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Ein Kreuz im Leben
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eBook355 Seiten5 Stunden

Ein Kreuz im Leben

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Über dieses E-Book

Hier war er aufgewachsen und hier wird er wohl immer bleiben. Selbst an den muffigen Clubraum hatte er sich inzwischen gewöhnt. Doch an die Niederlagen gegen Timo wird das nie der Fall sein.
Vielleicht war er einfach zu vertieft in seine Gedanken und hat nicht gesehen, was all die Zeit direkt vor ihm lag. Es war mehr als der ewige Beton.

Ja, alles im Leben ist eine Schatzsuche. Zwangsläufig wird jeder von uns sein rotes Kreuz auf der Karte finden. Dann müssen wir bereit sein, zu der Schaufel zu greifen und anfangen zu graben. Und ich werde bereit sein.

Ein Abenteuer, das zeigt, dass man seine Wurzeln zurücklassen kann. Ohne Plan, aber mit einer Karte in der Hand, liegt einem die Welt zu Füßen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum10. Aug. 2021
ISBN9783347227972
Ein Kreuz im Leben

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    Buchvorschau

    Ein Kreuz im Leben - Frederik Röhrs

    Kapitel 1: Wer die Wahrheit sagt

    „Es ist echt schön hier." Die meisten Menschen, die diesen Satz von mir an diesem Ort zu hören bekommen, runzeln nur mit der Stirn. Ich gebe es zu. Für die meisten Menschen ist das hier nicht der Inbegriff von Schönheit, aber in meinen Augen ist es das Beste, was es gibt. Mein wunderschöner Plattenbau.

    Solange ich denken kann, wohne ich hier. Ich wurde aus dem Krankenhaus entlassen, da war ich nur wenige Tage alt und schon durfte ich die uneingeschränkte Autarkie in diesem monströsen Betonblock genießen. Es war die Freiheit in einem sehr beschränkten Raum. Ich kannte nur noch zwei weitere Mieter in diesem Gebäude: unsere Nachbarn und Timo.

    Timo war schon immer mein Freund. Naja, zuerst waren wir Feinde, bis wir Freunde wurden. Ich hatte zu meinem dritten Geburtstag ein Dreirad geschenkt bekommen. Sehr zum Leidwesen meiner Eltern. Immerzu bettelte ich, dass jemand mit mir nach draußen kam, damit ich auf dem Betonplatz vor dem Eingang einige Runden drehen konnte, bevor ich mit roten Backen und verrotzter Nase, aber freudestrahlend von meinen Eltern wieder ins Gebäude getrieben wurde. Wir waren immer solange draußen, wie meine Eltern für eine Zigarette an Zeit brauchten. Das war ein wahrer Pluspunkt meiner Geburt, meine Eltern hörten auf, in der Wohnung zu rauchen. Jetzt hatte ich das Erbe von ihnen übernommen und rauchte in der Wohnung. Meine Eltern waren nicht tot, um Gottes willen. Sie waren noch quicklebendig.

    Jetzt aber zurück zum Kern der Geschichte. Timo ist ein Jahr älter als ich. Er wurde halt ein Jahr früher geboren als ich und das sogar auf ein paar Tage ziemlich genau. Sein Vater war irgendwann, als er noch in die Windeln geschissen hat, abgehauen und seine Mutter komplett überfordert mit seinen anderen drei Geschwistern.

    Ich glaube, es hatte an jenem Tag geregnet. Ich habe draußen wieder meine Runden auf dem Platz gedreht und Timo saß auf einer Bank, aß irgendwelche Gummibären und sah zu mir herüber. Ich war schon fast fünf und recht groß für mein Alter, trotzdem machte mir das Dreirad noch Riesenspaß. Als ich wieder an Timo vorbeifuhr, streckte er seinen Finger aus und rief: „Guckt mal das Riesenbaby." Wir waren die Einzigen, bis auf meinen Vater, der etwas abseits mit jemanden telefonierte. Seine Worte hallten von den kahlen Betonwänden unseres Blocks wider. Und dazu seine Lache, von da an wusste ich, dass das Leben schrecklich war. Ganz besonders Kinder konnten schrecklich sein. Wie sagt man so schön: Kinder und Betrunkene sagen immer die Wahrheit?

