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Heimweh oder vom Aufbruch
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eBook298 Seiten4 Stunden

Heimweh oder vom Aufbruch

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Über dieses E-Book

Im dritten Buch seiner Trilogie "Der Süden oder die Traurigkeit, die nie mehr verging" beobachtet Patrick Thali Menschen bei der täglichen Arbeit. Modernste Technik scheint manche zu überfordern und sie stossen dabei an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Eindringlich - ohne zu bewerten und ohne zu verurteilen - schimmert ein tiefes Mitgefühl des Autors für ihre Schwächen durch und lässt die Leser stille Zeugen von dramatischen menschlichen Schicksalen werden. Der Autor bewegt sich selbst inmitten dieser Schicksalsgemeinschaft der Stadt Zürich, beschreibt den äusseren Schein und die inneren Nöte der heutigen Gesellschaft.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum12. Aug. 2015
ISBN9783738671872
Heimweh oder vom Aufbruch
Autor

Patrick Thali

Patrick Thali Geboren 1966 in Winterthur, Schweiz. Ebendort Schulen und Maturität. Studium Sek. Lehrer phil I an der Universität Zürich. Lebt heute in Zürich. Bei BoD sind vom Autor erschienen: Von der Angst und der Zuversicht, 2014 Fremdbestimmung oder die Glanzlosigkeit der Traumlosen, 2014 Heimweh oder vom Aufbruch, 2015 Die Unruhe, 2016 Die Krise, 2016 Hinter den Wäldern, 2017 Kontraste, 2018

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    Buchvorschau

    Heimweh oder vom Aufbruch - Patrick Thali

    UNBESTECHLICHKEIT

    Vorwort

    Die meisten von uns leben in Fremdbestimmung. Wir finden uns damit ab, da wir unseren Platz in der Gesellschaft sichern wollen. Ein Leben in Fremdbestimmung aber kommt einer schleichenden Selbstzerstörung gleich. Unsere Aufgabe ist nicht die fraglose Angliederung an die Gesellschaft, sondern die Distanzierung zu ihr, um ihr unser Eigenes anzubieten.

    Es ist mir nicht entgangen, dass sich die Inhalte einiger Sätze, in anderer Formulierung, wiederholen. Ich möchte bei dieser Gelegenheit auf Satz 3.22 der Kunst der Unbestechlichkeit verweisen, der den Grund für die Wiederholung benennt:

    „Die mentale Verfassung eines Menschen wird nur dann deutlich, wenn er Weniges immer wieder sagt. Was er sagen will, das Wenige, das er zu sagen hat, muss er immer wieder neu sagen. Er muss dies tun, um seine eigenen Worte neu zu beleben. Denn seine Worte verblassen eigenartig schnell in seinem Empfinden. Er will sie neu beleben, aber auch genauer, deutlicher formulieren, um ihren Wert zu steigern, um seine eigene Arbeit zu steigern. Darum sagt, wer etwas sagen will, immer wieder Gleiches. Um etwas anderes zu sagen, müsste er ein anderer Mensch sein."

    Ermutigung soll sie sein, diese Schrift, in dir nach einer Aufgabe zu suchen, die dir ein gutes Verhältnis zur Welt ermöglicht. Möge sie dich zur Freude hinführen.

    Mai 2015

    Patrick Thali

    HEIMWEH

    Sabotage

    „Nicht nur Verdienst, auch Treue

    wahrt uns die Person."

    Goethe, Faust II

    Ich stand in der menschenleeren heiligen Kapelle in Paris. Die goldenen Lilien, das königliche Blau und das warme Rot der hohen Fenster leuchteten würdevoll im hellen Sonnenlicht. Sie tauchten das Kapelleninnere in einen edlen Glanz. Irgendwo ertönte ein Glöcklein oder ein Triangel. Dann hörte ich Meeresrauschen. Es wurden Schiffe beladen. Ihre weißen Segel trugen Wappen in den Farben Gold, Blau und Rot. Festlich blähten sie sich im Wind. Vor mir, bis zum Horizont, lag das Mittelmeer. Die weißen Schaumkronen der Brandung kontrastierten wunderschön mit dem hellblauen Himmel. Dann ertönte wieder der Triangel der heiligen Kapelle, der in langsamen, aber regelmäßigen Schlägen etwas anzukündigen schien. Er wurde immer lauter.

