Die Narben unter den Masken
Von Markus Mayer
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Die Narben unter den Masken - Markus Mayer
Markus Mayer
Die Narben unter den Masken
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VerlagslogoInhaltsverzeichnis
Titel
Die Narben unter den Masken
Impressum neobooks
Die Narben unter den Masken
Vor zwei Jahren hatte er festgestellt, dass Partys Zeitverschwendung waren. Damals war er das letzte Mal auf einer gewesen.
Er hatte es dort gehasst und er vermutete, dass er dieses Gefühl auch auf dieser Feier spüren würde. Er hasste Smalltalk. Gleichzeitig hasste er aber auch Stille, die sich ausbreitete, weil auch viele andere dieses leidige Palaver hassten. Er hasste seine eigene Unlust, den Smalltalk in Gang zu bringen. Er hasste auch Sentimentalitäten, die geäußert wurden, sobald der Alkoholpegel der Anwesenden stieg. Und der stieg schnell, denn keiner genoss die spröde Atmosphäre einer nüchternen Party. Kaum einer dieser 20- bis 25-Jährigen verfügte über Strategien, die ein Überleben in sozialen Situationen ohne Alkohol und gleichzeitig ohne Schamgefühl möglich machten.
'Ihr wisst, dass jeder der anderen theoretisch euer Facebook-Profil kennen könnte‘, schimpfte er in seinem Kopf. ‚Wahrscheinlich geht ihr sogar davon aus! Denn was könnte für die anderen schon wichtiger sein, als euer Scheiß-Facebook-Profil? Idioten!. Dann habt ihr Angst, jemand könnte euch ertappen, wenn ihr was sagt, das so nicht in eurem Profil steht! Trottel.'
Mit sich selbst redete Leonhard Kühlenbach ganz gern. Dann machte alles Sinn. Ganz anders, als sonst, wenn er mit anderen Menschen redete, zum Beispiel im Rahmen einer Party. Allein wie das schon klang – Party! 'Das Konzept gibt es schon ewig, doch einen anderen Begriff dafür habt ihr nicht gefunden? PARTY – wie ein scheiß Kinderspiel klingt das... oder wie eine Verniedlichung für irgendwas Ekliges, zum Beispiel nen Pickel oder nen eitrigen Fußnagel.'
Obwohl er also alles an Partys hasste, war er jetzt auf einer. Eine Herausforderung zwang ihn dazu. Seit jeher war das eine Schwäche von Leo. Seit jeher nannte ihn jeder so – nicht seine Freunde, denn Freundschaft war ein Luxus, den er sich nicht leisten konnte – einfach jeder nannte ihn so. Teddy war auch kein Freund, doch dessen Idiotie hatte tatsächlich dazu geführt, dass Leo nun Teil dieser gespielten Lustigkeit war.
Die Party fand auf dem Innenhof der großen Wirtschaftsfakultät statt und die schönen Aspekte, die man ja durchaus auch hervorheben kann, waren die frische Luft und die letzten Spuren des Abendrots, die den Horizont schmückten. Beides hätte man in einem Etablissement mit vier Wänden wahrscheinlich verpasst. Die Versorgungsstände säumten den noch etwas dünn besiedelten Tanzbereich. Dieser lag unterhalb der Bar, an der Leo jetzt lehnte. Die meisten Studenten scharten sich – wie Leo selbst - am Rand der Tanzfläche. In seiner Hand hielt er ein Glas mit stillem Mineralwasser, während sein Ellbogen an der Theke auflehnte und seine Augen das Treiben beobachteten. Er nahm an den Frauen unterschiedliche Modestile, Körperproportionen und Haarfarben wahr, konnte aber gar nicht sagen, welche Kombinationen er bevorzugte. Viele hatten ihre Reize, keine weckte jedoch sein Interesse. Wie auch? Sie waren Teil einer Welt, mit der er nichts zu tun haben wollte.