    Vielleicht gab es einen wahren Kern in der Aussage. Ich war schon ein echtes Riesenbaby. Mit den Knien stieß ich in regelmäßigen Abständen gegen den Lenker und schon nach wenigen Minuten brauchte ich eine Pause, weil meine Knie von den Zusammenstößen schmerzten.

    Ich hielt an und sah zu Timo. Er blickte in die Ferne, als würde er mich nicht wahrnehmen, als wäre ich nur heiße Luft für ihn. Er nahm sich noch eine Gummischlange aus der Tüte und sog sie wie eine Spaghetti ein. Tränen schossen mir in die Augen. Ich glaube, Baby war für einen Fünfjährigen schon eine schlimme Beleidigung. Wütend stampfte ich zu ihm herüber und schlug ihm die Tüte aus der Hand. Dann lief ich heulend zu meinem Vater. Ende der Geschichte. Keine Schlägerei unter Kleinwüchsigen. Nichts Nervenaufreibendes. Doch ich fühlte mich mutig. Für wenige Sekunden fühlte ich mich unbesiegbar. Ich hatte es ihm so richtig gezeigt.

    Ein paar Tage später klingelte er bei mir und hielt mir seine Tüte mit Gummibärchen hin. Aus Feinden wurden Freunde. Freunde fürs Leben. Ab dann ließ ich das Dreirad auch in der Ecke stehen. Timo hatte etwas Wahres gesagt und es hatte mich schockiert. Ich war vieles, aber bei weitem kein Riesenbaby.

    Ich will aber keinen mit öden Kindergeschichten langweilen, so nett sie auch sein mögen. Ich war auch kein Kind mehr. Das Dreirad existiert nicht mehr und ich war auch nicht mehr fünf.

    Ich war jetzt siebzehn und stand noch in demselben Zimmer. Und die größte Geschichte meines Lebens sollte dort begingen, wo ich meine Lebenszeit verbracht hatte. In meinem Block.

    Im Wohnzimmer oder im Schlafzimmer meiner Schwester, je nachdem, wie man es sehen wollte, dudelte wie jeden Tag der Fernseher. Mein Vater war zuhause und sah fern, während meine Mutter sich am Discounter um die Ecke etwas dazuverdiente. Wir lebten ohne viel Geld. Wir besaßen keine großen Reichtümer, doch das wollten wir auch nicht. Meine Schwester war erst sieben, eine ungewollte Schwangerschaft, wie ich anmerken darf, und sie dürfte es ebenfalls nicht stören. Nach ihrer Geburt wurde es etwas enger in der Wohnung, doch meine Eltern und ich hatten beschlossen, nicht umzuziehen. Ob es an dem Geld lag, hinterfragte ich nie.

    Ich stand in meinem Zimmer und blickte auf die Wäscheberge, die mich umgaben. Lüften müsste ich vielleicht auch mal. Meine Gedanken rasten. Wie konnte ich mich nur wieder in diese Situation manövrieren? Das heißeste Mädchen aus unserer Klasse, auf die ich zugegebener Weise noch total abfuhr, wollte heute zu mir kommen. Mir blieben nur noch wenige Stunden etwas Klarschiff zu machen. Es war Schwachsinn. Unser Erdkundelehrer wollte von uns ein Referat. Natürlich hatte er uns zugeteilt. Als ich erfuhr, mit wem ich zusammenarbeiten musste, hätte ich mich am liebsten auf der Toilette eingeschlossen und wäre nie wieder herausgekommen. Timo hatte mir seinen Ellbogen in die Seite gestoßen und anzügliche Bemerkungen gemacht. Ja, Svenja war verdammt heiß. Ja, ich hatte noch nicht viel mit ihr gesprochen. Ja, ich machte mich in ihrer Nähe immer zu einem Deppen. Mein Leben war in dieser Beziehung wie ein schlechter amerikanischer Teenie-Film.

    Mein Zimmer war nicht sonderlich groß, aber in diesem Moment bereute ich es leider, es mit der Ordnung nicht allzu genau zu nehmen. Ich wollte gerade die ersten Klamotten mit den Füßen zusammenschieben, als mein Handy auf dem Schreibtisch anfing zu vibrieren und zeitgleich die Türglocke läutete. Kalter Schweiß brach an meinem ganzen Körper aus. Aus dem Wohnzimmer rief mein Vater: „Mach mal die verdammte Tür auf."

