellen Käufern haben sich die schaulustigen Bewohner gesellt, um nichts von dem Spektakel zu verpassen. Es ist laut und in der Menge herrscht eine ausgelassene Stimmung. Ich versuche über die Köpfe hinwegzusehen und zu ignorieren, dass ich angestarrt werde. Ein schlaksiges Mädchen mit struppigen, blonden Haaren und dunkelgrauen Augen, die einem Himmel voller Sturmwolken ähneln. Zumindest ist das die Beschreibung von Yvon.

    Ich bete darum, dass ich in dieselbe Stadt wie er verkauft werde. Dann hätte ich eine winzige Chance, ihn wiederzusehen. An diesen Gedanken klammere ich mich fest, als ginge es um mein Leben.

    Im Vergleich zu den Verkäufen der letzten Jahre sind wir eine große Gruppe, weswegen die Käufer sich Zeit lassen können und nicht das erstbeste Mädchen nehmen müssen, auf das ihr Blick fällt. Sie sehen sorgfältig die Papiere durch und kommen aufs Podium, um uns genau in Augenschein zu nehmen. Also, die anderen Mädchen. Mich sieht keiner der Käufer an, was mich nicht verwundert.

    Es sind etwa zwei Stunden vergangen, als eines der Mädchen hinter mir versucht zu fliehen. Ich kann schnelle Schritte übers Holz und direkt darauf laute Rufe hören. Instinktiv schließe ich die Augen. Jede von uns weiß genau, was passiert, wenn man etwas Derartiges versucht. Es gibt genug Erzählungen darüber, und ich habe es selbst vor einigen Jahren erlebt, als Yvon und ich uns den Verkauf im Sommer angesehen haben. Ich will gar nicht wissen, wer dumm genug war, einen Fluchtversuch zu wagen. Ich kann die Schreie in der Menge hören und dann ein schrilles und kaum mehr menschliches Aufheulen. Natürlich wurde sie erwischt, schließlich ist noch nie jemand entkommen. Und selbst wenn, wo sollten wir auch hin? Niemand würde uns aufnehmen, und ohne Herrn sind wir vogelfrei.

    Ich kneife die Augen weiterhin zusammen. Traurigerweise kann ich mir genau ausmalen, was gerade passiert. Sie werden ihr eine Schlinge um den Hals legen und an der Mauer hinter uns hochziehen, bis ihre Hände aufhören, panisch an dem Seil zu zerren, und ihre Füße nicht mehr zucken. Ein weiteres Mädchen, das als Abschreckung für alle anderen dient. Erst als ich sicher bin, dass es vorüber ist, öffne ich die Augen wieder. Ich werde mich nicht umdrehen. Ich werde nicht nachsehen, welche von uns es ist. Stattdessen starre ich weiter geradeaus, über die Menge hinweg, und versuche, meinen verkrampften Magen zu beruhigen und den Schmerz in meinem Inneren zu unterdrücken. Der Verkauf geht nach dem Vorfall normal weiter, als wäre nichts geschehen.

    Nach etlichen Stunden ist es mir fast egal, wer mich kauft, solange ich nur endlich hinunterdarf, um mich irgendwo zu wärmen, meine Blase zu leeren und etwas zu essen. Mein Magen knurrt mittlerweile laut und vernehmlich. Während um mich herum die Mädchen verkauft werden, stehe ich immer noch an derselben Stelle wie zu Beginn. Meine Nase gleicht einem Eiszapfen und meine Finger sind schon lange taub. Ich habe Geschichten von Mädchen gehört, die niemand haben wollte und die dann im Freudenhaus gelandet sind. Ich versuche, nicht darüber nachzudenken. Ganz gelingt es mir nicht.

    Die Zuschauerzahl hat sich merklich verringert. Dadurch fällt der Krieger, der sich seinen Weg über den Platz sucht, umso mehr auf. Ich kann keine Waffe an ihm sehen, aber das macht ihn nicht weniger respekteinflößend. Seine weiße Maske glänzt hell im Licht der frühen Nachmittagssonne, lässt ihn fast ein wenig unmenschlich wirken. Er überragt die meisten anderen um mindestens eine Kopflänge, fast schon zwei. Ich habe bisher kaum Krieger gesehen, allerdings kennt jedes Kind die Geschichten über die außergewöhnlich großen und starken Männer, die am Pass oder am Südtor dafür sorgen, dass Neramah nicht von den Kreaturen des Anderen Landes überrannt wird. Ohne Zögern kommt er zum Podium und beginnt damit, sich die Beschreibungen der übrig gebliebenen Mädchen durchzulesen.