    Ich erwachte mit dem pulsierenden Laut des Radioweckers. Das beleuchtete Ziffernblatt zeigte fünf Uhr. Es war Zeit, aufzustehen.

    Im Bus saß Frau Bogner an ihrem Fensterplatz. Auf ihrem Schoß trug sie ihren kleinen roten Rucksack mit dem Mittagessen, bestehend aus einem Stück Käsekuchen, zwei Äpfeln, etwas Schokolade und einer Plastikflasche mit kaltem Tee. Ich kannte den Inhalt ihres Gepäcks, da sie, täglich, um 11.30 Uhr, am hintersten Tisch des Pausenraumes unserer Firma ihre Esswaren ausbreitete und sie langsam, bedächtig und alleine zu sich nahm. Frau Bogner war eine einsame Frau, eine Einzelgängerin, die mit niemandem aus der Belegschaft freiwillig ein Wort wechselte. Beinahe zärtlich hatte sie ihre Arme um den Rucksack gelegt und schaute mit ihren traurigen, ein wenig verschwollenen Augen aus dem Fenster. Es machte mich jeden Morgen betroffen, diese Augen zu sehen. Sie schienen Leid hinausschreien zu wollen, ohne wirklich zu schreien. Frau Bogners Augen schrien stumm. Ich nahm diesen Ausruf deutlich wahr. Er war der Ausdruck von tiefer Verzweiflung ob eines einsamen Lebens in Resignation. Unübersehbar hatte Frau Bogner resigniert. Sie lebte ihr Leben in Monotonie, wie viele andere auch, von Tag zu Tag, ohne etwas Bestimmtes noch zu erwarten. Ich dachte dann, dass der Gehorsam zu funktionieren – nichts anderes ist doch Resignation – nur durchbrochen werden kann, wenn man etwas zu benennen weiß, wofür man leben will, etwas, das einem die Sehnsucht nach Leben erhält. Denn die Gefahr der Resignation ist die: Wenn wir die Kraft oder den Willen nicht mehr aufbringen, ein letztes Stück Unabhängigkeit uns zu erhalten, eine Vision eines uns möglichen Lebens, werden wir allmählich sterben, innerlich. Ein resignierter Mensch ist ein lebender Toter, einer, der dem Leben abgesagt hat. Frau Bogner ist noch nicht ganz tot, dachte ich, noch schreit es in ihr, noch schauen ihre Augen verzweifelt, noch fühlt sie etwas. Die Frage war: Wie lange noch? Ich nahm eine Tageszeitung und begann zu lesen.

