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Ankunft in Kythera
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eBook252 Seiten3 Stunden

Ankunft in Kythera

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Über dieses E-Book

Der Roman spielt in einer nahen Zukunft. Eine Siebzigjährige muss sich durchschlagen und unbedingt Geld verdienen, wie fast alle Älteren dieser Zeit. Unwillig begibt sie sich auf Jobsuche und stolpert durch eine offenbar skurril gewordene Welt: monströse Altenghettos und Pflegeelend; junge Menschen auf der Flucht vor der Arbeitsverpflichtung; »Agenturen«, die helfen, lästig gewordene Angehörige ins Nirwana zu schicken; Detekteien, die daran nichts ändern können; Saboteure, die Chaos in die allgegenwärtige Vernetzung bringen. Und dabei ist es doch schwer genug, einfach durch den Tag zu kommen.
»Ankunft in Kythera« beschreibt ironisch Desaster um Desaster - oder geht es nicht doch irgendwie gut aus?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum18. Sept. 2019
ISBN9783743923461
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    Buchvorschau

    Ankunft in Kythera - Sabine Achilles

    Heute wäre ich lieber zu Hause geblieben. Es passte wieder einmal nichts, der Tag nicht, mein Leben nicht, die ganze lästige Welt nicht. Und das jetzt Anstehende schien deprimierend sinnlos. Ich war mir sicher: Ich habe nichts mehr zu erwarten, die Nichts-ist-unmöglich-Zukunft kommt nicht mehr. Lächerlich, noch darauf zu hoffen, jetzt ist alles zu spät, »heute« nur noch eine falsche Zeit. Ich kann nichts mehr tun – aber anrufen sollte ich doch, aus Höflichkeit, und um einen neuen Termin bitten, den ich wieder absagen kann. Oder?

    Wenig später war ich auf dem Weg zur Arbeitsagentur. Nur, um mir nichts vorwerfen zu müssen. Ein trauriger Entschluss, ich tat mir nun wirklich leid (könnte es doch so schön haben als eine andere in einem anderen Leben!), ärgerte mich schon, dass nicht die Sonne schien. Verstand wieder einmal nicht, wie es die jungen Leute aushalten, jeden Morgen zur Schlafenszeit hinaus zu müssen in diesen Lärm, diese Unruhe. Diese Hektik, die irgendwie fortwährend zunimmt. Ich war wohl die einzige, die langsam ging, die Eile hatte ich längst verlernt. Am Eingang zur U-Bahn habe ich einen langen Moment überlegt, wieder umzukehren, dabei die Video-Werbung an der Rolltreppe gesehen:

    Ankunft in Kythera: eine Möwe vor wolkenlosem Himmel über tief blauem Meer, langsamer Sinkflug zu einem Olivenbaum, eine luxuriöse Appartementanlage unmittelbar an der Küste, eine sonnenbeschienene Terrasse, eine Festgesellschaft an langer, üppig gedeckter Tafel, zuletzt das Bild von der lachenden, vielleicht neunzigjährigen Braut.

    Da müsste ich jetzt sein, habe ich gedacht. War also nicht klug an diesem Morgen. Vorher nicht. Hinterher nicht. Bin nur früh aus dem Haus gegangen. Weiter nichts.

    In der Agentur erwartete mich leider die Sachbearbeiterin, die mich bei meinem letzten Besuch eingeschüchtert hatte. Ich erinnerte mich gut, sie hatte mich nicht einmal ausreden lassen, als ich meine Situation beklagen wollte, sofort begonnen, über Jobchancen zu referieren und betont emotionslos (und doch irgendwie vorwurfsvoll) überraschend unfreundliche Vorschläge gemacht. Ich war der Situation nicht gewachsen gewesen, hatte das Gefühl, beleidigt zu werden – habe gegen das Gefühl angekämpft und mich blöderweise auf nichts mehr konzentrieren können. Dabei ist einzusehen: Sie darf sich nicht vertraulich geben, muss emotionale Tiraden der Jobsuchenden abwehren und ich es hinnehmen, so distanziert behandelt zu werden wie vermutlich alle anderen auch. Heute war sie offenbar müde, vielleicht sanfter, dennoch zurückhaltend souverän. Ich war dagegen von der kurzen Wartezeit erschlagen. Nicht einmal die aufrechte Haltung fiel mir leicht, als ich aufgerufen wurde. Ich werde wieder mein unentschlossenes Verlierergesicht gehabt haben.