    Ich kann nicht länger stehen. Meine Glieder sind völlig verkrampft, und ich habe das Bedürfnis, mich in einer Ecke zu verkriechen. Stattdessen zwinge ich mich dazu, weiter unbeweglich auszuharren. Das Auftauchen des Kriegers hat für einigen Tumult gesorgt, sowohl bei den Schaulustigen als auch bei den verbleibenden Mädchen. Ich ignoriere die gezischten Kommentare um mich herum.

    Als der ganz in schwarz gekleidete Krieger vor mir steht, kann ich es mir allerdings nicht verkneifen, zu seinem Gesicht aufzublicken. Er ist die kleine Treppe hinaufgekommen und direkt zu mir. Ich weiß, dass es ein Versehen sein muss. Wenn ein Krieger eine Sklavin kauft, dann wählt er diejenige, die am folgsamsten ist, die jedem Befehl ohne Zögern folgt. Das bin nicht ich.

    Er dreht sich um, und ich kann nicht anders, ich atme tief aus. Dabei hatte ich gar nicht gemerkt, dass ich die Luft angehalten habe.

    »Ich nehme sie«, sagt der Krieger, und seine dunkle Stimme dringt in mein Ohr, ohne dass sie mein Bewusstsein erreicht.

    Erst als die anderen mich schubsen, wird mir klar, dass ich ihm folgen muss. Mein Magen zieht sich erneut zusammen. Vielleicht sind die Geschichten von den strengen Kriegern, die ihren Sklaven alles abverlangen, nicht wahr. Vielleicht werden sie nur erzählt, um unartige Kinder wie mich zu erschrecken.

    Wie in Trance trete ich an den Rand des Podiums und muss aufpassen, nicht die Treppe hinunterzufallen. Es ist leicht, dem Krieger zu folgen, denn die Menge teilt sich respektvoll vor ihm. Ich werfe einen Blick zu den letzten Mädchen zurück, die mich alle überrascht anstarren. Ich sehe, wer an der Mauer hängt, und muss mich beherrschen, nicht zu schreien. Dann wende ich mich um und kehre meinem bisherigen Leben den Rücken zu.

    Meine Füße tragen mich automatisch vorwärts, kribbeln unangenehm nach all dem Stehen, aber bewegen sich, worüber ich dankbar bin. Plötzlich geht mir etwas auf und ich muss dieses Mal tatsächlich die Tränen zurückhalten. Egal ob der Krieger am Pass oder am Südtor dient, zwischen diesen Orten und Lumios, wo Yvon wohnt, liegt das gesamte Land. Meine Hoffnung, ihn doch noch wiederzusehen, ist mit einem Schlag zerstört. Mit hängendem Kopf und stechenden Schmerzen in meinem Brustbereich schleiche ich meinem neuen Herrn hinterher.

    2

    Vor dem Gasthaus mit Namen Das Schwarze Pferd hält der Krieger an und deutet auf die Gasse daneben. Ich weiß, dass sich hinter dem Gebäude die Latrinen befinden, und flitze ohne ein Wort los, wundere mich jedoch darüber, dass der Krieger das auch zu wissen scheint. Vielleicht ist es nicht das erste Mal, dass er in Naarel ist. Zumindest hat er sich eins der besseren Gasthäuser ausgesucht. Als ich zurück zum Eingang komme, steht der Krieger noch davor und wartet auf mich. Gemeinsam betreten wir das Gasthaus, wo er sich an einen kleinen Tisch in der Nähe des Fensters setzt, das auf die Straße hinauszeigt. Mit seiner Hand bedeutet er mir, ebenfalls Platz zu nehmen. Ich bin darum bemüht, mich nicht wie ein Sack Mehl auf den Stuhl fallen zu lassen. Ich habe auch meinen Stolz.

    Nach der Kälte kommt mir der große Raum viel zu warm und stickig vor. Ich löse mein Tuch und bin mir des Blickes bewusst, mit dem der Krieger mich gründlich mustert. Dann entschuldigt er sich und geht zur Theke. Ich reibe meine Hände aneinander, um das Gefühl in ihnen wieder zu erlangen. Meine Fingerspitzen sind blau angelaufen, aber zumindest kann ich sie noch bewegen, wie ich erleichtert feststelle.