    Kurz nach dem Produktionsstart um sechs Uhr fielen die ersten Störungen an. Ich hatte kaum den Becher Kaffee ausgetrunken, als mein Betriebshandy klingelte. Es war Hofer, mein Vorgesetzter. Ich nahm ab. „Tag, Herr Steiner, die Betriebsleitung ist schon ziemlich nervös! Ausfall in der Verpackungsabteilung. Wo sind Sie gerade? „Bin gleich vor Ort, einen Augenblick, sagte ich, beendete das Telefonat und fuhr auf meinem Elektroscooter in die Verpackungsabteilung. Hofer stand bereits unruhig vor dem Kontrollraum. „Morgen, Steiner, sagte er, „die Betriebsleiterin lässt nachfragen, was hier läuft, die sitzt auf Nadeln. Ich war noch nicht im Bild, hatte ja gerade erst angefangen. „Ich weiß nicht, muss schauen. Melde mich, wenn ich etwas erfahren habe, stotterte ich ungeschickt. „Steiner, geben Sie bitte Gas, die Anlage muss laufen, und zwar jetzt! Immer dieser Hofer, dachte ich. Schon am frühen Morgen, kaum hatte der Arbeitstag begonnen, war er unzufrieden und aggressiv. „Gut, Herr Hofer, ich gebe Bescheid, sobald ich Genaueres weiß", sagte ich und fuhr los, meinen Vorgesetzten hinter mir stehenlassend. Der Mann passte mir nicht. Ein Karrierist, nach oben gehorsam, war es schon mehrere Male vorgekommen, dass er, unter Druck, seine Belegschaft vor der Geschäftsleitung desavouierte. Statt seine Leute in Schutz zu nehmen, die in schwierigen Situationen einen guten Job machten, war er sich nicht zu schade dafür, bedauerlich den Kopf zu schütteln und vor allen zu sagen: „Steiner, Steiner, Steiner. Wir müssen schauen, dass wir da in Zukunft agiler reagieren können. So ein längerer Ausfall wird dann schnell teuer." Es fehlte nur noch, dass er gesagt hätte: geschmeidiger, tifiger, flexibler oder beweglicher. Dann klopfte er mir, wie zur Versöhnung, auf die Schulter. Aber er konnte mich damit nicht täuschen. Dem Mann mangelte es an Größe und Inspiration. Er mochte und unterstützte seine Mitarbeiter nicht. Ich spürte seine Verachtung. Kalt und gleichgültig war sein Gesichtsausdruck oder dann aggressiv. Ich fragte mich oft, was diesen Hofer eigentlich antrieb. Ich hegte einen großen Verdacht: Der Mann war innerlich leer. Er wusste nichts mit sich anzufangen. Eines Tages, vielleicht hatte ihn jemand dazu überredet, hatte er sich zu einer beruflichen Karriere entschlossen. Aber alles, das Druckmachen, das Fordern, das forsche Auftreten, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein Innenleben durch Leere bestimmt war. Er war nicht wirklich an dem interessiert, was um ihn herum vorging. Er wollte sein Gesicht wahren, wollte durch mehr oder weniger überzeugende Schauspielerei und improvisierte, markige Sprüche seine Position in der Firma festigen. In ihm drin musste es nicht selten geschrien haben: Ich kann nicht mehr! Ich fühle nichts und es interessiert mich nichts. Die Leere macht mich krank! Auch in ihm schrie sie, die Verzweiflung ob eines sinnlosen Daseins ohne echte Aufgabe. Auch bei ihm kam dieser Schrei nie aus dem Mund, aber ich spürte ihn deutlich.

    Ich informierte mich beim Abteilungsleiter Hermann, was genau in der Verpackungsabteilung nicht funktionierte. Er verwies auf einen Ausfall in der Flaschenabfüllung. Ein Teilstück der Transportstrecke für abgefüllte und verschlossene Flaschen schien einen Schaden zu haben. Beim Untersuchen der Fördertechnik bemerkte ich eine defekte Motorenrolle. Sie drehte sich nicht mehr. Ich nannte Hermann die benötigte Zeit für die Reparatur: 20 Minuten. Er wiederum machte Meldung an Betriebsleiterin Baumgartner. Sofort begann ich mit der Demontage. Kollege Zgraggen, den ich über Funk um Unterstützung bat, erschien mit einer neuen Antriebsrolle, die er im Ersatzteillager gefasst hatte. Zu zweit führten wir die Arbeit innerhalb von 15 Minuten durch. Dann gab ich Hermann grünes Licht, die Anlage zu starten. Alles lief reibungslos an. Er dankte mir und Zgraggen für den Einsatz. Ich machte Meldung an Schaufelberger, unseren Organisator für Störfälle. Hofer war inzwischen verschwunden, wahrscheinlich hatte er sich in sein Büro zurückgezogen. Das war mir recht.

