Europa mit der Moralkeule
Von Dieter Prokop
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Über dieses E-Book
Der Frankfurter Soziologe Dieter Prokop kritisiert, dass in der EU einzelne Politiker oder ganze Regierungen die Verträge, das Recht, die Gesetze verletzen oder dehnen - und das mit naturrechtlich veredelter Moral (Humanität, Menschenrechte, Solidarität etc.) begründen. Prokop zeigt, dass diese sich mit Pathos auf Menschlichkeit berufende "Politik mit der Moralkeule" in Wirklichkeit die menschlichste Forderung des Naturrechts missachtet: die Maxime der Angemessenheit. Er untersucht die unangemessene politische Übergriffigkeit dieser Politik gegenüber den Lebensweisen und Interessen und auch gegenüber dem Verstand der Menschen.
DIE WERBUNGS-FALLE:
Prokop untersucht auch, wie es zu dieser Übergriffigkeit kommt. Dass die Moralpolitikerinnen und Moralpolitiker glauben, die Wählerinnen und Wähler bei ihren 'Wertorientierungen' packen zu können - das wurde ihnen von der Werbung eingeredet: von den Medien, die Werbeplätze verkaufen, von den Werbeagenturen, von der Markt- und Meinungsforschung, von den Fake News-Machern und von Facebook, Twitter, die ihre gesammelten Daten ('Big Data') an die Werbeagenturen verkaufen. Prokop weist nach, dass die Moralkeulen-Politiker damit in einer Falle sitzen, in der Werbungs-Falle: "Sie werben für 'Werte' und appellieren an die Gefühle und wollen nicht wahrhaben, dass die Menschen ihnen nicht glauben, weil sie Werbung überhaupt für unglaubwürdig halten."
Dieter Prokop
Dieter Prokop ist Professor em. für Soziologie an der Goethe-Universität in Frankfurt.
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Buchvorschau
Europa mit der Moralkeule - Dieter Prokop
Einleitung
Demokratie bedeutet ›Leben und leben lassen‹. Die Leute sollen nach ihrer Façon selig werden. Das bedeutet auch: Die Leute sollen an ihre Moral und ihre ›Werte‹ glauben soviel sie wollen. Sie sollen für ihre ›Werte‹ in der Öffentlichkeit soviel werben wie sie wollen und die Meinungsfreiheit es gestattet (was Hetze und Verletzungen von Persönlichkeitsrechten ausschließt). Jeder/Jede soll sich auch als Teil einer ›Gemeinschaft‹, einer ›Community‹, empfinden und, wenn gewünscht, auch als Teil einer ›Wertegemeinschaft‹. Und da es auf der Welt nicht nur Gläubige gibt, sollen auch ›Ungläubige‹ so ungläubig sein wie sie wollen.
Und Europa: Sollen die Politiker der EU sich doch als Vertreter ›unserer europäischen Werte‹ darstellen, als Kämpfer für Demokratie oder als Robin Hoods der Menschenrechte. Das sind ›gute Werte‹, selbst wenn Demokratie, eine repräsentative Demokratie, auf der EU-Ebene nicht existiert. (Und auch nicht existieren kann, weil das nämlich wegen der Bevölkerungsgröße zur deutschen und französischen Dominanz in der EU führen würde.) Das alles ist möglich und ist in Demokratien auch notwendig.
Nicht akzeptabel ist in Demokratien jedoch eins: dass einzelne Personen oder ganze Regierungen oder Institutionen die Verträge, das Recht, die Gesetze verletzen oder ›dehnen‹ und das mit naturrechtlichedler Moral (Humanität, Menschenrechte, Solidarität etc.) legitimieren. Das geht nicht, weil die Würde des Menschen nur unantastbar sein kann, wenn es auch der demokratische Rechtszustand ist. Jener ist nur im Rahmen demokratischer Prozesse veränderbar, im Rahmen von Parlamenten, Räten und Gremien aller Art (Gemeinderäten, Stadträten, Verbandsräten, Aufsichtsräten etc.), Volksabstimmungen, öffentlichen Meinungsäußerungen, Bürgerinitiativen, Versammlungen, Demonstrationen. Dass Verträge und Gesetze im Namen edler ›Werte‹ verletzt oder gedehnt werden, geht auch deshalb nicht, weil im Namen der Menschenrechte, der Menschenwürde, der Humanität, der Gerechtigkeit etc. nicht immer nur Gutes getan wird.
