Der Prophet des Windes: Weisheitsgeschichten
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Buchvorschau
Der Prophet des Windes - Stefano Biavaschi
Stefan Biavaschi
Der Prophet des Windes
Zwölf Weisheitsgeschichten
Vier-Türme-Verlag
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Aus dem Italienischen von Carina Wörner
Italienische Originalausgabe:
Stefano Biavaschi: Il Profeta del Vento
(Collana Letteraria 9)
© Fede & Cultura, I-37138 Verona
ISBN 978-88-89913-94-9
www.fedecultura.com
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2013/2016
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Dr. Ulrike Strerath-Bolz
Umschlaggestaltung: Dr. Matthias E. Gahr
Umschlagfoto: Undine Aust / Fotolia.com
ISBN 978-3-89680-841-7(print)
ISBN 978-3-89680-984-1 (epub)
www.vier-tuerme-verlag.de
DER AUTOR
Stefano Biavaschi
geboren 1955, ist Lehrer und Journalist in Mailand, wo er auch in der katholischen Jugendarbeit und in der Lehrerfortbildung tätig ist. Er schreibt für die großen italienischen Zeitungen und hat einige Gedichtbände veröffentlicht.
INHALT
EINLEITUNG
Nathan, der Prophet des Sonnenaufgangs
DER ERSTE SONNENAUFGANG
Der Wind
DER ZWEITE SONNENAUFGANG
Die Einsamkeit
DER DRITTE SONNENAUFGANG
Die Liebe
DER VIERTE SONNENAUFGANG
Das Leben
DER FÜNFTE SONNENAUFGANG
Der Schmerz
DER SECHSTE SONNENAUFGANG
Die Wolken
DER SIEBTE SONNENAUFGANG
Das Vergessen
DER ACHTE SONNENAUFGANG
Das Wissen
DER NEUNTE SONNENAUFGANG
Die Wahrheit
DER ZEHNTE SONNENAUFGANG
Die Freiheit
DER ELFTE SONNENAUFGANG
Die Vollkommenheit
DER ZWÖLFTE SONNENAUFGANG
Gott
ÜBER DEN AUTOR
Für Nathan,
den Propheten,
der auf dem Grunde
Deines Herzens wohnt.
EINLEITUNG
Nathan, der Prophet des Sonnenaufgangs
Nathan, der Flötenspieler, war ein wenig traurig an jenem Tag. Schon seit geraumer Zeit waren ihm die Melodien ausgegangen, und er wusste nicht, welche Weisen er für die Seinen noch spielen sollte.
Wie immer setzte er sich ans Meeresufer und beobachtete den Horizont. Inzwischen kannte er ganz genau den Punkt, an dem sich die Sonne langsam aus dem Wasser erheben würde. »Gleich wird der Wind zu flüstern beginnen«, sprach Nathan zu sich selbst. Und tatsächlich, als der erste Sonnenstrahl übers Wasser hüpfte, zerzauste ihm ein Windhauch das Haar.
So war es immer: Sobald die Sonne aufging, erhob sich der Wind und blies immer stärker, bis sich die Sonne vom Horizont gelöst hatte. Und dann flaute der Wind plötzlich wieder ab.
»Es scheint fast, als würde er aus der Sonne kommen«, dachte Nathan, atmete tief ein und lehnte sich mit dem Rücken an einen Felsen. Seine Schilfrohrflöte hielt er in den Händen.
Als die aufgehende Sonne einen Halbkreis über dem Wasser bildete, frischte der Wind auf und peitschte ihm ins Gesicht.
»Heute mag ich nicht spielen«, sagte er. Er betrachtete seine Flöte. Lächelnd hielt er sie dem Wind entgegen. »Warum spielst du nicht heute?«
Die Luft strömte durch das Instrument, ließ es vibrieren und entwich gleichzeitig durch alle Grifflöcher. Überrascht stellte Nathan fest, dass so etwas wie ein Ton entstand. Also versuchte er, einige Grifflöcher mit seinen Fingern zu schließen, und der Wind begann anders zu pfeifen. Aber es war noch keine Musik.
Nathan neigte seine Flöte etwas, drehte sie zum Wind, doch er suchte vergeblich nach der richtigen Position. Als er gerade aufgeben wollte, kam ihm der Gedanke, das Instrument der Sonne entgegenzuhalten. Sofort umwehte ihn eine liebliche Melodie. »Hei! Du kannst ja wirklich spielen!«, sagte Nathan lachend. »Lass uns sehen, welche Weisen du zustande bringst. Ich werde die Finger bewegen, und du komponierst.«
Der Wind begann Töne zu erzeugen; er sprang mit unterschiedlicher Stärke von einer Note zur anderen und spielte dabei Klänge, die Nathan noch nie zuvor gehört hatte.
Verwundert stellte er fest, dass viele Töne harmonisch waren, andere hingegen hörten sich an wie Gemurmel, Schreie, Ächzen, Flüstern. So lange, bis sich ein Ton von den anderen unterschied und dort, zwischen Meer und Felsen, eine Stimme erklang:
»Nathan!«
DER ERSTE SONNENAUFGANG
Der Wind
Die Erinnerung an jene Stimme, die er am Ufer des Meeres vernommen hatte, beunruhigte Nathan den ganzen Tag. Hatte er wirklich seinen Namen gehört?
Nur zu gern hätte er daran gezweifelt, aber diese Stimme hatte er nicht nur mit seinen Ohren gehört: Es war, als hätte sie seinen ganzen Körper durchströmt. Erschrocken hatte er daraufhin seine Flöte zurückgezogen und war nach Hause zurückgekehrt.
Unterwegs sprach er zu sich selbst: »Morgen werde ich nicht mehr an den Strand gehen. Die Inspirationen, die mir fehlen, kann ich auch im Wald oder auf dem Hügel finden.«
Er verbrachte eine schlaflose Nacht, und als die Morgenröte am Himmel aufzog, war Nathan schon wieder auf den Beinen. Er nahm seine Flöte und ging nach draußen. Die klare Luft gab ihm Sicherheit.
»Wovor habe ich eigentlich Angst?«, dachte er auf dem Weg zum Meer. »Vor dem Wind? Auch wenn der Wind wieder durch meine Flöte erklingen sollte, erklingt nicht auch das Meer durch das Auswaschen der Felsen? Erklingt nicht auch der Sand durch die Brandung der Wellen?«
Als Nathan jedoch das Ufer erreicht hatte und den Horizont beobachtete, fühlte er sich unruhig; es war ihm, als würde er beobachtet. Der erste Lichtstrahl gab ihm das Zeichen für das Auffrischen des Windes. Nathan streckte den Arm und richtete seine Flöte aus.
Der Wind begann stärker zu blasen. Zischend und pfeifend wirbelte er in das Instrument. Nathan umfasste es fester und versuchte, den Rest seines Körpers zu entspannen. Nach einigen Augenblicken durchzogen die ersten Töne die Luft.
»Einige scheinen tatsächlich tief in mir