    Der Krieger kommt zurück und stellt einen dampfenden Becher vor mir ab. Ich kann den starken, traditionellen Tee riechen, den ich gerne mag, aber den wir im Heim nur selten bekommen haben. Er hat sich ebenfalls einen Tee mitgebracht und sitzt mir nun wieder gegenüber. Ich strecke meine Hände nach dem Becher aus und muss aufpassen, mich nicht zu verbrennen. Wie gut die Hitze tut!

    »Ich heiße Aaron Thalos«, sagt der Krieger mit seiner tiefen Stimme, ohne den Blick von mir abzuwenden.

    Seine Augen sind von einem dunklen Blau und stechen hinter der weißlichen Maske deutlich hervor. Seine schulterlangen, dunkelbraunen Haare trägt er zu einem lockeren Zopf gebunden.

    Ich nicke. Soll ich ihm meinen Namen sagen? Schließlich weiß er diesen bereits aus dem Bericht über mich. Ich entscheide mich zu schweigen.

    Ein junger Mann stellt zwei große Schüsseln mit Eintopf vor uns ab. Ich kenne ihn flüchtig, weil auch er ein Heimkind gewesen ist und einige Jahre vor mir verkauft wurde. Seine Augen wandern zwischen mir und dem Krieger hin und her, als könnte er nicht glauben, was er sieht.

    »Das ist alles«, sagt Aaron bestimmt, und der junge Mann, der auf den Namen Ovin hört, zieht ab.

    Ich klammere mich an meinen Becher, weil mir nichts Besseres einfällt. Meine Hände sind mittlerweile rot, dennoch lasse ich nicht los. Die ganze Situation erscheint mir irreal, und ich habe keine Ahnung, wie ich mich verhalten soll.

    »In deinem Bericht steht nichts über deine Reitkünste«, sagt Aaron nach einer Weile.

    Er ist bereits mit seinem Eintopf beschäftigt, während ich noch versuche, das Geschehen zu verarbeiten und warm zu werden. Ich würde gerne auf meine schnippische Art antworten, aber alles, was ich hervorbringe, ist: »Ich kann nicht reiten.«

    Aaron nickt und isst weiter. Es ist mir unmöglich, von seinem maskierten Gesicht abzulesen, was er von meiner Antwort hält.

    Ich hoffe bloß, dass er nicht vorhat, die Strecke zum Pass oder zum Südtor auf dem Rücken eines Pferdes zurückzulegen. Nicht nur, dass ich nicht reiten kann, ich habe panische Angst vor den Viechern. Vor einigen Jahren hat ein wild gewordenes Kutschenpferd ein Heimkind vor meinen Augen niedergetrampelt. Der Anblick hat mich wochenlang verfolgt. Wenn ich darüber nachdenke, treten die Bilder viel zu deutlich wieder vor mein inneres Auge, also lenke ich mich mit den realen Dingen vor mir ab.

    Es ist faszinierend, wie sich Aarons Maske beim Essen bewegt. Ich habe bisher noch nie eine Kriegermaske aus der Nähe gesehen und ich kann nicht anders, als sie wieder und wieder anzustarren, wobei ich versuche, es nicht allzu offen zu zeigen. Die Maske wirkt wie aus Glas, in das ein feiner, weißer Nebel eingesperrt ist. Sie ist bis zu einem gewissen Grad beweglich und passt sich den darunter liegenden Zügen an. Und was mich wirklich interessiert: Wächst eigentlich keinem der Krieger ein Bart?

    »Iss«, sagt Aaron, aber klingt nicht unfreundlich. Ich wende den Blick ab und kann nicht verhindern, dass mir das Blut in die Wangen schießt. Mein Starren war wohl doch offensichtlicher, als ich dachte. »Wir haben einen langen Weg vor uns, Aura.«

    Er rollt das R beim Sprechen ganz leicht, was meinem Namen einen exotischen Klang verleiht. Ich nehme meinen Löffel und beginne zu essen. Für einen Moment hatte ich vergessen, wie hungrig ich bin, aber jetzt muss ich mich beherrschen, nicht die Schüssel aufzunehmen und die Brühe direkt daraus zu trinken.