    Mein Kopf spielte verrückt. Warum war sie jetzt bereits da? Warum habe ich nicht schon früher aufgeräumt? Ich nahm den Anruf entgegen und ging zur Tür. Timos Stimme dröhnte an meinem Ohr.

    „Sorry, ich habe echt keine Zeit, jetzt mit dir zu telefonieren, du weißt ja…" Weiter kam ich nicht, er würgte mich ab.

    „Mach die Tür auf, ich stehe davor, mach dir kein Stress. Ich kenn den Saustall, den du Zimmer nennst." Klack. Er hatte das Gespräch beendet.

    Mir fiel ein Stein vom Herzen, es war nur Timo, der vor der Tür stand. Mit einem tiefen Seufzer drückte ich die Klinke herunter und öffnete die Tür. Als ich die Augen hob, stand Timo vor mir. Timo und Svenja.

    Mir fiel wortwörtlich die Kinnlade herunter. Nicht nur, dass ich mein Zimmer noch nicht aufgeräumt hatte, Timo war jetzt auch noch da. Ich zog die Tür ganz auf. Ich konnte es nicht fassen. Svenja stand vor mir, sie sah mich direkt an. Ihre braunen lockigen Haare fielen über ihre Schultern. Sie sah wie immer umwerfend aus. Meine Hände wurden sofort wieder schweißnass. Die ganze Situation war etwas peinlich. Hilflos beschloss ich erst mal nichts zu sagen.

    „Sie stand etwas hilfesuchend unten vor dem Aufzug, als ich gerade reingekommen bin, erklärte Timo. „Da habe ich sie mit hochgenommen, ich weiß ja, wo du wohnst.

    „Hey", sagte ich. Mehr fiel mir im Moment nicht ein. Die Hitze stieg mir ins Gesicht. So ein Scheiß. Was sollte ich tun?

    Svenja trat ein Schritt auf mich zu. „Hey." Der Geruch ihres süßlichen Parfüms umhüllte mich, als sie mich umarmte. Irgendetwas Fruchtiges. Vielleicht Pfirsich, aber eigentlich hatte ich keine Ahnung. Wie gerne ich jetzt die Zeit anhalten würde. Noch nie waren wir uns so nah.

    Als sie sich von mir löste, sah Timo mich an und zwinkerte.

    „Sorry, dass ich etwas früher gekommen bin. Ich dachte, es wäre nicht schlimm." Sie stand etwas unschlüssig vor mir. Aus dem Wohnzimmer konnte ich wieder den Fernseher hören. Ich hoffte, dass mein Vater nicht gerade durch die Tür kam, um sich in der Küche eine neue Dose Bier zu holen.

    „Kein Problem. Ich kratzte mir etwas unschlüssig am Hinterkopf. „Ich habe ja gesagt, du kannst jederzeit kommen. Mein Versuch zu lächeln misslang mir kläglich. Ich möchte nicht wissen, was ich für eine Grimasse gezogen habe.

    „So, ich muss dann auch wieder, meldete sich Timo von hinten. „Ihr wisst schon: Geschäfte und so. Er hob die Hand und wandte sich von uns ab. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, wie ein Lächeln über sein Gesicht huschte, als er uns den Rücken zuwandte.

    „Möchtest du nicht reinkommen?" Ich trat ein Stück zur Seite und gab den Türrahmen frei, damit Svenja in die Wohnung konnte.

    Sie schob sich an mir vorbei. Ihre Hand streifte scheinbar ungewollt meinen Bauch. Ich zuckte leicht zurück vor der plötzlichen Berührung. Ihr Blick streifte meinen. Sie zog noch im Gehen ihre Winterjacke aus und reichte sie mir, hielt aber in der Bewegung inne.

    „Ne, sagte sie fast zu sich selbst. „Ich hab da ne bessere Idee.

    Sie zog ihren Arm wieder zurück. Svenja schritt gezielt auf die Tür meines Zimmers zu. Ich stand wie angewurzelt im Flur und sah ihr nach. Sie schob sich durch die Tür. Die Tür fiel ins Schloss. Ich konnte noch hören, wie sie ihren Rucksack abstellte und kurz darauf öffnete sich die Tür wieder. Ihr Blick fiel auf meine Jogginghose.

    „Hier, zieh die an. Sie warf mir meine Jeans zu und ich fing sie unbeholfen. „Lass uns erst was essen gehen, ich hab irgendwie Hunger.