    Sie erinnerte sich offenbar auch, hatte vermutlich bereits meine Akte geöffnet – und für einen Moment tatsächlich wieder einen Anflug von diesem Lächeln in den Mundwinkeln, das sie damals nicht unterdrücken konnte, als ich idiotischerweise gesagt hatte, ich könne Klavier spielen. Ankämpfen hat sie müssen gegen dieses Lächeln, ihre Miene nur mit Mühe unter Kontrolle gebracht – und ich bin für alle Ewigkeit bloßgestellt: Klavierspielen! Nein, etwas Brauchbares habe ich nicht vorzuweisen, kein Dolmetscher-Diplom, keine Ausbildung im Steuerrecht, nichts Therapeutisches. Es muss mir klar sein: Für Bildschirm-Jobs werden selbstverständlich Jüngere bevorzugt, die besser mit den stündlich wechselnden Systemen klarkommen, mit meinen gut siebzig Jahren bin ich ohnehin nur bedingt ausbildungstauglich und nächtens nicht gut einsetzbar, im Erziehungssektor gibt es »Berufenere«, der ist allzu beliebt (wo sollen denn bitteschön all die Kinder für die sich anbietenden Ersatz-Großeltern herkommen?), Telefonwerbung ist neuerdings verboten, verkauft wird heutzutage online, nicht mehr taufrische Gesichter sind ohnehin nicht unbedingt umsatzsteigernd … Und für den Pflegebereich, dem angeblich einzig expandierenden Wirtschaftssektor, sei ich mir ja noch zu schade. Hatte sie wirklich noch gesagt? Ja, jetzt anzufangen, Hintern abzuwischen, bis ich selbst soweit sei, dass man mir … und so weiter – nein, so habe ich es nicht ausgedrückt, nur schlicht abgelehnt mit unglücklichem, angewidertem Gesicht.

    Nun war ich bereit, noch zu schade muss ja mal aufhören. Aber heute hatte sie etwas Mitfühlendes (nicht nur Lächeln) in den Mundwinkeln, sagte tatsächlich: »Sie sind ja so zart.« Nein, ich bin nicht die, auf die sich jemand stützen könnte, der Hilfe bei einem Gang zur Toilette braucht, in die rechte Sitzposition gerückt werden möchte oder gar zum Hinfallen neigt. Ja, die schwere Arbeit können »Berufenere« besser durchstehen. Aber es bleibt mir doch nichts anderes mehr – oder ist nun auch das aus und vorbei?

    Sie tat, als hätte sie mein Erschrecken nicht wahrgenommen, schaute angestrengt auf den Monitor: »Für Sie habe ich vielleicht etwas anderes.« Wieder ein Anflug von Lächeln. »Einen Moment bitte, ich habe das Angebot in einem speziellen Ordner aufgehoben. Vielleicht meint, ich habe etwas für Sie, aber Sie müssen natürlich schauen, ob es das Richtige wäre, jedenfalls ist es ein Job für Ältere, die gegebenenfalls auch kultiviert auftreten können.« (Aha!, dachte ich.) »Hier ist es, ich lasse die Seite drucken. Die Firma heißt Wir-sind-für-Ihre-Fragen-da, ist in der Nähe, leicht zu erreichen. Ich kann Sie anmelden, wenn Sie möchten.«

    Ich begriff nicht sofort, sie blieb höflicherweise geduldig und erklärte, es handele sich um eine Art Detektei, die für bestimmte Aufträge ältere Mitarbeiter brauche, mehr dürfe sie nicht verraten. Auf jeden Fall sei es eine sehr originelle und bestimmt interessante Anfrage, sie würde sich sehr für mich freuen, wenn es mir gefiele.

    Nicht gefallen? Unmöglich! Ich war fest entschlossen, rundum begeistert zu sein, welch überraschende Wendung, welch unvermuteter Ausweg. Witzelte fröhlich über meine kommende Karriere als »Miss Marple« und zauberte ein letztes Lächeln in das Gesicht der um Zurückhaltung bemühten Sachbearbeiterin: Sie durfte ruhig wissen, sie hatte mich heute glücklich gemacht.

