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Ein guter Tag zum Tanzen: Keine Kraft ist stärker als Respekt
Ein guter Tag zum Tanzen: Keine Kraft ist stärker als Respekt
Ein guter Tag zum Tanzen: Keine Kraft ist stärker als Respekt
eBook466 Seiten6 Stunden

Ein guter Tag zum Tanzen: Keine Kraft ist stärker als Respekt

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Über dieses E-Book

Von der Kunst, einen Menschen zu berühren,
ohne seine Hände zu nutzen.
Zuzuhören jenseits der Worte.
Gefühl zu entwickeln, wo sonst nur Leere war und Schmerz.

Ricardos Welt zerbricht. Sein guter Wille wird dem Polizisten zum Verhängnis. An einem kalten Tag im April legt sich das Trauma wie ein Schleier über seine Welt.

Leo will nicht daran erinnert werden, was er aufgegeben hat.
Er tanzt nicht mehr. Die Kraft der Berührung, die Energie,
die in der wahren Begegnung zweier Menschen liegt, ist versiegt.

Laura weiß nicht mehr, was Vertrauen ist. Hat sie es überhaupt je gewusst?
Warum wirft gerade die Begegnung mit einem unsympathischen Fremden
diese Frage auf? Und wie kann ein so düster wirkender Mann dem Wort »Gefühl« eine derartige Bedeutung geben?

Drei Lebenswege fügen sich zusammen und zeichnen
ein Bild für mehr Menschlichkeit und Respekt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum7. Dez. 2020
ISBN9783347144934
Ein guter Tag zum Tanzen: Keine Kraft ist stärker als Respekt

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    Buchvorschau

    Ein guter Tag zum Tanzen - Elena Rubin

    Kapitel 1

    »Nein, Quatsch! Ich bleibe gerne die Stunde länger und schließe nachher ab.«

    In einem perfekten Winkel schnitt Laura die 25 roten Rosen an, die vor ihr auf dem Tisch lagen, während sie versuchte, Molly davon zu überzeugen, dass sie durchaus früher gehen konnte. »Es werden ohnehin nicht mehr viele Kunden kommen – es wird Herbst. Nur die Dame, die diesen Strauß überreicht bekommt, hat nochmal Glück.« Seufzend raffte Laura die Rosen zusammen, fügte ein wenig Grün hinzu und umfasste das Ganze mit einem Band. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk – das hätte ein Profi auch nicht besser gekonnt. Man sollte sich zwar nicht selbst loben, aber in den letzten zwei Jahren, in denen sie neben ihrem Studium in Mollys kleinem Blumenladen zum Mädchen für alles geworden war, hatte sie sich ganz schön gemacht. Sollte es mit dem Studium nichts werden, hatte sie wohl schon eine Alternative gefunden. Sie schmunzelte in sich hinein, sie war viel zu ehrgeizig, als dass sie an ihrem Studium scheitern würde. Doch der Job in dem kleinen Blumenladen gleich neben dem Bahnhof gefiel ihr. So dicht am Leben mit all seinen Geschichten und doch so weit davon entfernt. In welchem Leben bekam man denn bitte noch 25 rote Rosen geschenkt?

    »Na gut, Schätzchen, ich danke dir! Aber ruf mich sofort an, sollte irgendetwas nicht stimmen!« Molly rauschte an ihr vorbei.

    »Jaja, sollten auf dem Grünstreifen im September plötzlich Tulpen blühen, melde ich mich«, frotzelte Laura und erntete dafür einen bösen Blick von Molly, bevor diese mit fliegenden Fahnen das Geschäft verließ. Zurück blieb nur der Duft eines zu schweren Parfüms, das Einzige, was Laura an Molly nicht mochte. Bei Molly war der Name Programm: Sie war klein und rundlich. Mit ihren großen Augen, die nichts übersahen, egal ob Kummer oder Freude, blickte sie einem immer direkt ins Herz. Sie schien die Geschichte des Kunden zu kennen, bevor er auch nur einen Ton zum Anlass des Kaufes eines Straußes, Blumengestecks oder Blümchens gesagt hatte. Sie hatte ihre Augen und Ohren überall und war dabei dennoch nie aufdringlich oder unhöflich. Im Gegenteil, oft bewunderte Laura sie dafür, wie aufmerksam sie Menschen zuhörte, und auch Wochen später noch wusste, was ein Kunde ihr bei seinem letzten Besuch erzählt hatte. Aber ihr besonderes Talent lag darin, dass sie Menschen ansehen konnte und ihnen den Strauß bastelte, den sie brauchten.

    Die Ladentür klingelte. Lächelnd blickte Laura auf und sah den hochgewachsenen Blonden, der eintrat, freundlich an. »Guten Tag! Wie kann ich Ihnen helfen?« Mit wenigen flinken Handgriffen beendete sie ihr Kunstwerk und wickelte das zum Rot der Rosen passende Papier um den Strauß.

    »Ich glaube, damit«, beantwortete der junge Mann ihre Frage und deutete auf die Blumen in ihren Händen. »Wir hatten eben telefoniert.«

    »Ganz genau! Und wie Sie sehen, kommen Sie genau im richtigen Moment!« Laura blickte kurz auf die Preisliste, die unter dem Tresen verstaut war, und nannte den entsprechenden Betrag.