    Wie gelähmt stand ich vor ihr. In meiner Hand eine Jeans, um meine Beine eine leicht dreckige Jogginghose. Scheinbar hatte der Anblick meines Zimmers ihr nichts ausgemacht. Scheinbar machte ihr die ganze Situation nichts aus. Sie wirkte so cool und schön wie immer. Vielleicht war ich verschossen in sie und sah nur das, was ich sehen wollte.

    „Was ist jetzt? Wirds heute noch was? Sie hatte ein Lächeln aufgesetzt und trat einen Schritt auf mich zu. „Ich guck dir schon nichts weg. Sie schob mir ihren Zeigefinger in den Bauch und ging an mir vorbei in den Flur. Ich zuckte erschrocken zurück. Sie lachte nur. „Ich warte draußen. Denk dran, Frauen lässt man nicht zu lange warten, man weiß nie, was sonst passiert."

    Damit hatte sie recht. In meinem eher kurzen bisherigen Leben habe ich viele Chancen vergeben, weil ich einfach zu lange gewartet hatte. Also zog ich meine Hose aus, schleuderte sie gegen meine Zimmertür, schlüpfte in die Jeans und schnappte mir meine Jacke.

    Ich schloss noch meinen Gürtel, als ich die Wohnungstür hinter mir zuzog. Svenja kicherte, dabei hielt sie sich eine Hand vor den Mund. „Ok, das war wirklich schnell, damit hab ich nicht gerechnet. Wo gehts hin?"

    „Äh. Verdammt, was war ich nur so unschlüssig. „Hast du ne Idee?

    „Wow, du kannst doch einfach den Ball nicht zurückspielen, ich hab zuerst gefragt. Außerdem, wer von uns wohnt hier? Sie hob ihren Zeigefinger und richtete ihn auf mich. „Ein kleiner Tipp, ich nicht.

    Wir strebten auf den Aufzug zu. Im Flur wehten die verschiedensten kulinarischen Gerüche durcheinander. Eine der Neonröhren über unseren Köpfen flackerte. Ich drückte auf den Aufzugknopf. Svenja nickte.

    „Wer schneller ist", rief sie und rannte zur Treppe. Sie drückte die Tür auf. Mit einem lauten Knall fiel sie hinter ihr zu, dann war es still auf dem Flur. Kurz fragte ich mich, ob ich alles nur geträumt hatte. Es war irgendwie unwirklich. Svenja hatte wirklich mit mir gesprochen, sie war wirklich hier. Das Rauschen des Fahrstuhls drang leise durch die geschlossenen Eisentüren.

    Mit einem Klicken gingen die Aufzugtüren auf. Im Treppenhaus konnte ich das Zuschlagen von einer der Brandschutztüren hören. Ich stieg ein und drückte auf den Knopf für das Erdgeschoss. Die Wände waren ausnahmslos beschmiert. Es roch nach Erbrochenen. Leicht säuerlich. Aber all das gehörte mit dazu. Ohne die Schmierereien, ohne den Geruch, es würde etwas fehlen, da war ich mir ziemlich sicher.

    Es spielte keine Musik im Aufzug, während er runterfuhr. Warum auch. Das hier war kein Film und auch kein Aufzug, in dem man Musik erwartete. Ein Ruck erschütterte die gesamte Kabine und der Fahrstuhl blieb stehen. Der Knopf für das Erdgeschoss blinkte. Nach einem kurzen Piepton schoben sich die Türen geräuschvoll auf. Svenja stand vor der Tür, eine Haarsträhne war ihr ins Gesicht gerutscht, die sie mit einer flüssigen Bewegung wieder hinter ihr Ohr schob.

    Wie oft hatte ich mir vorgestellt, dass am Ende des Fahrstuhls einer auf mich wartete. Ok, noch nie. Aber dass Svenja vor mir stand, hatte schon etwas Magisches. Es war unwirklich, nicht in meinen kühnsten Träumen hätte ich damit gerechnet. Ihre Wangen waren leicht gerötet, aber ansonsten deutete nichts darauf hin, dass sie soeben mehrere Stockwerke die Treppe heruntergerannt war.

    „Erster", rief sie begeistert aus. Sie griff nach meiner Hand und zog mich aus der kleinen muffigen Kabine. Ihre Berührung hatte etwas Elektrisches. Kleine Stromstöße schossen durch meinen Körper und verwirbelten meine Gedanken. Schließlich war auch unheimlich in sie verschossen.