Es war kurz nach zehn Uhr. Er beobachtete das ein oder andere Mädchen, das nicht mehr fähig war, ihre Begierde gegenüber ihrem jeweiligen Objekt der Begierde zu verbergen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis auch die Kerle ihre verwehrten Herzensdamen anschmachteten. In der Regel vertrugen die Männer einfach mehr Alkohol als die Frauen, was der Grund für die zeitliche Verzögerung war. Es ekelte ihn, dass die Persönlichkeit von Menschen so sehr vom Konsum irgendwelcher Substanzen abhing. In Leos Augen war Abhängigkeit die größte Sünde: 'Scheiß auf Hochmut, Neid, Mord, Ketzerei – Abhängigkeit ist wirklich erbärmlich!'
Dunkle Gedanken hatten Leos Kopf also eingenommen und das schon nach einer Viertelstunde am Tresen. Die Eindrücke drohten ihn mit Anstieg des Energielevels auf der Party immer mehr zu überwältigen. Für ihn war es keine positive Energie, sondern eine Energie des Durchschnitts, der Weichheit, der Schwäche, der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung und damit der Krankheit oder wie manch prätentiöse Kapazität sagen würde; der Dekadenz. Die Epidemie seiner Generation war die Bedeutungs- und Ziellosigkeit. Das geistige Junk-Food, welches konsumiert wurde, stand dem Fraß an den beiden Imbissbuden der Party-Location in Sachen Gesundheitsschädlichkeit in nichts nach. Er durfte sich nicht anstecken lassen, sein Kopf musste völlig unabhängig davon bleiben, durfte keine Pro- und keine Kontraeinstellung dazu entwickeln. „Nur beobachten, nicht beurteilen, nur beobachten!", ermahnte er sich und warf einen Blick auf Teddy, der nicht weit von ihm entfernt stand.
Ihm fiel auf, wie Teddy immer wieder auf ein bestimmtes Mädchen schielte. Sie stand auf der gegenüberliegenden Seite des Innenhofs, dort saß sie an einer der Bänke vor der Pilsbar. Das musste sie sein! Die Frau, die in Teddys Augen am Schönsten war. Diese Frau musste Leo aufreißen. Das war seine Herausforderung, die wenn er sie meisterte Teddy zeigte, was für ein elender Idiot dieser war.
Leo kippte sein Wasser herunter, löste sich vom Tresen und bevor er die Stufen hinunter ging, gab er Teddy einen triumphierenden Klapps auf die Schulter. Dieser schaute ihn zunächst etwas irritiert an, bis sich sein Gesicht aufhellte – er hatte verstanden.
Im spärlich besiedelten Tanzbereich angekommen, etwa zehn Meter von der Auserwählten entfernt, verlangsamte Leo seinen Gang. Er entspannte sein Gesicht, steckte alle Finger seiner linken Hand – außer den Daumen – in die Hosentasche seiner dunklen, gerade geschnittenen Jeans und ließ den rechten Arm leicht neben seiner Hüfte vor und zurück schwingen. Von nun an konzentrierte er sich ganz genau auf seine eigene Körpersprache. Darauf, dass er sich nicht an die Nase fasste, an seinem schwarzen Hemd herumzupfte oder beide Hände in die Taschen vergrub. Sein Rücken war gerade wie ein Lineal, seine Schultern locker wie Quarkteig. Er wusste, dass sein Dreitagebart sehr gepflegt und seine Haare nicht zu sehr gepflegt aussahen. Einen Blick warf er noch auf seine Schuhe und er war zufrieden, als er keinen Fleck darauf entdeckte. Das war‘s – ab sofort würde er seine eigene Erscheinung nicht mehr prüfen dürfen. Jetzt galt es, seine Augen nach vorne zu richten.