    Wo Nel und Tilly und die anderen wohl gerade sind? Ich wünsche mir, ich könnte Yvon davon berichten, dass ich von einem Krieger gekauft worden bin. Ich, die aufmüpfige Aura, der seit Monaten gesagt wurde, dass mich kein respektabler Mann kaufen wird, wenn ich mein Verhalten nicht bessere. Ich kann mir gut vorstellen, wie Yvon bei dieser Neuigkeit den Kopf schütteln würde, ein leichtes Grinsen auf seinen Zügen.

    Mir liegt auf der Zunge, Aaron zu fragen, warum er sich ausgerechnet für mich entschieden hat, allerdings bin ich nicht in der Position, diese Frage zu stellen.

    »Sind das alle Kleidungsstücke, die du besitzt?«, will er wissen, nachdem er seine Schüssel geleert hat.

    Ich nicke und fische mit meinem Löffel ein Stück Gemüse aus meiner Suppe. Ich bin nicht sicher, worum es sich dabei handelt, aber bei Essen bin ich noch nie wählerisch gewesen. Dann sehe ich an mir herunter auf meine Kleidung. Alles aus meiner Kiste, was ich mir heute Morgen nicht angezogen habe, hat die Heimleitung an sich genommen, um es einem anderen Kind zu geben. Inklusive der Kiste.

    »Ist dir nicht kalt?«

    »Gerade nicht. Draußen auf dem Podium war es eisig«, antworte ich ehrlich und muss bei der Erinnerung ein Schaudern unterdrücken.

    Der Verkauf war erniedrigender gewesen, als ich es mir vorgestellt hatte, und ist nichts, woran ich je wieder denken möchte. Auch wenn ich weiß, dass das unmöglich sein wird, denn dieser Tag hat sich bereits in mein Gedächtnis gebrannt.

    Ich schaffe meinen Eintopf nicht. Entweder liegt es an der Aufregung oder daran, dass ich eine derart große Portion nicht gewohnt bin. Mit Bedauern sehe ich in meine Schüssel, kann mich aber beim besten Willen nicht zu einem weiteren Bissen bewegen.

    »Bist du fertig?«, fragt Aaron, als ich nur noch Gemüsestücke hin und her schiebe. Ich nicke und lege den Löffel zur Seite. »Dann komm.«

    In meinem Körper hat sich eine angenehme Wärme ausgebreitet, und ich habe keine Lust, wieder hinaus in die Kälte zu müssen, aber ich bin auch neugierig, wohin es nun für mich gehen wird, also springe ich von meinem Stuhl auf und folge meinem neuen Herrn.

    Ich habe damit gerechnet, dass wir uns direkt auf den Heimweg machen, aber Aaron führt mich durch die Stadt zu Warm und Weit, einem Bekleidungsgeschäft, das ich bisher nur von außen gesehen habe. Dort verlangt er nach einem Umhang für mich. Ich erwarte, dass mich der angesprochene Mann naserümpfend anschauen wird, jedoch behandelt er mich, als wäre ich ein Mitglied der gehobenen Gesellschaft. Er hat etliche wollene Umhänge vorrätig, die mir von der Länge her passen würden.

    »Such dir den aus, der dir gefällt«, sagt Aaron und ich traue meinen Ohren nicht. Ich sehe zu ihm, um mich zu vergewissern, dass ich richtig verstanden habe. »Sieh nicht mich an, sondern die Umhänge. Ich will heute noch los«, meint er, aber es liegt keine Strenge in seiner Stimme.

    Also lasse ich meine vor Aufregung zitternden Hände über die Stoffe gleiten und entscheide mich für einen dunkelgrünen Umhang, der mit einer bronzenen Schnalle zusammengehalten wird. Aaron kauft mir passend dazu Handschuhe. Dann darf ich mir in einem weiteren Laden feste Stiefel aussuchen. Nur zu gerne lasse ich meine abgelaufenen und löchrigen Schuhe zurück.

    »Das muss für den Weg reichen. Alles andere kaufen wir dir am Pass«, bestimmt Aaron, und wir laufen gemeinsam in Richtung des östlichen Stadttores.