    »Ach ja, für manche Menschen würde man alle Rosen der Welt kaufen …«, sinnierte ihr Gegenüber verträumt und reichte ihr das Geld. Fast hätte Laura mit den Augen gerollt, stattdessen lächelte sie sanft. »Das ist wohl so, aber 25 ist schon eine gute Zahl«, antwortete sie und verabschiedete sich freundlich. Mit einem energischen Kopfschütteln schob sie ihre eigenen Gedanken zum Thema Rosen und der damit verbundenen Gefühlsduselei beiseite. Sie verkaufte noch ein paar Töpfe Heide und Gestecke, bevor sie um sieben Uhr schließlich die Ladentür schloss.

    Aber zu einem Strauß roter Rosen würde sie trotzdem nicht nein sagen, dachte sie bei sich und ärgerte sich im nächsten Moment, dass sie ihrem eigenen Grundsatz, diesen ganzen Quatsch nicht zu brauchen, nicht treu bleiben konnte.

    Während sie die Treppen zur Bahn hinunterhüpfte, schloss sie ihren cremefarbenen Mantel, der im Kontrast zu ihrem dunkelbraunen Haar stand, das in Wellen über ihre Schultern fiel. Ihre vollen Lippen und ihr dunkler Teint ließen Menschen oft glauben, sie käme aus dem Süden. Dabei war sie ein echtes Nordlicht. Und auch wenn sie sich oft nach der Sonne des Mittelmeers sehnte: Sie liebte ihr Zuhause.

    Es sei denn, man fand dort Plakate wie das, an dem sie jetzt vorbeiging. In wenigen Monaten waren Wahlen und bereits jetzt prangten an jeder Straßenecke Plakate von denen, die glaubten, entscheiden zu können, was gut und was schlecht, was richtig und was falsch sei, und wer eine Daseinsberechtigung in dem Land hatte, das Laura ihre Heimat nannte. Angewidert wandte sie ihren Blick ab. Wie hatte es soweit kommen können, dass diese Menschen so viel Gehör bekamen? Mit der Fremdenfeindlichkeit fing es an, doch da hörte es noch längst nicht auf. Die allgemeine Angst vor allem, was vermeintlich anders war, schien größer als je zuvor und diese Tatsache traf Laura mehr, als sie sich eingestehen wollte. Selten hatte sie sich so machtlos gefühlt. Wie gerne wollte sie jedem, der hier Schutz suchte, sagen, dass er willkommen sei, jedem, der als nicht normal beschimpft wurde, dass es keine Norm gab, der man zu entsprechen hatte. Was war denn schon normal?

    Bevor sie sich weiter in dieses dunkle Thema hineinsteigerte, das immer mehr Teil der Gesellschaft geworden war, und weder vor der Uni noch vor dem kleinen Blumenladen haltmachte, blickte sie auf die Bahnanzeige. Drei Minuten, perfekt. Sie lehnte sich an eine Litfaßsäule. Ihr Blick fiel nun auf ein Plakat, das ausnahmsweise keinen Abgeordneten bewarb. Dennoch gewann es sofort ihre Aufmerksamkeit: Tanzwettbewerb für Jedermann – die große Weihnachtsgalashow prangte in großen Buchstaben darauf.

    Tanzen!

    Wie oft hatte sie davon geträumt? Laura trat näher und überflog die Konditionen, die ihr sagten, dass jeder mitmachen konnte. Bewertungsgrundlage wäre die Vorführung zweier Standard- oder lateinamerikanischer Tänze. Für einen Moment schwebte sie bereits über das Parkett und stellte sich vor, wie ihre langen Haare kunstvoll hochgesteckt zu dem paillettenbesetzten Kleid passen würden, das ihre schlanke Figur umspielte, als sie die Realität auch schon wieder einholte, die ihr sagte, dass sie die Letzte wäre, mit der jemals das Wort schweben in Verbindung gebracht werden könnte. Abgesehen davon gehörten zum Standardtanz ja zwei Menschen. Schnaubend wandte sie sich von der hübsch designten Werbung ab.

    »Ihre Einstellung hierzu ist zwar genau richtig, aber deshalb müssen Sie mich ja nicht gleich umrennen.« Der Mann, in den sie soeben hineingelaufen war, deutete auf das Plakat und bedachte sie dann mit einem Blick, bei dem sie nicht wusste, ob er abwertend, mitleidig oder süffisant sein sollte.

    »Entschuldigen Sie!«, nuschelte Laura und wich zurück. Diesen durchdringenden dunklen Augen, die sie so schlecht einzuordnen wusste, konnte sie nicht standhalten.

    »Kein Problem, entschuldigen müssten Sie sich nur, wenn Sie mir jetzt sagen wollen würden, so ein Blödsinn wie der da«, er machte eine abwertende Handbewegung in Richtung der Anzeige, »würde Sie interessieren.« Sein dunkler Kurzmantel und die schwarze Jeans passten zu dem, was er ausstrahlte: Dunkelheit. Und trotzdem war da noch etwas anderes. War es das süßlich-herbe Parfüm, das seine Erscheinung abmilderte, oder die feinen Fältchen um seine Augen, die sie glauben ließen, dass er wusste – oder zumindest mal gewusst hatte – wie man bis zu den Augen lächelte?