    Leichtfüßig eilte ich nach draußen, mit erhobenem Haupt, wie es heißt, nur die Spiegelung in der Eingangstür dämpfte meine Euphorie. »Kultiviert auftreten« mit dieser Jacke? Was tun gegen die Verschleißspuren am Ärmel und die abgetretenen Schuhe, ja, ein noch größeres Problem waren die Schuhe.

    Ich hatte also schon wieder etwas Sorgenvolles im Blick, als mir nach ein paar Metern Vera über den Weg lief. Ausgerechnet Vera, deren überströmendes Temperament mich in zehn Minuten vollständig erschöpfen kann. Monate hatte ich sie nicht gesehen, dabei war sie eine Freundin gewesen, ist es im Grunde noch, eigentlich die einzige, die ich habe. Sie nahm mich gleich mit großer Geste in den Arm, als ob sie sich unglaublich freuen würde, mich getroffen zu haben. Ob sie mitbekommen hat, dass ich soeben das Jobcenter verlassen habe? Sich unterhakend schob sie mich Richtung Altstadt. »Du hast Zeit, dich jetzt zu einem Imbiss ins Cosmo einladen zu lassen.« Das war allerdings nicht schlecht, die Gelegenheit, im Cosmo zu sitzen, unmöglich auszuschlagen – hatte ich nicht erst vorgestern, als ich dort vorbeiging, gedacht: Leute, die hier einkehren, haben eine andere Sorte Leben?

    Jetzt schaute ich auf die Vorübergehenden, fand Vera in diesem Moment ausgesprochen angenehm, ließ mir gefallen, dass sie pausenlos redete in ihrem üblichen Jargon: Sie habe wahnsinnig viel um die Ohren, sei andauernd auf Achse, das Leben zurzeit eine einzige Unordnung … »Mir fehlt ein Ausgleich, ein Ruhepunkt, ein konzentrierter Ruhepunkt allerdings, gerade mit dir habe ich schon lange darüber sprechen wollen, das musst du gleich aushalten – sobald wir dem Hungertod entkommen sind.«

    Ich hörte kaum hin.

    »Gut siehst du aus«, log sie.

    Ich hätte nicht den zehnten Teil ihrer Vitalität, untertrieb ich.

    »Du hast dich doch nicht gerade im Center für irgendeinen miesen Job kleinkriegen lassen?«

    Ich stotterte, eine Antwort zu geben, war in diesem Moment zu viel verlangt. Sie ging netterweise darüber hinweg, sagte: »Dein Problem ist, dass du nicht die Leute kennst, die schätzen, was du kannst. Ja genau, was du kannst. Man muss die finden, die einen weiterbringen können, anders geht es nicht. Ohne die bist du verloren. Ich hab das noch rechtzeitig begriffen und mich mit einer Wahnsinnsenergie unter die Leute gemischt – und schließlich Glück damit gehabt. Oder besser: Erfolg. Bin tatsächlich dem Geldgeber begegnet, ohne den ich meine neueste Geschäftsidee nie hätte realisieren können. Und auch dem Zweitpartner mit dem unverzichtbaren Talent fürs Praktische. Allein könnte ich so was ja nicht durchziehen, mir fehlt komplett der Sinn für die Übersichtlichkeit.«

    »So was?«

    Sie lachte. »So was nenne ich lieber nicht gleich beim Namen, ziere mich gerne ein bisschen, es hat so was Erschreckendes, mal gucken, was du gleich für ein Gesicht machst: Also ich bin ins Begräbnisgeschäft eingestiegen, eine boomende Branche, genauso wie die Pflegeindustrie, naturgemäß wird sie sie aber noch einen Moment überleben – obwohl das zugegeben ziemlich makaber dahergesagt ist. Du siehst tatsächlich verdattert drein, aber ich kenn das ja, dass alle eine betretene Miene aufsetzen. Daran muss ich mich halt gewöhnen. Für mich ist diese Arbeit jedenfalls besser als alles, was ich vorher gemacht habe, einfacher und lohnender, die Rettung für meine alten Tage.«