    Ich versuche mich zu bedanken, aber die Worte kommen verquer aus meinem Mund. Sprachlich bin ich nicht die Beste. Aaron winkt ab. Der Preis für die Kleidung, der mir unglaublich hoch vorkommt, scheint ihn kaum zu interessieren. Die Freude über meine neuen Schätze hält so lange an, bis sich Aaron sein Pferd aus dem Stall in der Nähe der Stadtmauer holen lässt. Das Tier ist pechschwarz und so riesig, dass ich das Gefühl habe, ohne Probleme unter dessen Bauch hindurch laufen zu können. Nicht, dass ich das jemals ausprobieren würde.

    »Das ist Donnerschlag«, erklärt Aaron und streicht dem Pferd über die Flanke. Sein Stolz ist deutlich zu hören. Ich hingegen spüre den Eintopf langsam wieder hochkommen. »Da du nicht reiten kannst, werden wir beide zusammen reiten«, sagt er, verstaut etwas in den Satteltaschen und wendet sich dann wieder zu mir. »Bist du bereit?«

    Nein. Ich bin für nichts bereit, was heute passiert ist, nicke trotzdem und trete neben Donnerschlag. Im Stillen bete ich darum, dass er mich nicht direkt niedertrampelt. Aaron umfasst meine Hüfte und hebt mich ohne Mühe auf den Rücken des Biestes. Donnerschlag wiehert und schüttelt seinen Kopf, was meine Panik steigert. Mein Kleid ist für den Sitz auf dem Pferd völlig unpraktisch. Ich versuche, meinen Umhang über die Stellen zu ziehen, an denen mein Kleid hochgerutscht ist. Wenn ich doch wenigstens eine Hose darunter tragen würde! Selbst über eine Strumpfhose hätte ich mich gefreut, auch wenn ich diese normalerweise verabscheue. Jedoch hat der Heimleiter es nicht für nötig gehalten, uns Mädchen damit auszustatten. Nicht einmal im Winter, wenn wir es bitter nötig haben.

    Aaron schwingt sich hinter mir in den Sattel, greift nach den Zügeln und treibt sein Pferd voran. Ich halte mich in der Mähne fest, so gut es geht. Allerdings sitzen wir derart nah beieinander, dass ich nicht das Gefühl habe in Gefahr zu sein, hinunterzufallen. Die gesamte Situation ist mir furchtbar unangenehm.

    »Versuche, dich der Bewegung von Donnerschlag anzupassen«, sagt Aaron.

    Der hat gut reden. Kaum sind wir durch das Stadttor geritten, wird mein Hintern schon taub. Mein Magen rumort bedenklich, und ich schließe für einen Moment die Augen, um mich zu beruhigen. Das gibt mir jedoch das Gefühl, gar keine Kontrolle über meine Situation zu haben, also öffne ich sie rasch wieder und befehle meinem Magen, Ruhe zu geben.

    Außerhalb der Stadtmauern wuchert Naarel weiter wie ein unbehandeltes Geschwür. Schon lange ist nicht mehr genug Platz innerhalb der Mauern, und daher entstehen Häuser und Hütten um die ursprüngliche Stadt herum. Mittlerweile würde es sich lohnen, eine neue Mauer zu bauen, so groß sind die Außenbezirke geworden. Als wir sie hinter uns lassen, bin ich weiter weg von meinem ehemaligen Zuhause, als ich es jemals war.

    »Wie lange dauert es bis zum Pass?«, wage ich nach einer Weile zu fragen.

    Ich habe keine Ahnung, ob ich Aaron einfach ansprechen darf, aber er antwortet mir prompt: »Es sind drei Tagesreisen. Eigentlich würde es länger dauern, wenn Donnerschlag nicht ausdauernder und schneller als die meisten gewöhnlichen Pferde wäre«, erklärt er.

    Ich möchte weinen. Oder meinen Frust laut hinaus in die Welt schreien. Drei Tage auf diesem Biest kommen mir jetzt schon vor wie drei Tage zu viel. Warum gerade ich? Hätte er nicht ein anderes Mädchen kaufen können? Ich klammere mich in die Mähne und beiße die Zähne zusammen. Ich habe schon einiges in meinem Leben ausgehalten. Da werde ich diesen Ritt doch auch schaffen. Oder nicht?