    Wir waren seit fast zwei Jahren in einer Klasse. Keine Ahnung, wie viele Stunden ich sie unbemerkt im Unterricht beobachtet hatte. Sie war immer unerreichbar für mich. Sie war schön, schrieb nur gute Noten und die Lehrer sagten nichts, wenn sie sich querstellte. Sie war komplett ab der Norm und doch normaler als ich. Außerdem wohnte sie nicht in einem der Blöcke vor der Stadt. Ihre Eltern hatten, soweit ich wusste, ein eigenes Haus. Eins mit einem richtigen Garten.

    Obwohl sie wegen eines Referats bei mir war, dachte ich nicht einen Moment an unser Schulprojekt, während sich ihre Finger langsam um meine schlossen. Wer konnte in diesem Augenblick an etwas anderes Denken als an dieses Mädchen? Kein Kerl, den ich kannte.

    „Du hast ganz klar das Wettrennen gegen mich verloren, da helfen auch keine Widerworte. Sie drückte die Tür nach draußen auf. Sofort wehte ein kalter Wind uns entgegen. „Deshalb, als Strafe so zu sagen, musst du mich jetzt auf ein Getränk einladen. Du zahlst. Das ist nur gerecht.

    Ich stammelte ein paar unverständliche Worte. Was sollte ich jetzt sagen? Hinter mir knallte die Tür zu meinem Wohnblock zu. Wie ein Gewehrschuss hallte der Knall von den kahlen Wänden des Betonmonstrums wider.

    Sie stieß mich mit ihrem Ellbogen an. Ich lief beinahe in sie hinein, als sie plötzlich vor mir stehen blieb. „Keine Angst, ich beiße nicht, du kannst ruhig mit mir reden. Wieder lächelte ihr zuckersüßes Lächeln und was passierte mit mir? Mir schoss die Schamesröte ins Gesicht. Sie lachte. „Oh Mann, du bist irgendwie süß. Komm wir gehen was trinken, nach dem Treppenlauf hab ich Durst bekommen und du zahlst, da schmecken die Getränke noch mal besser.

    Sie ging wieder los. Als ich mich nicht von der Stelle bewegt und beschämt zu Boden blickte, drehte sich Svenja zu mir um. „Hey, das braucht dir nicht peinlich sein. Ich hab schon ganz andere Typen gesehen, die sprachlos waren, als sie mir plötzlich gegenüberstanden. Ich bin nicht von mir selbst überzeugt, aber diese Typen sind es. Und wenn ich sie dann anschaue, ziehen sie ihren Schwanz ein und werden ganz kleinlaut. Ich sage nur die Wahrheit. Lügen find ich doof."

    Kapitel 2: Von Träumen und Zielen

    Wir saßen uns schweigend gegenüber. Svenja hatte ein Café gefunden, wo sie hinwollte. Jetzt trank sie ihren Milchshake durch den Strohhalm. Ich sah auf die Blasen, die in meiner Cola aufstiegen. Über was sollte ich mit ihr reden? Ihr neugieriger Blick lag auf mir.

    Sie löste ihre Lippen von dem Strohhalm und befeuchtete sie mit der Zunge. Ich wollte sie nicht anstarren, aber weggucken konnte ich auch nicht. „Nicht so schüchtern. Erzähl mal was von dir." Interesse lag in ihrem Blick, als sie mich musterte. Ein Funkeln lag in ihren Augen. War es Neugier oder bildete ich mir das Ganze nur ein?

    Ich trank einen Schluck von der Cola, um den Moment, in dem ich was sagen musste, noch etwas hinaus zu zögern. Sie schmeckte außergewöhnlich sauer. Mein Hals schnürte sich zu. Ich fühlte mich total fehl am Platze. Worüber sollte ich bloß reden? Mein Hirn schaltete sich ab und mein Mund fing an zu reden.

    „Also für das Schulprojekt." Innerlich gab ich mir unzählige Backpfeifen.

    Svenja unterbrach mich schnell. Sie lachte lauthals. „Nein, das ist mir ziemlich scheißegal und wie ich den Eindruck habe, dir auch." Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Scheinbar gab sie mir noch eine zweite Chance.

    „Erzähl was über dich, forderte sie mich ein weiteres Mal auf. „Schließlich kenn ich dich nicht. Du bist in der Schule immer so still. Ab und zu wirfst du mir nur einen Blick zu, wenn du gerade denkst, ich würde nicht darauf achten. Wir sind jetzt schon bald zwei Jahre in einer Klasse und haben noch nie so viele Worte gewechselt wie heute.