    »Aber …«

    »Ne, lass mal, wenn du jetzt sagen willst: Ist doch ‘ne wichtige Aufgabe und so weiter, dann ist das nett, aber unnötig. Bekomme ich immer zu hören, ist ein Höflichkeitsreflex oder reine Verlegenheit. Dabei denkt jeder: Begräbnisse sind furchtbar. Sie haben nun mal einen Anlass, mit dem man sich nicht abfinden will, schon gar nicht, wenn vielleicht ein guter Freund mausetot ist. Und man will sich erst recht nicht vorstellen, dass man selbst irgendwann …, na ja. Und auch nicht an die abgenützten Rituale denken, die Reden, das verlogen Feierliche, das ganze sakrale Getue, das man doch ablehnt, die hässlichen Kreuze in den öden Trauerhallen – ein Skandal, dass die immer noch überall hängen –, das Blumenwerfen in die kleine Erdgrube, alles trostlose Gesten, wirklich zum Heulen. Und es ist erst recht deprimierend, wenn die zukünftigen Toten dann zusammenhocken und über die Schwierigkeiten jammern, die sie mit ihrem Restleben haben. Und jeder denkt, muss das so sein, wie viele Prozeduren dieser Art werde ich noch durchstehen müssen, bis ich und so weiter.

    Aber ganz auf ein Ritual verzichten? Nein, natürlich auch nicht möglich. Was also tun? Wir fahren dem Dilemma davon, buchstäblich, mit einem Bus nämlich, der perfekt für diesen Zweck umgebaut und eingerichtet ist. Dieser Bus schluckt die Begräbnisgesellschaft und geht auf eine ausgeklügelte Route, meist um die Stationen des jeweils zu Ende gekommenen Lebens abzuklappern. Erstaunlicherweise sind viele nur wenige Kilometer von ihrem Geburtsort entfernt zu Tode gekommen, da geht dann die Route von der ersten Schule über den Sportplatz zur früheren Wohnung, den Domizilen der verschiedenen Ehen oder was sonst noch – meist ergibt sich schnell, wohin die Fahrt gehen soll, notfalls wird eben an einer nahegelegenen Brücke symbolisch Asche verstreut – echte geht ja nicht. Ich moderiere mit passenden Anekdoten an den dafür vorgesehenen Orten, dazu flimmern auf einem monströs großen Monitor Erinnerungsbilder und Filme – kurz, es läuft fabelhaft. Wenn du mal die Augen offenhältst, wirst du bestimmt demnächst unser phantastisches Gefährt durch die Stadt kurven sehen, erkennbar an den riesengroßen weißen Buchstaben an den Längsseiten … ach der Name, ja der Name, das ist eine andere Sache … Ich wollte ja, dass da steht: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, aber das sagte meinem Geldgeber nichts, er fand es zu sperrig und ‘sprachlich umständlich’. Nicht zu glauben, was? Zurück in die Zukunft war sein Vorschlag, das war mir zu flapsig, und so heißt es jetzt Die Reise des Lebens, na ja, ein Kompromiss eben.«

    »Ein sinnfälliger Name«, sagte ich, weil ich glaubte, endlich etwas sagen zu müssen, und sie kicherte: »Ein geschäftsfördernder.«

    »Man muss ja herausfinden, was den Leuten gefällt, das ist wichtig, es geht ja nicht um mein Vergnügen, sondern das dieser Leute – nun gut, um deren Vergnügen natürlich auch nicht, also, wie soll ich das ausdrücken, es geht um das sogenannte ‘gute Gefühl’, für das man bei Lebensabschiedsfeiern notgedrungen Geld ausgibt. Solche Veranstaltungen sollen ja ein bisschen was hermachen, lieber ein bisschen zu viel als zu wenig, das ist den meisten schon sehr wichtig, und es darf auch ruhig etwas kosten. Daran eben verdiene ich, und zwar gar nicht so schlecht. Aber ich bekomme auch Anerkennung, du wirst es nicht glauben.«

    »Doch, das glaube ich bestimmt, ist doch großartig, wenn einem jemand hilft, so einen Abschied gut über die Bühne zu bringen, ist ja wirklich eine besondere Dienstleistung.«