    Per Funk erhielt ich von Schaufelberger die Anweisung, in die Abteilung mit den Mischbehältern zu fahren. Es erwarte mich dort Abteilungsleiter Küenzli, etwas stimme nicht mit einem Mischbehälter. Auf der Fahrt in die Abteilung stellte sich mir Hofer überraschend mit einem Papier in der Hand in den Weg und winkte mich zu sich. Ich hielt mein Fahrzeug an und stieg ab. Hofer las mir ohne Einleitung vor: „Störungsbehebung ungenügend. Auch heute wieder, wie schon die ganze Woche. Dazu immer wieder die gleiche Störung, ohne dass man mal schaut, was denn die genaue Ursache ist. Wieso muss ich immer anrufen, damit überhaupt jemand kommt? 25 Minuten Produktionsunterbruch im Hauptverarbeitungsfenster nicht optimal. Habe das dem technischen Verantwortlichen auch so mitgeteilt." Hofer schaute mich an, als erwarte er von mir eine Erklärung. Er drückte mir das Papier wortlos in die Hand. Ich sah die angegebene Uhrzeit der Meldung: 3.45 Uhr. Dies betraf die Nachtschicht. Ich hatte mit dieser Sache nichts zu tun. „Das betrifft die Nachtschicht, Herr Hofer, nicht uns, sagte ich. „Ob Nacht- oder Früh- und Spätschicht, bei uns gilt generell, wir sind verantwortlich für unser Leistungsangebot, die Firma ist unser Arbeitgeber, schauen wir, dass wir unseren Ruf nicht unnötig schädigen. „Aber ich habe mit dieser Sache nichts zu tun, für alles kann ich nicht Verantwortung übernehmen, wiederholte ich. Ich fühlte, wie in mir ob der Ungerechtigkeit Hofers Wut aufstieg. „Ja, Steiner, Sie waren es nicht, ich weiß, aber für uns alle gilt, daher auch für Sie: Wir müssen wachsam bleiben und die Dinge genau und doch so effizient wie möglich angehen, sonst haben wir alle ein Problem.

    Rutsch mir doch den Buckel runter, dachte ich. Diese schulmeisterliche Besserwisserei ging mir auf die Nerven. Wortlos stieg ich auf meinen Elektroscooter und fuhr davon. Das Papier in meiner Hand zerknüllte ich und warf es während der Fahrt in einen der Abfallcontainer, die überall im Betrieb aufgestellt waren.

    Küenzli war schon sehr nervös. Hofer hatte mich mit seiner Zurechtweisung unnötig aufgehalten. „Behälter vier scheint ein Problem zu haben, sagte er mit einem gehetzten Gesichtsausdruck und in hoher Stimmlage, „könnten Sie bitte schauen, was da nicht läuft! Er schien einer Panik nahe zu sein. „Natürlich, Herr Küenzli, ich gehe gleich schauen", antwortete ich gelassen und versuchte ihn mit einem Lächeln zu beruhigen, obschon ich innerlich noch aufgewühlt war von vorher. Ich fuhr zum Behälter vier. Schnell konnte ich feststellen: Die Umwälzpumpe funktionierte nicht mehr. Mehrere Startversuche blieben ohne Erfolg. Ich vermutete einen Defekt an der Antriebskette. Eventuell hatte sie Unterspannung oder sogar einen Riss. Ich stieg für das Prüfen des Motors in den Maschinenraum unterhalb des Behälters. Tatsächlich, ein Kettenelement war beschädigt und die Kette lief lose neben den Zahnrädern. Das war so ziemlich der worst case. Der Behälter musste entleert, dann die Kettenführung entspannt und eine neue Kette aufgezogen werden. Dauer der Reparatur: zwei Stunden. Ich bat Zgraggen um Unterstützung und machte Meldung an Schaufelberger und Gubler, unseren Anlagewart und Materialverwalter. Gubler bot an, sonstige Störungen zu übernehmen, während Zgraggen und ich den Motor reparierten. Ich dankte ihm über Funk. Küenzli, der inzwischen hinter mir stand und alles mitbekommen hatte, machte Meldung an Betriebsleiterin Baumgartner. Auf ihren Befehl hin ordnete er seinem Mitarbeiter die Entleerung von Behälter vier an.

    Wenige Minuten später konnten Zgraggen und ich mit der Arbeit beginnen.