    Ich kratzte mir verlegen am Hinterkopf. „Naja, ich dachte immer… Wir hatten ja nie sonderlich viel miteinander zu tun."

    „Jetzt sitzen wir aber hier. Sie machte eine Pause und schwenkte ihren Strohhalm vor meinem Gesicht herum. „Was ist dein Ziel im Leben? Stell dir vor, du bist später ein alter Sack und du blickst zurück auf dein Leben, was möchtest du gerne geschafft haben? Sag es jetzt einfach frei heraus.

    „Weiß ich nicht, da hab ich mir noch nie Gedanken drüber gemacht. Also ich würde gerne einen Schulabschlu…"

    „Falsche Antwort. Das ist langweilig. Jetzt aber wirklich allerletzte Chance, Cap."

    „Wer ist Cap?"

    „Na du. Ist doch offensichtlich. Brauchst dich auch nicht versuchen herauszureden. Ich habe ein gutes Gedächtnis. Woran denkst du gerade?"

    „Ich möchte verreisen. An die möglichst seltsamsten Orte der Welt."

    Svenjas Miene hellte sich deutlich auf. Sie applaudierte. Die wenigen Kunden im Café drehten sich zu uns um. Ich hob entschuldigend die Hand. „Ja, das ist ein schönes Ziel. Man sollte seine Ziele erreichen, solange man noch jung ist. Später kommt einem zu viel dazwischen, da heißt es nur noch hätte ich mal. Also warum nicht heute starten deine Träume zu verwirklichen?"

    Sie kramte einen zerknitterten Geldschein aus ihrer Jackentasche, knallte ihn auf den Tisch, schnappte sich ihre Jacke und rannte an der verdutzten Kellnerin vorbei aus dem Laden.

    „Rest ist für Sie", rief Svenja ihr noch zu. Erst als die Tür zufiel, hatte ich auch mein Geld herumgekramt und legte es auf den Tisch. Mit einem Schulterzucken verließ auch ich das Café. Svenja wartete schon draußen auf mich. Sie sah mich mit leuchtenden Augen an. Scheinbar hatte sie vergessen, dass ich sie einladen sollte.

    „Ich hab mir, als ich kleiner war, also vor zwei Jahren, eine Liste mit den Dingen geschrieben, die ich erreichen will, und heute ist der richtige Zeitpunkt damit anzufangen."

    „Warum?", fragte ich. Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke zu.

    Sie machte einen Schritt auf mich zu. Ihr Atem roch leicht nach Schokolade. Ihre kalten Hände legten sich um mein Gesicht. Sie zog meinen Kopf zu ihr. Ihre Lippen legten sich auf meine. Sie küsste mich. Ein richtiger Kuss. Mein Herz begann zu rasen. So schnell es begonnen hatte, war es aber auch schon wieder vorbei. Sie sah mich an und kicherte.

    „Einfach so." Sie wandte sich ab und ging los.

    Ich stand ein weiteres Mal an diesem Tag verdutzt da. War das gerade wirklich passiert? Svenja hatte mich geküsst! Kein Kuss auf die Wange. Nein, ein richtiger Kuss auf die Lippen. Ich rappelte mich auf und folgte ihr.

    „Ich habe aber ein paar Regeln aufgestellt. Ich hatte sie gerade eingeholt, als sie anfing zu sprechen. „Wir sind Partner, Reisepartner. Mehr nicht.

    „Aber, was war mit dem Kuss", erwiderte ich.

    „War nur neugierig."

    Ich wollte nicht behaupten, dass etwas in meinem Inneren zerbrach, aber plötzlich fühlte ich mich leer. Das Hochgefühl, das in mir aufgekommen war, verwelkte wie eine trockene Blume.

    „Also, fuhr sie ungerührt fort. „Wir scheißen auf die Schule und erleben diesen Sommer mal so richtig was. Wie viel Geld hast du dabei?

    „Nur ein paar Münzen." Ich wusste gar nicht, warum ich mir Hoffnung gemacht hatte. Sie war unerreichbar. Ich befahl meinem Kopf nicht mehr daran zu denken.