    »Ja, nicht? Das sagen auch die Leute und sind dankbar und erleichtert, wenn sich das gute Gefühl einstellt. Und es sind oft die Art Leute, die du kennenlernen solltest. Oder ich eben für dich kennenlernen kann. Die Sinn für Kultur haben, für Theater, Kunst und insbesondere Musik. Ich war selber überrascht, aber weißt du, ich treffe andauernd auf interessante Menschen, die mir plötzlich erzählen, es sei so schade, dass sie nie Klavierspielen gelernt haben. Und dass sie immer noch davon träumen, es doch noch auf die Reihe zu kriegen. Es sei nur so schwierig, einen wirklich einfühlsamen Lehrer zu finden … Na, ahnst du, worauf ich hinauswill?«

    »Äh …«

    »Natürlich ahnst du es: Du bist die einfühlsamste Lehrerin, die es geben kann, einfach ideal, all diese Leute warten nur auf dich. Ich hab das sofort gewusst. Und wenn du nichts dagegen hast, leg ich gleich morgen los und vermittle dir einen Korb voller Schüler.«

    War das ernst zu nehmen? Bekam ich jetzt wirklich ein weiteres Angebot zu einem Job, zwei an einem einzigen Tag? Und beide tatsächlich, weil ich mein bescheidenes Musizieren peinlicherweise nie für mich behalten kann? Erstaunt fragte ich: »Warum willst du das für mich machen, du hast doch gar nichts davon.«

    Da meinte sie lächelnd, wenn sie mir zwei, drei Schüler vermittelt haben würde, käme sie ebenfalls zu mir, als vierte Schülerin sozusagen, die Stunden bitteschön auf Provisionsbasis. Ich würde mich wundern, wie gelehrig sie sein könne, sie sei dann die, die am meisten davon habe, wie immer.

    Ich verstand ausnahmsweise sofort, war wach oder besser: auf der Höhe des Augenblicks, vielleicht auch wohlig gestimmt von den wirklich guten Canneloni verde, und lud sie umgehend ein, gleich mit dem Klavierspielen anzufangen. Für sie hätte ich immer eine Stunde Zeit, ob am Sonntag oder abends, ich war die Bereitschaft selbst. Und sie sagte ohne zu zögern zu, für den kommenden Montag, am frühen Abend. Also war es abgemacht.

    Die Detektei war einfach zu finden. Wenn ich zweimal vorbeigegangen bin, lag es erstens daran, dass nur wenige Meter entfernt der einzige Baum samt einer kleinen Bank stand und ich zunächst hoffnungsvoll und zielstrebig auf das Überbleibsel der Vegetation zusteuerte – und zweitens, weil ich zurückgehend nicht wahrhaben wollte, dass die Detektei ausgerechnet in dem allerhässlichsten, fast zur Baufälligkeit verwahrlosten Haus stecken sollte. Eingekeilt zwischen zwei moderat abstoßenden Neubauten, die nur auf dezente Weise schmutzig schienen, wirkte es wie ein von Grund auf verdrecktes Abrisshaus, in dem zurzeit höchstens ein paar Abgedriftete hausen könnten. Ich atmete tief ein vor Enttäuschung, versuchte mir einzureden, es müsse nichts bedeuten, würde nichts über die Seriosität der Firma aussagen, sei vielleicht einfach nur Tarnung.