Zusammen mit einem anderen durchschnittlich attraktiven Mädchen saß die Auserwählte auf einer Bank. Die beiden unterhielten sich. Das gewellte blonde Haar der Schönheit hüpfte ganz sachte auf und ab, wenn sie lachte und nickte. Leo hörte schon einige Fetzen ihres gemeinsamen Schnatterns. 'Das nenn‘ ich mal eine Herausforderung – mitten in ein Gespräch reinplatzen!' Er zwang sich aber trotzdem, ohne Zögern weiterzugehen. Plötzlich stand die weniger Schöne auf und ließ die Schönheit allein zurück. Glück für Leo!
Im 3-Meter-Radius der Schönen war er jetzt die einzige Person. Ihr Ausdruck nahm etwas Melancholisches an. Doch nur für einen Moment - sofort war sie auf der Hut, denn sie merkte wie er zielstrebig auf sie zu steuerte. Sie erwartete ihn, doch nur kurz schaute sie ihn an, gleich drehte sie sich weg. Doch diese Sekunde reichte Leo, um innerlich zusammen zu zucken. Das Blau ihrer Augen war so hell... Es erinnerte ihn an die Eisbonbons, die er als Kind solange gegessen hatte, bis ihm der Gaumen aufgeschürft war.
Nach außen drang sein Zucken nicht, keine einfache Aufgabe, aber er meisterte sie. Als sie wieder nach oben schaute, wartete seine Backe schon mit einem friedlichen Grübchen auf sie.
„Du hast doch nichts dagegen?" Er deutete auf den Platz neben ihr.
Ihr Ausdruck hatte sich verschüchtert, denn seine roboterhafte Selbstverständlichkeit musste ihr wie ein Flutlicht entgegen strahlen. Zu intensiv, zu direkt. Ohne auf Ihre Antwort zu warten, setzte er sich. Mit seinem linken Ellbogen auf der Rücklehne und seiner rechten Hand auf seinem Oberschenkel saß er neben ihr. Mit seinen Augen wanderte er ihr Gesicht ab: Von der linken Augenbraue zur rechten, vom rechten Auge zum linken, von der Nase zum Mund, zum Kinn, über die Wangenknochen wieder nach oben. Wie oft hatte er diesen Blick in den letzten zwei Wochen geübt? Zuerst stundenlang vor dem Spiegel und dann, als er ihn völlig zuverlässig abrufen konnte, in jeder Alltagsinteraktion mit beliebigen Frauen: Egal ob er Brokkoli auf dem Wochenmarkt kaufte, sich von der alten Haustratsche im Treppenhaus Geschichten von früher anhören musste, oder der Uni-Professorin Fragen zur Hausarbeit stellte, immer ging er seine Blick-Routine durch.
Er hatte festgestellt, dass er manche Frauen sofort, andere erst nach dem Durchdringen einer Phase der Skepsis bezirzen konnte. Völlig überrascht war er über die Tatsache, dass selbst Kommilitoninnen, die er die vergangenen drei Jahre komplett ignoriert hatte, schnell auf diese in einem Blick gebündelte Aufmerksamkeit ansprangen. Er war eigentlich davon ausgegangen, dass speziell diese Frauen abgeschreckt sein würden, weil sie ja zwangsläufig irgendein doppeltes Spiel vermuten mussten. Aber offenbar ist jeder Mensch geschmeichelt, wenn sich ein Misanthrop ausgerechnet für sie interessiert. So fühlt man sich wie etwas Besonderes.
„Süße Grübchen!", sprach er sie an.
„Woher willst du das wissen?", antwortete sie trocken.
„Ich meinte meine." Er lächelte und ließ seine Grübchen tanzen.
„Was Besseres fällt dir nicht ein?" Sie verzog das Gesicht.
„Hat doch gereicht. Du lachst!"
„Ich... Was?"
„Gute Selbstbeherrschung! Einem Ungeübten wäre entgangen..."
„... was willst du?", unterbrach sie ihn, doch er ignorierte ihre Unhöflichkeit und fuhr fort: „Du würdest gerne