    3

    Eigentlich hätte ich begeistert sein müssen, immerhin kann ich mir endlich ein Bild davon machen, wie die Welt außerhalb von Naarel aussieht. Mehrere Gründe hindern mich allerdings daran. Erstens ist mir schon wieder kalt. Da hilft auch mein neuer Umhang nicht, wenn mir der Wind von vorne ins Gesicht bläst und meine Nase einfrieren lässt, egal wie hoch ich mein Tuch ziehe. Zweitens hocke ich noch auf diesem riesigen Biest, von dem ich überzeugt bin, dass es mich, würde ich allein auf ihm sitzen, innerhalb von Sekunden in den Dreck befördern würde. Drittens bin ich schrecklich müde. Es ist ein langer Tag gewesen, und die Aussicht auf viele weitere Stunden auf der Straße deprimiert mich. Und als letzten Grund kann ich nur Aaron nennen. Zuerst habe ich gedacht, nach ein oder zwei Stunden würde es mir nichts mehr ausmachen, so nah bei ihm zu sitzen, aber da lag ich falsch. Seine Präsenz lässt sich nicht verleugnen. Er umschließt mich mit seinen Armen und hält die Zügel locker in der Hand, als wäre das alles ein Kinderspiel.

    Ich versuche mich mit der Landschaft und den anderen Reisenden um uns herum abzulenken, was nicht funktioniert. Anstatt meine Gelegenheit zu nutzen, endlich mehr von diesem Land zu sehen, starre ich auf Aarons Hände vor mir und wünsche mich weit weg. Ans Meer zum Beispiel, auch wenn ich das nur aus Geschichten kenne. Ich kenne so vieles nur aus Erzählungen und habe mich damit abgefunden, dass ich Dinge und Orte niemals mit eigenen Augen sehen werde. Nur der Gedanke ans Meer füllt mich mit Bedauern. Zu gerne würde ich die endlose Weite des blauen Ozeans selbst erleben können, aber das wird nun nie geschehen.

    Wie die Berge um den Pass herum aussehen werden? Natürlich habe ich auch von Gebirgen nur gehört, aber diese haben mich nie so angesprochen, wie es die Erzählungen vom Meer getan haben. Ob Yvon den Ozean mag? Oder träumt er von Bergen? Ich schüttele den Gedanken ab, weil ich nicht darüber nachdenken will, dass ich Yvon nie wiedersehen werde, sondern konzentriere mich stattdessen wieder auf meine Umgebung.

    Meine Hände schmerzen von meinem verkrampften Griff, dennoch wage ich es nicht, ihn zu lösen. Wie peinlich es wäre, wenn ich abrutschen würde und Aaron mich auffangen müsste! Ich bin sicher, dass wir bereits einen merkwürdigen Anblick für alle anderen Reisenden bieten, da muss ich nicht noch Aufmerksamkeit auf uns lenken, indem ich vom Pferd stürze.

    Drei Tagesreisen. Ich frage mich, wie Yvon damals zur Küste gelangt ist. Hatte er auch reiten müssen? Oder konnte er in einer Kutsche fahren? Hätte das Schicksal nicht ein bisschen netter zu uns sein können? Und warum sind meine Gedanken schon wieder zu Yvon gewandert, wenn ich das doch gar nicht will? Ich unterdrücke ein Seufzen und starre weiter auf meine Hände.

    Als die Sonne untergeht, halten wir für eine kurze Pause. Anstatt elegant vom Pferd zu steigen, wie Aaron es macht, falle ich mehr oder minder hinunter und habe keine Ahnung, wie ich jemals wieder auf dieses Biest aufsteigen soll. Meine Beine zittern unkontrolliert, meine Arme sind verkrampft und über mein Hinterteil will ich gar nicht erst reden.

    »Beweg dich ein bisschen«, rät Aaron. »Das lockert die Muskeln.«

    Ist der Ritt für ihn überhaupt nicht anstrengend? Ich schätze seinen Rat, aber so wie es sich gerade anfühlt, werden sich meine Muskeln nie wieder lockern. Trotzdem versuche ich seinem Beispiel zu folgen und hampele unbeholfen herum. Seine Maske zeigt es nicht an, aber ich vermute, dass er mich gerade auslacht. Oder ist etwas Derartiges unter der Würde eines Kriegers? Aaron reicht mir einen Schlauch mit schwachem Wein, ein Stück Brot und ein ebenso großes Stück Hartkäse.

    »Es tut mir leid, dass die Reise für dich derart unkomfortabel ist«, sagt er.

    Ich bin maßlos verwirrt. Alles, was ich bisher über das Sklavendasein gelernt habe, wirft er über den Haufen. Ich habe wunderschöne neue Kleidung bekommen, genauso wie ausreichend Nahrung. Und nun entschuldigt sich mein Herr bei mir?