Die Tendenz, die Grenzen des Rechts unter Berufung auf Moral (›Werte‹) zu verletzen, oder zu dehnen, beruht auf einem moralischen Maximalismus, den ich ›Politik der Moralkeule‹ nenne. (Und es gibt auch einen ›Journalismus der Moralkeule‹.)
Die Politik der Bundeskanzlerin in der Flüchtlingskrise ist mit dieser Definition der ›Politik der Moralkeule‹ nur zum Teil erfassbar.
Als die Bundeskanzlerin 2015 die deutsche Grenze öffnete – oder genauer: als sie per Kanzlerinnen-Anordnung die Kontrolle der Legalität der Einreisen und die Registrierung der Einreisenden an der deutschen Grenze umging – und Hunderttausende von illegal Eingereisten pauschal willkommen hieß, berief sie sich auf Humanität als ›Wert‹ (mit dem berechtigten Hinweis, dass Deutschland nicht Hunderttausende von bereits in Griechenland illegal Eingereisten abweisen und in Österreich bzw. auf dem gesamten Balkan herum irren lassen könne, weil das den Balkan zum Pulverfass machen könnte). Das kann man als ›Politik der Moralkeule‹ definieren oder freundlicher als ›humanitäre Initiative‹. (Wobei bis heute die Frage ist, ob man damals, um ein europäisches Gesetz, die Schengen-Reisefreiheit zu erhalten, es ignorieren durfte, dass Andere, vor allem Griechenland, das gleiche europäische Recht, das neben der Reisefreiheit auch die Sicherung der Schengen-Außengrenzen vorsieht, bereits gebrochen hatten.)
Das war 2015/2016. Aber 2017 ist die Kanzlerin wohl die Einzige in Europa, die sich darum bemüht, den ›Wert‹ der Humanität in realpolitischem Handeln zu operationalisieren; die also die Gesamtlage der Strukturprobleme und der Dilemmata einer menschlicheren Lösung der europäischen Flüchtlingskrise im Blick hat. Diese Flüchtlingspolitik von 2017 muss man anders definieren. Jene wird als ›Abschottungspolitik‹ kritisiert, aber das geht an der Sache vorbei, denn bei dieser Politik geht es darum, der ›Migration‹ einen institutionellen und womöglich auch europäischen gesetzlichen Rahmen zu geben, einen Rahmen von Strukturmaßnahmen, die die Ursprungsstaaten der ›Migration‹ und deren ökonomisches, politisches, gesellschaftliches Umfeld einbezieht und auch den Rahmen des europäischen Rechts. Für diese politische Sisyphusarbeit ist der Begriff ›Politik der Moralkeule‹ unangemessen, Denn es geht hierbei nicht um die Durchsetzung von moralischen Maximalforderungen.
Aber auch ›Abschottungspolitik‹ ist ein unangemessener Begriff, weil jener vom Standpunkt eines moralischen Maximalismus aus gebildet wurde. Das geht aber nicht, weil die europäischen Staaten zwar Asylberechtigte aufnehmen können und die Außengrenzstaaten das auch müssen, aber nicht Millionen von Wirtschafts- und Sozialmigranten. Jene kamen zunächst vor allem aus dem Balkan und kommen heute aus dem Nahen und Fernen Osten und ganz Afrika. Europa könnte auf die Hungersnöte im Jemen, im Südsudan, in Somalia und Nigeria und den dadurch bewirkten Fluchtbewegungen nach Ägypten, Tunesien, Libyen, Algerien, Marokko mittels karitativer Maßnamen reagieren, beispielsweise durch eine weit großzügigere finanzielle Unterstützung des UNHCR, des Hilfswerks der UNO. Aber nicht dadurch, dass man Karitas zum Zweck aller Politik macht und darüber vergisst, dass Politik Interessen zu vertreten hat, demokratische Politik nicht zuletzt auch die Interessen der eigenen Bevölkerung an Rechtssicherheit. (Wobei ›eigene Bevölkerung‹ hier alle Inhaber/Inhaberinnen der Staatsangehörigkeit des betreffenden EU-Staats meint.)