    Ich lag mit öligen Händen unter dem Motor, als Gubler mich wegen einer Störung an einer der Scharnierbandketten in der Flaschenabfüllanlage anrief. Die Steuerung eines Teilstücks sei ausgefallen. Zgraggen erklärte sich bereit, Gubler zu unterstützen. Fünf Minuten später teilte er aufgeregt über Funk mit: „Steiner, es sieht so aus, als ob ein ASI-Bus ausgefallen ist. „Dammi!, fluchte ich für mich. Das hatte gerade noch gefehlt. „Braucht ihr Hilfe oder kommt ihr zurecht?, fragte ich über Funk, den ich mühsam, unter dem Motor liegend, bediente. „Ja, wir wären froh, wenn du schnell kommen könntest, meinte Zgraggen. „Hast du das mitbekommen?, fragte ich Schaufelberger über Funk. „Ich gehe in die Flaschenabfüllung wegen dem ASI-Bus. Behälter vier muss warten. „Ja, wenn es denn sein muss, Frau Baumgartner steht neben mir und meint, Behälter vier müsse so schnell wie möglich wieder funktionieren. Ich schnaufte tief durch, dann sagte ich: „Ich kann mich nicht zweiteilen, der ASI-Bus ist auch wichtig, ich mache, so schnell ich kann. „Ja, in Ordnung", erwiderte Schaufelberger mit matter Stimme. Ich konnte mir vorstellen, wie die Betriebsleiterin hinter seinem Stuhl stand und Anweisungen und Kommentare auf ihn niederhageln ließ. Schaufelbergers Aufgabe war keine leichte, ich wollte nicht mit ihm tauschen.

    Beim defekten Teilstück in der Flaschenabfüllung waren mehrere Mitarbeiter damit beschäftigt, einzelne Flaschen in Harassen umzuschichten, um sie dann, etwa 20 Meter weiter vorne, wieder in die automatisierte Abfüllung einzuspeisen. Auch Frau Bogner war unter den schwitzenden Arbeitern. Ihre Augen hatten immer noch denselben Ausdruck von Traurigkeit und Einsamkeit wie heute Morgen im Bus. Über ihrer Oberlippe und auf der Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet. Das ist Frau Bogner, dachte ich. Das ist sie ganz. Ich sah sie mitten in ihrem Leben, hinter dem kein zweites zu existieren schien. Die Monotonie war alles, was sie kannte. Sie hatte sich in ihrer Existenz als Arbeitnehmerin dieser Firma aufgegeben. Es tat mir furchtbar leid, die Frau in diesem Zustand zu sehen. Denn, nicht wahr, es war, als stände sie entblößt, nackt vor mir. Mehr war die Frau nicht, als was ich gerade von ihr sah. Ich schämte mich für dieses offenliegende Alles, was diesen Menschen ausmachte. Es war so erschütternd wenig. Ich hätte ihr liebend gerne zugerufen: Frau Bogner, brechen Sie auf! Lassen Sie die Glanzlosigkeit Ihres monotonen Daseins hinter sich! Machen Sie etwas aus Ihrem Leben!

    Aber schon kamen mir Zgraggen und Gubler winkend entgegen, um mir den verdächtigen Steuerungskasten zu zeigen. Abteilungsleiter Hermann, mit dem ich heute Morgen wegen der defekten Motorenrolle schon einmal zu tun gehabt hatte, ging hinter ihnen. „Hast du schon etwas entdeckt, Gubler?, fragte ich, meinen Elektroscooter parkend. „Eben nicht, im Sicherungskasten haben wir einen Ausfall, warum, wissen wir nicht, meinte er. Zgraggen kauerte vor dem Kasten und versuchte mehrere Male, den Schütz wiedereinzuschalten – vergeblich. Schließlich bemerkte Hermann: „Könnte es sein, dass dies mit dem Umschichten der Harassen zusammenhängt? Er zeigte auf einen Stapel Kisten in der Nähe der Scharnierbandketten. „Wir waren hier am Umschichten, als es plötzlich einen Knall gab, sagte er. Ich schaute mir den Umschichtplatz genauer an. Tatsächlich: eine Getränkekiste drückte gegen einen Unterverteiler im Scharnierbandkettenantrieb. Ich zog sie weg. Deutlich war der Eindruck in der ASI-Bus-Leitung auszumachen. „Quittiere bitte nochmals, Zgraggen, sagte ich. Zgraggen quittierte. Mit einem lauten Warnsignal lief die Anlage wieder an. Zgraggen, Gubler und ich schauten uns erleichtert an. Ich wischte mir mit meinem schmutzigen Handrücken den Schweiß von der Stirn. Das war wohl erledigt, die Anlage lief. Sofort fuhren Zgraggen und ich auf unseren Elektroscootern zu Behälter vier zurück. Gubler machte über Funk Meldung an Schaufelberger, dass die Flaschenabfüllung wieder funktioniere. „Gut gemacht, Jungs, hörte man Schaufelberger antworten. Aus seinen Worten war Erleichterung herauszuspüren.