    »Aber was wäre denn schlecht daran?« Verdattert sah Laura ihr Gegenüber an.

    »Alles, junge Frau, einfach alles. Schönen Abend noch!« Er tippte sich an seinen imaginären Hut. Bevor sie etwas erwidern konnte, war er bereits in dem Gedränge verschwunden. Laura blickte noch einmal auf das Plakat, dann an den Ort, an dem der Fremde verschwunden war. Kopfschüttelnd stieg sie in den Zug.

    Kapitel 2

    Mach dir keine Sorgen um mich, du weißt doch: Wir haben immer gekämpft, um zu leben, nicht, um zu sterben – der Deal gilt!

    »Der Deal galt, aber du hast dich trotzdem nicht daran gehalten …«, murmelte Ricardo und stellte das letzte gemeinsame Foto mit seinem besten Freund auf die Kommode im Flur, die sie soeben endlich fertig aufgebaut hatten.

    »Alles klar, Mann?« Rao drückte freundschaftlich seinen Arm.

    »Ja.« Ricardo nickte gedankenverloren. Wie oft hatten Daniel und er als Kinder die fallenden Helden gespielt, die dem anderen die letzten wichtigen Worte zuhauchten, bevor sie in einer dramatischen Szene den Abgang machten, nur um wenige Sekunden später lachend wieder aufzustehen. Wie lange hatten sie geglaubt, unsterblich zu sein? Ja, hatte Daniel dies nicht bis zum Ende geglaubt? Der tapfere Soldat, der es in kürzester Zeit mit seinem unglaublichen Ehrgeiz bis ganz nach oben geschafft und auf nichts sehnlicher gewartet hatte als auf den ersten Einsatz. Der erste Einsatz, der viele seiner Kollegen bereits traumatisiert zurückließ, nicht jedoch ihn. Überzeugt davon, dass er einen Unterschied machen konnte, dass er das Richtige tat und diesem Job auf ewig gewachsen war, führte ihn auch der zweite Einsatz nach Afghanistan. Das Land, das nie zur Ruhe kam. Das Land, in dem der Tod zum Alltag dazugehörte. Und das Land …

    Ricardo fuhr sich durchs Haar. Noch immer verdrängte er die bittere Realität: das Land, in dem das Spiel des fallenden Helden für seinen Offiziersfreund in einem Hinterhalt zur unumkehrbaren Realität geworden war.

    Es war nicht fair. Natürlich war es das nicht. Es war ein gemeiner Meuchelmord gewesen, der ihm den einzigen Menschen genommen hatte, der ihm jemals wirklich nahegestanden hatte; abgesehen vielleicht von seiner kleinen Schwester.

    Er löste den Blick von dem Bild und klopfte Sägespäne von seiner bis eben noch navy-blauen Jeans. Auch auf seinem weißen T-Shirt zeichnete sich Staub ab.

    »Meine Eltern zu beerdigen, die beide ein nicht ewiges, aber gutes Leben gelebt haben, ist das Eine. Aber meinen besten Freund, der nicht einmal seinen dreißigsten Geburtstag feiern durfte … Es war ein so heißer Julitag. Die Sonne hat geschienen.« Bei dem Gedanken daran, wie er hinter einer verspiegelten Sonnenbrille seine Tränen versteckt hatte, musste er schlucken. »Das Sommerwetter hat die ganze Trauergemeinde verspottet. Es hätte regnen müssen. In Strömen. Wie im April. Da passt das Wetter wenigstens.«

    »Ricardo«, setzte Rao zu einer Erwiderung an, doch dieser fuhr einfach fort.

    »Ist es nicht komisch? Ich hatte gehofft, dass diese Begegnung mit dem Tod die letzte für eine lange Zeit ist.« Er räumte die Schraubenzieher zurück in den Werkzeugkasten. »Stattdessen klopft er direkt bei mir persönlich an.«

    »Er hat dich nicht bekommen, Ricardo. Es ist vorbei.«

    »Nein. Es ist überall.«

    Da hatte er sich gerade wieder gefangen gehabt, seinen Tag mit genügend Dienststunden gefüllt, in denen er vergessen konnte, als dieser gestörte Junkie ihm …

    Noch immer konnte er sich nicht an das erinnern, was an jenem verregneten Tag im April in der Bahn passiert war. Augenzeugen hatten ihm später die Situation geschildert. Seine Erinnerung endete in dem Moment, in dem er das Abteil durchquert hatte. Retrograde Amnesie nannten seine betreuenden Ärzte dieses Phänomen, dass er sich nicht mehr daran erinnern konnte, wie er dem Junkie den Weg versperrt hatte, und dieser ihm mit einem Taschenmesser eine tiefe Stichverletzung im unteren Bauchbereich zugefügt und dabei nur um Haaresbreite die Hauptschlagader verfehlt hatte.

    »Es ist noch da, ja. Aber es bestimmt nicht alles. Da sind auch wieder andere Dinge, meinst du nicht?«

    »Mm.«

    Rao hatte nicht ganz unrecht. Ricardo strich über das Bild, das die kleine Saya vor einigen Tagen für ihn gemalt hatte, und lehnte es an das von Daniel. Sie war da. Und Rao.