    Ich hatte echt nicht mehr viel Geld. Ich bekam nur etwas Taschengeld. Das meiste versuchte ich, soweit es ging zu sparen. Ich wollte mir irgendwann mein eigenes Auto kaufen. Das war mein Ziel. Und im Moment hatte ich wirklich nicht viel Geld dabei. Ich saß ziemlich auf dem Trockenen. Meine Schwester hatte letzten Monat Geburtstag gehabt, deswegen fiel das Taschengeld bei der letzten Übergabe etwas magerer aus als sonst. Ich beschloss für zwei warme Mahlzeiten und ein Zugticket sollte es reichen.

    „Ich hab auch noch etwas, wir gucken mal, wie weit wir kommen. Erst mal müssen wir aus dieser verfluchten Stadt raus. Sie schränkt mich ein. Hier ist alles trist und öde. Pass auf. Sie drehte sich um und schlug mir freundschaftlich auf die Schulter. „Wir sammeln alles Geld zusammen, dass wir bei uns zuhause finden können, packen einen kleinen Rucksack mit Proviant und dann treffen wir uns heute Nacht Punkt 12 Uhr vor dem Freibad, ok? Ich möchte, dass du mit mir kommst. Scheiß auf die Schule, scheiß auf unsere Eltern, wir erfüllen unsere Träume. Und wehe, du lässt mich heute hängen, ich weiß, wo du wohnst.

    Sie wandte sich von mir ab, drehte sich im Weggehen noch mal um, bring auch meinen Rucksack mit, den ich bei dir gelassen hab. Wehe du kneifst."

    Sie verschwand langsam und ich sah ihr hinterher. Es war real, aber viel zu unwirklich. Ich schüttelte den Kopf. Innerlich lächelte ich, auch wenn ich von außen einen schockierten Eindruck machte. Was war hier gerade passiert?

    Ich rannte zu unserem Block. Gehen war für mich zu langsam. Die Zeit tickte. Mir wurde bewusst, wie unaufhaltsam die Zeit lief. Sie rann wie Wasser durch meine Finger. Komplett ungreifbar. Ich rannte die Treppe hoch und hämmerte bei Timo an die Tür. Wie ein kleines Kind, das dringend aufs Klo musste, hüpfte ich vor der Tür auf und ab, bis Timo endlich die Tür für mich öffnete. Ich sprang mit einem großen Satz in die Wohnung.

    „Ich muss dir was erzählen, rief ich aus. „Du glaubst nicht, was mir passiert ist. Ich schüttelte den Kopf. Mein Herz pochte. Es drohte aus meiner Brust zu springen. Vor meinem inneren Auge sah ich es. Mein Brustkorb riss auf und mein Herz wurde sichtbar, wie es sich dehnte und wieder zusammenzog. Ich lehnte mich an den Türrahmen und versuchte zu Atem zu kommen. Trotz vieler Bemühungen war ich nie sportlich gewesen. Ich habe viele Jahre mehr schlecht als recht Fußball gespielt, gehe regelmäßig joggen und trotzdem ist meine Kondition unterirdisch. Als würde mein Körper Antikörper entwickeln, die mich davon abhalten Kondition aufzubauen.

    „Du hast dich eben mit Svenja getroffen und sie hat dich geküsst. Jetzt bist du komplett von den Socken und heute Abend wollt ihr gemeinsam auf große Reise gehen. Ihr wollt diesen Sommer mal was richtig Abgefahrenes erleben, habe ich recht?"

    Es war nicht Timos Stimme. Sie war viel zu hoch. Es war die Stimme einer Frau. Ich kannte diese Stimme. Meine Augen bewegten sich langsam vom Teppich nach oben. Timo stand nicht vor mir. Er hatte auch nicht mit mir gesprochen. Es war Svenja. Sie lächelte mich an. Nein, sie lächelte nicht, sie lachte. Sie lachte und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. Mein Gesicht brannte, ich konnte mir denken, wie rot ich geworden bin. Für immer zu verschwinden wäre erneut eine gute Wahl gewesen. Doch leider war es nicht so leicht. Ich schämte mich.