    Zgraggen und ich konnten die Arbeit an der Antriebskette ungestört beenden. Gubler behob zu unserer Entlastung anfallende Störungen. Das gelang ihm mühelos, nur einmal am Palettenetikettierer in der Verpackungsabteilung kam er kurz ins Schleudern, denn er wusste das Passwort des neu zu bootenden Rechners nicht auswendig. Ich konnte es ihm per Funk durchgeben. Eineinhalb Stunden nach Arbeitsbeginn übergab ich Abteilungsleiter Küenzli den reparierten Behälter vier. „Das gibt dann mal einen Kaffee, Steiner", sagte er ganz aufgeregt. Er ist mir wirklich dankbar, dachte ich. Auch Küenzli stand unter Druck, es war offensichtlich. Betriebsleiterin Baumgartner war nicht dafür bekannt, viel Geduld und Verständnis aufzubringen für ihre Untergebenen. Ihm ging es wohl nicht viel anders als mir mit Hofer.

    Nachdem alles Werkzeug zusammengepackt war, machte ich Meldung an Schaufelberger, dass Behälter vier erledigt war und neu gefüllt werden konnte.

    „Dann werde ich mal eine kleine Pause machen, gab ich Schaufelberger durch. Es war neun Uhr. „Guten Appetit, kam es zurück.

    Ich wusch meine Hände und das Gesicht am Waschbecken unserer kleinen Werkstatt. Dann fuhr ich mit dem Scooter Richtung Ausgang. In der Betriebskantine packte ich mir zwei Salamibrote und einen Kaffee auf das Tablett und setzte mich an einen Tisch am Fenster. Draußen schien die Sonne, der morgendliche Nebel hatte sich vorzeitig aufgelöst. Golden ragten einzelne Baumkronen bis zu den Kantinenfenstern herauf. Das meiste Laub aber lag bereits auf der Straße. Der Herbst war schon weit fortgeschritten.

    Im Radio spielte gerade Crazy in Love von Beyoncé, ich mochte diesen Song immer noch. Schon einige Male hatte ich überlegt, was dieses Etwas ausmachte, das bei allen anderen Stücken der Sängerin fehlte. Es hing mit dem zähen, schleppenden Groove zusammen und dem Gesang, der immer ein wenig zu früh war, dem Song aufgeregt davonrannte. Es machte Freude, diesen drei Minuten Musik zuzuhören, sie hatten etwas Festliches, Feierliches, Glamouröses.

    Dann kam Züri West. Willkommen in unserer Welt, dachte ich. Das ist die Schweiz. Biederer und nichtssagender konnte Musik nicht sein. So leben wir hier. So öde und leer ist auch unsere Kunst. Aber was erwartete ich? Was wollte man von Menschen erwarten, die unter Arbeit ihre Aufgabe in der Arbeitswelt und nicht eine persönliche Leistung verstanden? „Die Freude ist viel weniger ein Naturgeschehen als eine menschliche Schöpfung: die schwerste und größte" hatte ich einst gelesen und mir schien dieser Satz treffend. Nur, wie kann einer Freude in sein Leben holen, ohne sich Zeit zu nehmen, über sein Leben nachzudenken? Über sein Leben nachdenken kann man nicht, solange man sich aufopfert in einer Funktion am Arbeitsplatz, dachte ich. Man verliert dort zu viel Zeit. Statt sich zu begnügen mit einem sicheren Einkommen und materiellem Wohlstand, dort stehenzubleiben – wäre ein Sich-Zeit-Nehmen für dieses Nachdenken und Weiterkommen als Mensch nicht viel wichtiger? „Denken macht die Größe des Menschen aus", sagte Blaise Pascal. Mir war klar, dass er damit das Nachdenken darüber meinte, was man im Leben wirklich erreichen kann und wie man sein Dasein legitimieren will. Es ging um die Fragen der Sinngebung oder des Mutes zur mentalen Kühnheit, der Entwicklungsmöglichkeiten durch Erkenntnisse. Die Gefahr, diesbezüglich zu wenig zu leisten, galt für mich genauso wie für viele andere, darüber machte ich mir keine falschen Vorstellungen. Ich ließ mir mit jedem Arbeitstag wertvolle Zeit stehlen, anstatt diesen Fragen nachzugehen und Antworten darauf zu erarbeiten.