    »Ja. Ohne dich wäre ich noch viel weiter weg von ein bisschen Normalität.«

    Der halbe Tag, den er im Geflüchtetenheim verbrachte, um dort mit den Jugendlichen Sport zu machen, mit den Kindern zu spielen und ihnen nebenbei ein wenig Deutsch beizubringen, gab seinem Leben den Sinn zurück. Zuerst hatte er ablehnen wollen, als Rao ihn vor drei Monaten dorthin mitgeschleppt hatte.

    Der gebürtige Syrer lebte seit er vier war in dieser Stadt.

    Als vor fünf Jahren die Zahl Geflüchteter des Syrienkrieges stark zunahm, meldete er sich freiwillig als Dolmetscher. Eine Tätigkeit, von der er Ricardo bei jedem gemeinsamen Karatetraining vorschwärmte, um ihn davon zu überzeugen, ebenfalls dort anzufangen. Arbeit gäbe es schließlich genug.

    Als auf den Angriff die vorläufige Arbeitsunfähigkeit folgte, schien Ricardo der Vorschlag gar nicht mehr so abwegig. Letztlich hatten sich die vom Krieg gezeichneten Kindergesichter nach nur einem Tag in sein von den letzten fünf Monaten fast versteinertes Herz geschlichen.

    »Sowas hört man doch gerne. Und ich glaube, der Umzug wird dir auch guttun.« Rao klopfte ihm auf die Schulter.

    »Wir werden sehen. Der Schuldspruch sollte mich eigentlich positiv stimmen, aber es ist einfach …« Er brachte den Satz nicht zu Ende. Er konnte nicht in Worte fassen, was er fühlte, obwohl er genau wusste, was mit ihm los war.

    Er kannte das Wort Trauma, von dem er geglaubt hatte, es würde ihn nie persönlich betreffen. Er hatte sich geirrt. Das Schicksal hatte ihn ausgerechnet an einem Tag ereilt, an dem er nicht einmal im Dienst gewesen war. Für ihn war schnell klar gewesen, dass er seinen Job vorerst auf Eis legen musste. Seine Kollegen konnten niemanden gebrauchen, der ihnen in einer brenzligen Situation nicht den Rücken stärken konnte, weil seine eigenen Dämonen ihn verfolgten.

    »Das Leben nimmt manchmal so verworrene Wege«, sinnierte er.

    »Ja, es gibt keinen Plan, dem man folgen kann. Aber es ist doch gut zu wissen, dass es immer einen Weg gibt.«

    »Den sehe ich nicht.«

    »Du bewegst dich auf ihm. Und irgendwann wird sich der Nebel auch wieder lichten.«

    »Ich habe das Gefühl, die Orientierung verloren zu haben.«

    »Wie gut, dass du Menschen hast, die dafür sorgen, dass sie nicht gänzlich verschwindet.« Rao zwinkerte ihm zu.

    Der Hauch eines Lächelns huschte über Ricardos Gesicht, bevor es erneut der Wehmut Platz machte.

    »Lustig, Daniel hat etwas Ähnliches nach seinem ersten Einsatz gesagt.«

    Ricardo hatte das Gefühl Daniels Stimme zu hören, als er dessen Worte für Rao wiederholte: »Da draußen, da sind deine Kameraden deine einzige Orientierung. Die Kameraden, die du sehen kannst, und die, von denen du nur weißt, dass sie da sind. Sie sind deine Koordinaten, die dich in all dem Chaos und dem Lärm nicht den Überblick verlieren lassen. Und deine Familie, deine Freunde, all die Menschen, die du liebst; sie sind der Kompass, der dich immer daran erinnert, woher du kommst, und der dich nicht vom Weg abkommen lässt, wenn deine eigene Angst und Verzweiflung dich deine Richtung vergessen lassen.«

    »Wie schön und wie wahr.«

    »Trotzdem waren es nur Worte. Worte, die Daniel nicht retten konnten.«

    »Ich weiß.« Rao legte ihm erneut eine Hand auf den Arm. Ricardo wich einen Schritt zurück, um sich ihm zu entziehen.

    »Danke für deine Hilfe!« Er deutete fahrig in Richtung Kommode. »Ich glaube, ich möchte jetzt lieber allein sein.«

    Rao zögerte für den Bruchteil einer Sekunde irritiert. Dann grinste er beinahe unbekümmert.

    »Klar, wir sehen uns die Tage«, verabschiedete er sich, während er seinen Mantel von der neu aufgehängten Garderobe nahm und mit einem kurzen Winken die Wohnungstür hinter sich schloss.

    Ricardo schämte sich dafür, seinen Freund rauszuschmeißen, der so bedingungslos für ihn da war, all seine Launen ertrug und ihn geradezu mit Verständnis überschüttete. Aber noch mehr hätte er sich für die Tränen geschämt, die jetzt in seinen Augen brannten. Erst hatte er mit seinem besten Freund seine Lebensfreude verloren und dann durch den Angriff vor fünf Monaten seine Stabilität.

    Eben noch hatte er die Anforderungen der Gesellschaft erfüllt. Übererfüllt. Den Versuch, Mensch zu sein, hatte er schon lange aufgegeben. Dafür hatte er seine Rolle gemeistert und es war eine gute Rolle gewesen. Aber jetzt? Jetzt fiel es ihm schon schwer, seinen Alltag zu bewältigen, jeden Morgen aufzustehen. Jetzt war er einer von denen, die dem Druck der Gesellschaft nicht hatten standhalten können.