    An den Klingelschaltern keine Namen, nur Buchstaben. LuT oder VvIG oder Bdgw. Ich wunderte mich nur kurz: Es ist doch verständlich, dass Firmen, die hier untergekommen waren, nicht gleich ihren Namen preisgeben wollen, ein Firmenschild wäre ja geradezu eine Deklassierung. Wahrscheinlich waren es sowieso bescheuerte Firmen mit bescheuerten Namen und guten Gründen für die Verschleierung. Und: wüsste ich mehr von den Firmen, wenn die Namen ausgeschrieben wären? Ist die Kürzelei nicht sogar ehrlicher, weil sie zum hämischen Raten auffordert? LuT heißt nun »Lug und Trug« oder »List und Tücke« (ha!), VvIG: Vereinigung von intellektuellen Greisen, nein, besser: Vernichtung von Ihrem Geld. Bdgw: Bin dann gleich weg, Bis das Gras wächst, Büro der guten Wünsche … Hier fiel mir leider nichts ein. WsfIFd stand an fünfter Stelle von unten. Wir sind für Ihre Fragen da. Sollte ich mir wirklich die Mühe machen hineinzugehen? Innen zum Glück keine Spur von herumliegendem Müll oder umtriebigen Ratten, sonst hätte ich umgehend kehrtgemacht. Der Fahrstuhl, den es immerhin gab, war eine winzige Kabine. In Anbetracht des verrotteten Zustandes des Hauses nahm ich selbstverständlich die Treppe. Gut, dass ich noch Zeit hatte, nach jedem Stockwerk eine Pause einzulegen. Das heißt, die ersten beiden schaffte ich ohne Unterbrechung, das bin ich ja gewöhnt, die weiteren Treppen nicht. Wie heißt es so sinnig: Im Rentenalter erreicht man auch den zwanzigsten Stock zu Fuß, wenn man die gewonnene Zeitautonomie klug einsetzt. Auf der vierten Etage verharrte ich noch ausgiebiger als auf der dritten, studierte die Schilder: CdI (Club der Irren?) und GzAdV (Gesellschaft zur Akkumulierung der Verluste?), sah in den Hinterhof: schmutzig-dunkler Boden und graue Wände, Mülltonnen, ein altes Fahrrad – eine grünfreie Zone. Traurigerweise schienen die Hinterhäuser bewohnt: ein kleiner Teddy in einem der Fenster, Blumentöpfe in einem anderen, ein Mann stand rauchend auf einem winzigen Balkon. Ob die Menschen hier Namen haben – oder heißen sie DMdr (der Mann der raucht) oder SmT (Spiele mit Teddy)?

    Zweimal summte der Fahrstuhl, während ich im Treppenhaus war, es schien mir, als ob er jedes Mal im fünften Stock gehalten hätte. Leider hatte ich recht. Und als ich dort ankam, brachte der Aufzug erneut jemanden hinauf, eine Frau ging grußlos an mir vorbei – auf die Detektei zu. Ich begriff: Ich war nicht die einzige, die eingeladen war. Und sah schon im Eingang, es waren mindestens zehn, die dort hockten und irgendetwas ausfüllten. Die Sekretärin gab mir freundlich, aber wortkarg ein Papier in die Hand und schickte mich zu den anderen. Der Raum war sparsamst möbliert, die Stühle unangenehm ungemütlich, seltsame technische Geräte waren an den Wänden montiert. Ich werde beobachtet, sagten sie mir, ich bin nur zu Prüfungszwecken geduldet, soviel wert wie der hässliche Tisch vor mir. Sofort war wieder die bleierne, zähe Hoffnungslosigkeit aus alten Schultagen gegenwärtig – warum läuft es immer auf dasselbe hinaus?

    Auf dem Blatt standen mein Name, die Vermittlungsnummer des Jobcenters und das Kürzel AW70KN (Anwärterin, weiblich, siebzig, kann nichts?). Und dicht gedrängt Sätze. Bitte kreuzen Sie an, welche der folgenden Aussagen Sie für zutreffend halten.

    Paris ist nicht so weit entfernt, wie es nötig wäre.

    Die gleichgültige Sicht auf die Dinge ist immer die angenehmste.

    Lügen muss der Mensch, um weiterzukommen.

    Was zu schön ist, um wahr zu sein, ist den meisten hässlichen Lügen vorzuziehen.

    Gestern war mehr Zukunft gewesen.

    Nichts ist unmöglich.

    Die wirklich guten Fragen werden selten beantwortet.

    Die wichtigsten Kurse sind die, die die Technik des Schneller Schlafens vermitteln.

    Wenn Vögel vom Himmel fallen, kann man getrost darauf verzichten, nach Hause zu gehen.

    Man ist zu oft am falschen Ort.

    Nirgendwo ist irgendwo.

    Ein Desaster zieht das andere nach sich, das Schlimmste ist stets nur die Vorstufe zu noch Schlimmerem.

    Von gestern zu heute ändert sich leicht alles. Man kann froh sein,

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