Bei der Politik der Bundeskanzlerin von 2017 geht es um die Entwicklung eines internationalen Rechtzustands. Wenn man das ungarische Modell der Zäune und der Lager an der EU-Außengrenze für inhuman und ohnehin für innerhalb der EU, des europäischen Binnenmarkts, unangemessen hält, muss man in den Ursprungstaaten und den Umfeldstaaten der ›Migration‹ deren Ursachen in den Griff kriegen. Das ist keine Politik der Moralkeule. Man könnte das ›Politik der Herstellung eines internationalen Rechtszustands‹ nennen. Jene kritisiere ich nicht, ich befürworte sie. Ich halte die Herstellung und Beachtung des demokratischen Rechtszustands für das Gegenmodell zur ›Politik der Moralkeule‹. (Selbst wenn nicht absehbar ist, ob diese Verhandlungspolitik in der nächsten Zeit die enorme Zahl der illegalen Einreisen in den Schengen-Raum wirklich verringern wird.)
Damit gleich zu Beginn deutlich wird, was hier mit ›Moralkeule‹ gemeint ist, füge ich hier eine Liste in Stichworten an.
Vorbemerkung:
Hier soll niemand kritisiert werden, die/der moralisch, human denkt, sich um ein moralisches und humanitäres Handeln bemüht und Mitleid mit Menschen in Not hat und ihnen helfen möchte. Kritisiert wird hier die Verletzung oder ›Dehnung‹ Verträgen, von Recht und Gesetz, also des demokratischen Rechtszustands, durch Selbstermächtigung und durch die Instrumentalisierung von Moral zur Moralkeule. Die Dimensionen der Moralkeulen – des moralischen Maximalismus – zu erörtern, ist die Absicht dieses Buchs – immer bei Beachtung der legitimen naturrechtlichen Prämissen, die zwar auch in den Moralkeulen enthalten sind, von ihnen jedoch instrumentalisiert werden.
Die Moralkeule: ›Unsere europäischen Grundwerte‹.
Die damit ›moralisch‹ gerechtfertigte Politik: die Vortäuschung von Bürgerfreiheiten, wo es nur um die Freiheiten des EU-Binnenmarkts geht; die Politik im Interesse des EU-Binnenmarkts, auch gegenüber den Vertragspartnern der EU (z. B. der Schweiz, nach dem Brexit auch Großbritannien), d. h. vor allem: die Durchsetzung der ›Arbeitnehmerfreizügigkeit‹.
Die dahinterstehende Krise: die einseitig neoliberale-marktradikale Wirtschaftsorientierung der EU; speziell das mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit einhergehende Lohndumping; die dadurch ausgelöste Feindschaft in den Bevölkerungen gegenüber ausländischen Niedriglohn-Arbeitskräften und Sozialleistungen in Anspruch Nehmenden. Damit zusammenhängend: die Brexit-Krise. / Dazu kommt das Demokratiedefizit der EU und die Vernachlässigung des im Lissabon-Vertrag festgelegten Subsidiaritätsprinzips und damit die Legitimationskrise der EU.
Die mittels ›Moral‹ verschleierten Fakten hierbei: Bei der moralischen Betonung ›unserer Grundwerte‹ handelt sich nur um die Binnenmarkt-Freiheiten, nicht aber um die Bürgerfreiheiten (Demokratie, Soziales; öffentlich-rechtliches Eigentum). / Dazu kommt das zentralistische Denken und Handeln der EU-Kommission, das mittels Richtlinien durchgesetzt wird.