    Wütend schlug er mit der flachen Hand gegen die Wand, sodass es knallte. Er war ein Niemand. Einer, der in Anflügen von Sentimentalität Hoffnung schöpfte, nur um sie sich von den eigenen Dämonen gleich wieder nehmen zu lassen.

    So wie jetzt.

    Langsam ballte er seine schmerzende Hand zur Faust und ging in Richtung Schlafzimmer. Am liebsten hätte er geschrien vor Wut und Selbsthass. Sein vibrierendes Handy ignorierte er, als er das Bild seiner Schwester darauf erblickte. Zwar war er unendlich traurig, dass sie sich im Sommer endgültig für die portugiesische Sonne und gegen den deutschen Regen entschieden hatte, er vermisste sie schmerzlich, aber Redebedarf hatte er gerade trotzdem nicht.

    Im Gehen zog er sich sein T-Shirt über den Kopf. Die Schnalle des breiten Ledergürtels klackerte auf den Boden, als er seine Jeans fallen ließ. Rücklings sank er auf sein Bett. Er wollte nur noch schlafen. Es war ihm egal, dass es erst halb acht war.

    ***

    Molly ärgerte sich über sich selbst. In ihrem Zeitdruck, rechtzeitig zu ihrem Friseurtermin zu kommen, hatte sie vergessen, dass eins der Grabgestecke nicht fertig war. Sie fuhr sich durch die – wieder kurzen – grauen Haare und schloss den Laden wieder auf. Routiniert breitete sie ihr Handwerkszeug auf dem Tresen aus und griff nach dem länglichen Gesteck.

    Tod. Ein Thema, mit dem sich niemand gerne beschäftigte. Auch sie nicht. Und dennoch waren diese Gestecke in ihren Augen die wichtigsten, die sie fertigte. Sie waren die Möglichkeit auszudrücken, dass im Tod nicht nur die weiße Lilie stand. Nein. Sie griff nach ein paar Glockenblumen. Das, was der Tote hinterließ, war beständig. Keiner würde den Angehörigen die Erinnerung nehmen können. Ebenso wenig wie die Freude, die in ihnen nachklingen würde. Sie fügte zwei weiße Mohnblumen hinzu. Aber auch die Christrose, die den Menschen ihre Angst nehmen sollte, war essentiell. Blieb noch Platz für eine letzte Blume: die Calla. Die Blume der Unsterblichkeit. Auch wenn der Mensch gegangen war. Seine Spuren würden unwiderruflich bleiben.

    Kapitel 3

    »Hey, Krümel, du musst wirklich noch lernen, dass man dich einfach übersieht! Guck doch mal, wo du hinläufst!« Laura schloss schnell die Haustür und beugte sich zu dem kleinen Wollknäuel hinunter, das um ihre Beine wuselte. Diesmal war es wirklich nicht seine Schuld gewesen, dass sie ihm fast auf die Pfoten getreten war, nachdem er wie ein geölter Blitz die Treppenstufen runtergeschossen kam. Aber sie würde nicht zugeben, dass sie immer noch über die merkwürdige Begegnung mit dem unbekannten Tanzverächter nachdachte und nicht guckte, wohin sie lief.

    »Laura!«

    Natürlich, wo Krümel war, da war auch Klara nicht weit.

    »Er heißt immer noch nicht Krümel«, schnaubte die alte Dame verächtlich, fing jedoch im selben Moment schon an zu lächeln und strich Laura übers Haar.

    »Das ist uns doch egal«, erwiderte Laura an Krümel gewandt und hob diesen kurz hoch, was er sogleich ausnutzte, um ihr über das Gesicht zu schlecken.

    »Und das hat er auch von dir!«

    »Nein, das macht er nur bei mir, weil du ihn nicht hochhebst«, antwortete Laura und zog eine Augenbraue nach oben.

    »Wie man sieht, aus gutem Grund!«

    »Oder weil du zu schwach bist …« Laura zwinkerte Klara zu und setzte Krümel wieder auf den Boden.

    Entrüstet stemmte Klara ihre linke Hand in die Hüfte, denn mit der Rechten hielt die alte Dame sich an einem Stock fest. Sie klagte oft über all ihre Wehwehchen, insbesondere ihre Knie machten ihr zu schaffen. Abgesehen davon war sie mit ihren 87 Jahren aber immer noch erstaunlich fit. Vor allem über ihre Schlagfertigkeit und ihren schwarzen Humor war Laura immer wieder überrascht. Doch jene herzerfrischende Art war letztlich der Grund, warum Laura die Dame aus dem vierten Stock so liebte und sich ebenfalls – so wie eben – nicht davor scheute, mal einen dummen Spruch zu machen.