    „Du hättest dein Gesicht sehen müssen. Svenja machte einen Schritt auf mich zu. Wie war sie so schnell hierhergekommen? Sie war in die völlig falsche Richtung gelaufen. Stand ich doch länger dumm in der Gegend herum als ich vermutetet hatte? „Ich hatte schon vor unserem Gespräch alles Nötige vorbereitet, ich hatte mir schon gedacht, dass du nicht ablehnen würdest. Wie schon gesagt, ich habe mitbekommen, welche Blicke du mir in der Schule zu wirst. Und innerlich wusste ich, du bist ein kleiner Rebell. Sie tippte mir mit dem Zeigefinger auf die Brust. Instinktiv wich ich einen kleinen Schritt zurück. Eine Gänsehaut breitete sich auf meiner Haut aus. Meine Wangen glühten noch immer. „Und ganz tief in dir drinnen, weißt du es auch."

    Timo kam aus seinem Zimmer und stellte sich zu uns in den Flur. Auch er hatte gelacht, das konnte ich an seinem Grinsen sehen. Er grinste mich nur an und stand da. Svenja beachtete ihn nicht weiter. Sie hatte mich fixiert und wartete erneut darauf, dass ich etwas sagte.

    „Also. Ich trat unentschlossen auf einer Stelle herum. Meine Gedanken rasten. Warum hatte ich nicht mit dem Reden gewartet? Sonst hielt ich mich doch auch eher zurück. „Da hast du wohl den Nagel auf den Kopf getroffen. Besser hätte ich es auch nicht zusammenfassen können. Ich machte eine kurze Pause und sah hilfesuchend zu Timo. Von ihm konnte ich leider keine Hilfe erwarten, er versuchte gerade nicht erneut einer Lachattacke zum Opfer zu fallen.

    „Also, was hast du jetzt vor?", fragte Svenja mich.

    „Naja, ich wollte eben mit Timo sprechen und dann schnell meine Sachen packen. Vielleicht meinen Eltern noch einen Brief schreiben, dass sie sich keine Sorgen machen sollen und ihnen sagen, dass ich mich regelmäßig melden werde. Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, ich hab so was noch nie gemacht.

    „Dann komm mit."

    Sie zog mich an der Hand aus Timos Wohnung. Er rief uns noch etwas hinterher, doch seine Worte verloren sich im Echo unserer Schritte. Wir folgten dem Gewirr aus Korridoren und Treppen, in dem ich mich heimisch fühlte. Jede Ecke kannte ich wie meine Westentasche. Ich war mit jeder flackerten Lampe vertraut und wusste, welche Fliesen am Boden gesplittert waren. Doch alles hier wirkte verändert. Nein, hier war alles beim Alten. Ich war verändert. Schon die kurze Begegnung mit Svenja hatte mich verändert. Svenja, die mit ihren Eltern in einem eigenen Haus lebte. Die für mich immer so unerreichbar schien. Sie hatte mit mir gesprochen und jetzt zog sie mich durch meine eigene Heimat. Ich wartete auf den Moment, in dem ich in meinem Bett aufwachen würde und alles nur ein Traum war. Ich fürchtete mich vor dem Zeitpunkt der Erkenntnis, an dem die Freude der Ernüchterung wich.

    Doch er kam nicht.

    Svenja bremste abrupt vor meiner Wohnungstür ab. Ich schlitterte noch in sie hinein, so versunken in meine Gedanken war ich. Sie konnte die Wucht des Aufpralls nicht abfangen und wir beide gingen zu Boden.

    Verknotet lagen wir dort, ich war ihr nahe. Nur wenige Zentimeter trennten unsere Gesichter. Ich konnte die feinen Sommersprossen sehen, die auf ihrem Gesicht verteilt waren. Ich konnte jede Einzelne ihrer Wimpern sehen. Egal wie schnell die Zeit vorhin gerannt war, jetzt stand sie still. Aus einem Augenblick wurde eine Ewigkeit. Eine Erinnerung, die ich für immer bewahren würde. Svenja lächelte mich an. Ich lächelte zurück. Ihr Gesicht bewegte sich langsam in meine Richtung. Ihre Augen schlossen sich. Jetzt würde ich bereit sein. Für diesen Kuss war ich gewappnet. Ich würde mich nicht noch mal überraschen lassen. Ich schloss meine Augen, machte mich bereit.

    Doch unsere Lippen berührten sich nie. Stattdessen flüsterte sie mir etwas ins Ohr.

    „Langsam wirst du leider etwas schwer und es gibt auch deutlich bequemere Ort, um einfach nur herumzuliegen."

    Noch nie hatte ich mich so schnell aufgerappelt und war vom Boden aufgesprungen. Ich stotterte eine Entschuldigung und half Svenja beim Aufstehen.

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