    Meine Pausenzeit war um. Ich erhob mich und stieg die Treppe hinunter zum Betriebseingang. Genau 15 Minuten nach dem Abmelden bei Schaufelberger war ich wieder zurück. Pünktlichkeit und Genauigkeit bei Zeit- und Pausenregelungen wurden in unserer Firma großgeschrieben. Hofer betonte immer und immer wieder: Zeit ist Geld. Fünf Minuten Pausenüberzug, aufsummiert auf zig Mitarbeiter, würden schnell mehrere Stunden Leistungsausfall generieren. Solches Geschwätz machte mich nur noch müde.

    Kaum stand ich wieder auf meinem Elektroscooter, den ich hinter den Eingangsschleusen neben dem Terminal für die Arbeitseinsätze der Mitarbeiter geparkt hatte, als mich Schaufelberger per Funk zu einen neuen Einsatz rief: „Schaufelberger an Steiner. „Verstanden. „Bist du von der Pause zurück? „Jawohl. „Sehr gut, kannst du in die Verpackungsabteilung fahren, dort erwartet dich Abteilungsleiter Hermann, es gibt erneut ein Problem am Palettenetikettierer. „Verstanden. Ich bin unterwegs, sagte ich und fuhr los. Vor Ort stand Hermann neben dem offenen Aluminiumgehäuse des Etikettierers und schaute hilflos auf den Drucker und die vollautomatisierte Mechanik. Ich trat zu ihm hin. „Gibt es ein Problem?, fragte ich. „Es läuft nichts mehr, der Drucker produziert keine Etiketten mehr, sagte er, ein wenig verloren immer noch auf den Drucker schauend, als ob er so den Fehler entdecken könnte. Irgendwie tat es mir leid, wie Hermann hilflos vor dem Apparat stand. Es tat mir leid, weil es offensichtlich war, dass der Mann angesichts des komplexen technischen Vorgangs, den er kaum im Ansatz verstand, überfordert war und dass er deswegen ein schlechtes Gefühl hatte. Niemand konnte ihm einen Vorwurf machen, dass er das Gerät nicht kannte. Wir waren da zuständig. Hermann fühlte sich schuldig und inkompetent, wo er eigentlich gelassen delegieren könnte. Er lädt sich etwas auf, das andere sich aufladen müssten, dachte ich. Aber war die Hilflosigkeit, das Gefühl der Inkompetenz und des Überfordertseins einiger Mitarbeiter verwunderlich angesichts des hochtechnisierten Ablaufs? Wie sollte sich der Mensch nicht klein fühlen gegenüber diesen von Geisterhand gesteuerten knirschenden, klickenden, knackenden und stampfenden Apparaten?

    Nach dem Öffnen des Bedienterminals neben dem Gehäuse des Etikettierers sah ich sofort, dass einer der beiden für den Ablauf zuständigen Powercomputer tot war. Vermutlich war die Netzspeisung defekt. Ich schätzte den Arbeitsaufwand auf ungefähr 45 Minuten und machte Meldung an Schaufelberger. Hermann schaute mich dankbar an. Nun schien das Rätsel gelöst. Ich war schon auf dem Weg ins Ersatzteillager, als über den Funk Hofers Stimme bellte: „Steiner, kommen Sie bitte in mein Büro! Herrgott noch mal! Was wollte der jetzt von mir? Und warum rief er mich über Funk an? „Herr Hofer, bin gerade an einer Störung, antwortete ich. „Kommen Sie bitte in mein Büro!, kam es mechanisch zurück. „Dammi!, fluchte ich

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