    »Willst du nicht doch lieber in die Erdgeschosswohnung?! Ich weiß, du liebst deine, aber so ohne Fahrstuhl?! Es kann doch nicht sein, dass du für den Weg in deine Wohnung 20 Minuten brauchst.«

    »Ach was, papperlapapp, jetzt behandle mich mal nicht so, als wäre ich eine Greisin, die keine Treppen mehr schafft. Treppensteigen hält jung. Außerdem hat sich das jetzt ohnehin erledigt, denn wärest du einmal öfter zu Hause, statt deinen Kopf den ganzen Tag zwischen Bücher oder Blumen zu stecken, dann hättest du auch mitbekommen, dass dort letzte Woche wieder jemand eingezogen ist.«

    »Ach, tatsächlich? Na, wie gut, dass ich dich habe, dir würde so etwas niemals entgehen«, spielte Laura auf Klaras unstillbare Neugier an, was diese nicht einmal bemerkte, so sehr wartete sie darauf, Laura endlich mit allen Details füttern zu können.

    »Also, ich glaube, er ist alleine. Und er ist Ausländer, er …«, fing Klara an.

    »Natürlich ist das die wichtigste Info.« Leicht angesäuert blickte Laura Klara an.

    »Nein, also so meinte ich das doch nicht. Er ist auch nicht so richtig Ausländer, also jetzt kein Afghane oder Syrer.«

    »Seit wann gibt es bitte richtige und falsche Ausländer?« Lauras Miene verfinsterte sich und Klara wurde sichtlich unsicherer. Für einen kurzen Moment unterbrachen sie ihre Diskussion, um das Ehepaar aus dem zweiten Stock zu grüßen, das – der Kleidung nach zu urteilen – mal wieder auf dem Weg in die Oper war.

    »Naja, du weißt schon, nicht so ein Araber. Ich glaube, er ist Spanier. Zumindest klang das so, als er neulich telefoniert hat, und die Hautfarbe passt auch. Er sieht so gut aus. Und ich kann immer noch ohne Sorge meine Post aus meinem Briefkasten holen.«

    »Weil bei ihm keine Gefahr besteht, dass er plötzlich alles in die Luft sprengt, oder was?«

    »Ach Laura, sei doch nicht so zynisch.«

    »Ich bin nicht zynisch, ich spreche nur aus, was du denkst.«

    »Du könntest wenigstens versuchen, mich zu verstehen. Ich erkenne mein eigenes Land nicht wieder: Überall höre ich Sprachen, die ich nicht verstehe. Und jede Woche sterben unschuldige Menschen.«

    »Klara, erstens laufen nicht überall Menschen herum, die du nicht verstehst, zweitens hat es vor zwei Monaten einen Anschlag gegeben, bei dem tragischerweise fünf Menschen ums Leben gekommen sind, aber deshalb ist nicht jeder Mann mit schwarzen Haaren, der an dir vorbeiläuft, ein Terrorist.«

    »Du verstehst das nicht! Wenn diese ganzen Araber«, Klara spuckte das Wort aus wie eine Krankheit, »dageblieben wären, wo sie herkommen, dann wäre hier kein einziger Mensch gestorben.«

    »Wären diese Menschen dortgeblieben, dann wären sehr viel mehr Menschen gestorben. Nämlich viele von denen, die hier Zuflucht gesucht haben, weil sie letztendlich vor den gleichen Menschen geflüchtet sind, vor denen du Angst hast.« Laura funkelte Klara wütend an. Sie war müde, aber sie würde nie müde genug sein, um diese Diskussion mit der alten Dame zu führen, auch wenn sie wusste, wie aussichtslos sie war.

    »Und wenn du der Meinung bist, dass Menschen, die hierhergekommen sind, weil sie in ihrer Heimat verfolgt oder getötet worden wären, kein Anrecht auf eine Bleibe haben, dann hättest du das genauso wenig wie sie. Wo wärest du jetzt, hätte man dich nicht vor 70 Jahren mit offenen Armen empfangen und dir eine Chance gegeben, als Ostpreußen besetzt wurde und dein letzter Ausweg über die gefrorene Ostsee führte?«

    Klara schnappte nach Luft. »Das ist etwas ganz anderes, das kann man überhaupt nicht vergleichen.«

    »Nein, Klara, das ist es nicht. Jeder Mensch, egal welcher Farbe und Herkunft, unabhängig der Religionszugehörigkeit, hat ein Recht auf ein Leben in Frieden. Und wenn das an dem Ort, von dem sie kommen, nicht gegeben ist, dann ist es ein Zeichen der Menschlichkeit, dass wir sie in ihrer Angst und ihrem unendlichen Leid auffangen und ihnen ein Zuhause geben, statt ihnen zu unterstellen, sie wollten uns etwas Böses. Die meisten wollen nur eines: leben. Leben wie du und ich!« Laura redete sich in Rage. Erst als die Dame ihr gegenüber schwieg, nickte sie zufrieden und wandte sich in Richtung Treppe. »Ach so, ich kann Samstag wieder mit Krümel gehen, ich hole ihn um neun ab«, fuhr sie in einem beschwichtigenden Tonfall fort.

    »Er heißt nicht Krümel. Aber danke. Und wenn du dich dann mal gerade nicht darüber aufregst, dass ich lieber einen Spanier als einen dahergelaufenen Flüchtling als Nachbarn habe, dann kannst du ja mal darüber nachdenken, dich ihm vorzustellen. Er ist wirklich hübsch – und er ist auch noch Polizist, ein richtiger Held, was will man mehr?«

    Eine Nachbarin mit Hirn und Toleranz, dachte Laura bei sich. Sie mochte Klara, aber jetzt gerade war sie nur noch genervt. Hatte die Frau ihr überhaupt zugehört? War sie dazu in der Lage, mal hinter die Fassade eines Menschen zu blicken? Vielleicht war jener Polizist ja auch nur hübsch und das war’s. Oder er war kein Held, sondern nur jemand, der ausnutzte, dass er eine Uniform trug. Wie auch immer, es war Laura herzlich egal.