    »Wenn ich vorher gewusst hätte, dass du nicht reiten kannst, hätte ich eine Kutsche organisiert.«

    Kriegern wird doch nachgesagt, völlig gefühllos und eiskalt zu sein. Gibt es noch mehr, was ich mein Leben lang als Tatsache akzeptiert habe und das überhaupt nicht wahr ist?

    »Mir tut es leid, dass ich nicht reiten kann. Bitte verzeiht mir, dass ich Euch bei der Reise behindere.«

    Etwas Besseres fällt mir nicht ein. Ich bin nicht sonderlich gut im Austauschen von Höflichkeiten, aber offensichtlich reicht Aaron meine hölzerne Antwort. Ich nehme mir vor, zumindest meine Angst vor Donnerschlag in den nächsten Tagen zu verlieren. Sobald ich dem blöden Vieh zu nahe komme, fängt es an, unruhig zu werden. Sicher bemerkt es meine Panik und benimmt sich mit Absicht furchterregender als es ohnehin schon ist. Können Pferde so gemein und berechnend sein? Donnerschlags massiger Kopf fährt herum, als ich neben ihn trete. Er schnappt nicht richtig nach mir, trotzdem fühle ich mich bedroht. Das kann ja was werden mit uns beiden.

    Richtig schlimm wird es allerdings erst, als Aaron mir hilft, wieder aufs Pferd zu steigen. Meine Beine sind vom ersten Teil der Reise völlig unbrauchbar, und ich stelle mich wirklich ungeschickt an. Es dauert eine Weile, bis wir beide auf Donnerschlag sitzen und weiterreiten können. Glücklicherweise kommentiert Aaron meine Unfähigkeit mit keinem Wort.

    Ohne die Sonne ist es wesentlich kälter, und ich ziehe den Kopf ein, um dem Wind möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Obwohl ich erschöpft bin, habe ich das Gefühl, ich könnte niemals einschlafen, aber auch da liege ich falsch.

    Ich wache auf, als der Himmel sich langsam aufhellt. Ich lehne an Aaron,der einen Arm um mich gelegt hat, damit ich nicht wegrutschen kann. Für einen winzigen Moment ist mein Leben in Ordnung. Dann trifft mich die Kälte, und meine schmerzenden Gliedmaßen melden sich lautstark. Ich zucke zusammen und versuche, Abstand zwischen uns zu gewinnen, was auf dem Pferderücken unmöglich ist.

    Aaron wartet, bis ich meine zitternden Hände wieder in der Mähne vergraben habe, dann lässt er mich los und greift nach dem Zügel. Zum Glück kann er mein rotes Gesicht nicht sehen. Das einzig Positive an der ganzen Sache ist, dass ich den größten Teil der Nacht verschlafen habe. Ich muss weitaus erschöpfter gewesen sein, als ich gedacht habe.

    »Heute Nacht schlafen wir in einem richtigen Bett«, sagt Aaron, und ich frage mich, ob er überhaupt nicht müde ist.

    Während die Sonne langsam über den Horizont kriecht, kann ich nicht verhindern, dass mich der Anblick unserer Umgebung verzaubert. Naarel ist eine der größten Städte des Landes. Dort kenne ich mich im Gewirr der Gassen perfekt aus. Ich bin den Rauch der Kamine gewohnt, der insbesondere im Winter die Stadt in eine niemals endende Wolke hüllt. Ich kenne alle Gerüche, die guten wie von frisch gebackenem Brot sowie jegliche schlechten, schließlich leben in Naarel tausende Menschen auf engstem Raum zusammen. Es ist stets laut, auch bei Nacht. Obwohl ich fünfzehn Jahre dort gelebt habe, entdeckte ich bis zum Schluss immer etwas Neues an der Stadt.

    Jetzt sehe ich nur Natur. Wir reiten über einen breiten Weg, der links und rechts von brachliegenden Feldern gesäumt ist. Gelegentlich reckt sich ein kahler Baum in den Himmel, die leeren Äste ausgestreckt wie um Hilfe flehende Hände. Ein leichter Nebel liegt über den Feldern und gibt der ganzen Szenerie einen gespenstischen Anblick. Es ist still, abgesehen von dem Getrappel Donnerschlags und

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1