    »Du weißt doch, ich möchte mich momentan niemandem vorstellen, zumindest nicht so, wie du das meinst. Ich brauche keinen Mann in meinem Leben. Von denen habe ich für die nächsten zehn Jahre genug.«

    »Erzähl doch keinen Blödsinn, niemand ist gern allein.«

    »Klara, ich habe dich super gerne, aber auch wenn du für mich wie eine Großmutter bist, musst du nicht mit mir in einem hellhörigen Flur meinen Beziehungsstatus diskutieren.« Sie setzte ihren Fuß auf die erste Treppenstufe.

    »Ich will dir doch nur helfen.«

    »Das ist lieb, aber ich muss jetzt wirklich rauf. Ich hab Hunger und ich glaube, Krümel möchte auch dringend raus. Habt einen schönen Abend.« Laura sprang die Treppenstufen rauf und hörte nur noch mit halbem Ohr, dass Klara ihr eine gute Nacht wünschte und sich erneut darüber beschwerte, dass ihr Hund nicht Krümel hieße, da stand sie auch schon vor ihrer Wohnungstür im ersten Stock. Zu Hause, endlich. Sie würde nur noch kurz etwas essen, dann ausgiebig baden und schnell schlafen gehen. Das würde sie vergessen lassen, wie besorgniserregend das Gespräch mit Klara gewesen war, da es mehr und mehr die Grundhaltung der Bevölkerung widerspiegelte. Und vielleicht ließ sich damit auch der Gedanke an den komischen Fremden am Bahnsteig verdrängen. Das Einzige, was sie jetzt schon wusste, war, dass die Einsamkeit nicht verschwinden würde. Klara hatte schon recht: Niemand war gern allein, aber als Einzelkind hatte sie keine Schwester, mit der man über alles reden konnte. Ihre Kommilitonen, mit denen sie mal was trinken ging oder neue Rezepte ausprobierte, waren zwar nett, aber nah waren sie ihr nicht. Ihre echten Freunde beschränkten sich auf Sandra, die sie schon seit der Grundschule kannte, die aber gerade in Australien Bananen erntete, um mit dem verdienten Geld am Great Barrier Reef tauchen zu gehen, und Julia, ihre treueste Seele, wenn es darum ging, lange Nächte in der Bibliothek zu überstehen. Doch auch die hatte mit der Aussage, es sei doch genial am Strand Weihnachten zu feiern, das Weite gesucht und ein Auslandssemester in Südafrika begonnen.

    Da war also nur noch sie. Sie und die unregelmäßigen Skype-Telefonate und sie mit ihrer fast schon krankhaften Angst davor, einem Menschen zu vertrauen. Als Jan sie vor ein paar Jahren verlassen hatte, hatte sie beschlossen, Krümel zu ihrem besten Freund zu ernennen und sich ansonsten von der männlichen Spezies fernzuhalten. Es war besser so. Mit wütenden Hieben zerkleinerte sie eine Karotte, auch wenn diese nichts dafürkonnte.

    Kapitel 4

    Was hatte sie bloß mit diesem Plakat? Laura wusste nicht warum, aber auch am nächsten Tag stand sie wieder wie magisch angezogen vor der Werbung für diese Tanzgala. Entschuldigend wich sie einem Mann aus, der sich mit einem großen Koffer an ihr vorbeidrängelte.

    Im nächsten Moment zuckte sie zusammen, denn sie hatte nicht damit gerechnet, diese Stimme noch einmal zu hören und dann auch noch am selben Ort. Am liebsten wäre sie unsichtbar gewesen, irgendetwas an diesem Fremden war ihr unbehaglich.

    »Sie scheinen ja eine wirkliche Träumerin zu sein. Starren Sie das Plakat jeden Abend an?«

    »Ich wüsste nicht, was Sie das angehen sollte!«, antwortete Laura giftig.

    »Möglicherweise gar nichts, ich möchte Sie nur davor bewahren, zu glauben, das wäre etwas für Sie.«

    »Und wieso glauben Sie, das beurteilen zu können?« Laura fühlte sich angegriffen. Hatte er sie nur hier stehen sehen oder hatte er sie schon vorher beobachtet und glaubte jetzt, sich herausnehmen zu können, ihre körperliche Unzulänglichkeit als Erklärung dafür nehmen zu können, dass sie nicht auch mal träumen durfte? Umso mehr verwirrte sie seine Antwort.

    »Weil ich weiß, was es bedeutet, wirklich zu tanzen. Und weil ich weiß, dass die meisten dazu heute nicht mehr in der Lage sind und dem Tanz damit sein Herzstück nehmen und eine leere Hülle zurücklassen.«

    »Ach ja?« Laura stockte kurz. Wer war dieser Mensch und woher nahm er diese Worte? Seine Art zu sprechen erschien ihr total überheblich, aber irgendwie wirkte es nicht aufgesetzt. Sie fing sich wieder.

    »Und was ist Ihrer Meinung nach dieses Herzstück, was allen außer Ihnen fehlt?«

    »Gefühl, tanzen bedeutet fühlen.« Er sah sie weiter mit undurchdringlicher Miene an und Laura lachte auf.

    »Das ist jetzt nicht Ihr Ernst, oder? Sie tauchen hier einfach so auf, erzählen mir mit völlig emotionsloser Miene, was ich zu tun und was zu lassen habe, und dann erzählen Sie mir, ich sei diejenige von uns beiden, der es an Gefühl fehlt? Sorry, aber das ist einfach lächerlich!« Mit diesen Worten wandte sie sich ab und versuchte so viel Raum zwischen sich und den schwarzhaarigen Fremden zu bringen, wie es ihr möglich war.

    Er versuchte nicht, ihr zu folgen, doch sie spürte seinen Blick in ihrem Nacken, der sie bis in den nächsten Tag verfolgte.

    Was bildete dieser Kerl sich eigentlich ein? Es war doch nicht normal, dass man wildfremde Menschen auf dem Bahnsteig ansprach, auch noch mehrfach und in einem solchen Ton. Sie schnaubte verächtlich. So ein Idiot!

    »Hast du Redebedarf, Fräulein?« Molly hielt beim Fegen inne und betrachtete Laura mit besorgter Miene.

    »Nein danke, es ist nur nicht meine Woche«, murmelte Laura.

    »Aha?«, war die vieldeutige Antwort, doch statt zu reagieren, hüllte Laura sich weiter in Schweigen und Molly schien dies zu respektieren. Laura wusste das sehr zu schätzen und zwang sich zu einem Lächeln. »Danke Molly, es ist wirklich alles in Ordnung. Tut mir leid, falls ich schlechte Stimmung verbreitet habe.«

    Sie konnte nicht erklären, warum der Fremde sie so auf die Palme brachte. Eigentlich ärgerte sie sich auch mehr über sich selbst als über Mister Nasehoch. Denn auch, wenn dieser ihr gegenüber noch kein einziges freundliches Wort hatte fallen lassen, war sie ihm nicht abgeneigt. Sie könnte jetzt auch nicht behaupten, dass sie ihm zugetan war. Aber die Frage, warum er so war, wie er war, und ob er nicht eigentlich nur versuchte, eine Fassade zu präsentieren, hinter der es aber ganz anders aussah, beschäftigte sie. Davon ab erstaunte es sie schon sehr, von einem männlichen Wesen Worte wie Gefühl zu hören. War ihm das wirklich wichtig? Aber warum war er dann so eiskalt?

    Julia hätte mal wieder über sie gelacht. Sie amüsierte sich immer darüber, wie Laura sich stundenlang damit beschäftigen konnte, sich zu fragen, woher Menschen kamen, wohin sie gingen, und welche Ereignisse sie zu denen gemacht hatten, die sie waren. Dem einen mochte das lächerlich vorkommen, dem anderen nicht. Laura war der Meinung, dass dies das Grundwissen wäre, um Verständnis aufbringen zu können. Und das wiederum war doch ein zentraler Punkt, auch ihres Studiums. Nicht umsonst studierte sie Sozialpädagogik. Und war da nicht das Wichtigste, dass man lernte, sein Gegenüber zu verstehen und einzuordnen, um es begleiten zu können?

    Sie schob einen Stapel Blumenkübel zur Seite und wischte über das Regal. Aber dieser komische Fremde war schließlich keiner ihrer zukünftigen Schüler, die es zu betreuen galt, sondern ein Fremder, den sie ohnehin nie wiedersehen würde. Warum vermischte sie also das eine mit dem anderen? Er konnte ihr völlig egal sein und sie sollte ihn schleunigst vergessen.

    Daran versuchte sie sich auch noch zu erinnern, als sie, wie jeden Abend, die Treppe zur Bahn hinunter trabte und dann bewusst erst drei Meter hinter dem Plakat, inmitten einer japanischen Reisegruppe, zum Stehen kam. Wie eine Verfolgte sah sie sich um. Er würde doch nicht wieder hier auftauchen? Als die Bahn einfuhr, atmete sie erleichtert auf. Endlich ein ganz normaler Tag ohne komische Gespräche. Sie stieg ein und ließ sich auf den nächstbesten freien Platz sinken, während sie in ihrer Tasche nach ihrem Handy kramte.

    »Komisch, man könnte fast meinen, Sie verfolgen mich.«

    Wie elektrisiert fuhr Laura herum. Das konnte ja wohl nicht wahr sein!

    »Ich sag Ihnen jetzt mal was: Wenn hier jemand jemanden verfolgt, dann Sie ja wohl mich. Während Sie die letzten Tage immer die andere Linie genommen haben, fahren Sie heute auf einmal mit derselben Bahn wie ich?« Entrüstet funkelte Laura den Mann auf der anderen Seite des Ganges an, der beschwichtigend die Hände hob.

    »Wow, wow, jetzt wollen wir ja mal nicht übertreiben. Ich sitze seit drei Stationen in dieser Bahn, konnte also gar nicht wissen, dass Sie hier keine fünf Minuten

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