Das Hauptproblem: die Interessen der supranationalen Konzerne an Freizügigkeit von Niedriglohn-Arbeitskräften. / Dazu kommt die Regulierungswut der EU-Kommission (Gurkenkrümmungen, Käse-Definitionen) und vor allem der EU-Arbeitsgruppe Ökodesign (Glühbirnen, Kaffeemaschinen etc. Ökodesign hat hierbei nichts mit Design zu tun, sondern meint hier lediglich den Energieverbrauch der Geräte.)
Die Moralkeule: ›Willkommenskultur‹ und das große WIR.
Die damit ›moralisch‹ gerechtfertigte Politik: die Flüchtlingspolitik der deutschen Bundesregierung, vor allem 2015/2016; das Eintreten von Parteien und Nongovernment Organizations (NGOs) oder auch einzelnen Politikern und Journalisten für eine ›Politik der offenen Grenzen‹, ohne Beachtung der ökonomischen, politischen, gesellschaftlichen Folgen.
Die dahinterstehende Krise: die Flüchtlingskrise; die Schengen- und Dublin-Krise, vernachlässigter Schutz der Schengen- bzw. EU-Außengrenzen.
Die mittels ›Moral‹ verschleierten Fakten hierbei: der Bruch der Verträge von Schengen und Dublin durch Griechenland und Italien und auf der Balkanroute auch durch Ungarn, Österreich, Deutschland; die ›Dehnung‹ des Einreiserechts und des Asylrechts; die Nichtbeachtung des Unterschieds von Asylbewerbern und ›Wirtschafts- und Sozialmigranten‹.
Das Hauptproblem: die fehlende Reflexion der EU-Politiker darüber, wie in der Asylfrage die Rechtsstaatlichkeit (Genfer Konvention) gewahrt werden kann, ohne dass die Visumspflicht bei Einreisen in den Schengen-Raum (Schengen-Vertrag) verletzt wird. / Dazu kommt die Inhumanität des Dublin-Abkommens: das zwar rechtsstaatliche, aber inhumane Verfahren der Asylberechtigungs-Überprüfung in der EU. Grob gesagt: erst vertragswidrig alle ohne Pässe oder Visum in den Schengen-Raum einreisen lassen, dann in Lagern zusammenpferchen und monatelang passiv warten lassen, dann wieder rauswerfen.
Ein weiteres Hauptproblem: das deutsche Interesse an einem humanitären Image und damit die Tendenz zum idealisierenden Hype. Merkels »Wir schaffen das.«
Die Moralkeule: ›europäische Solidarität‹.
Die damit ›moralisch‹ gerechtfertigte Politik: der Bruch bzw. die ›Dehnung‹ des geltenden Rechts und Gesetzes; der European Stability Mechanism (ESM); die Staatsanleihen-Aufkäufe der Europäischen Zentralbank (EZB); die Übertretung des Fiskalpakts (Staatsverschuldung).
Die dahinterstehende Krise: die Eurokrise, die Schuldenkrise, die Griechenlandkrise; die Vermeidung – um der Erhaltung des ›starken Euro‹ willen – des Euro-Austritts Griechenlands (wenn nicht sogar Italiens),
Die mittels ›Moral‹ verschleierten Fakten hierbei: Im Namen der ›europäischen Solidarität‹ wird heute in Europa die Finanzierung insolventer Staaten und Banken durch die Steuerzahler anderer Staaten gerechtfertigt, obwohl der Maastricht-Vertrag sie verbietet. Damit verbunden ist die ›Dehnung‹ von Recht und Gesetz.
Das Hauptproblem: unverantwortliches und unsolidarisches Schuldenmachen; die Klientelpolitik und die Korruptheit der Eliten in einigen EU-Südstaaten.
Die Moralkeule: ›Gleichheit für alle‹.
Die damit ›moralisch‹ gerechtfertigte Politik: die Instrumentalisierung von Toleranz und Mitleid im Namen maximalistischer Moral, eine Instrumentalisierung, die vor allem mit Opfer-Mythen arbeitet; die politischen und gesellschaftlichen Behauptungs- und Umverteilungskämpfe von Minderheiten um Geld, Posten, Quoten.
Die dahinterstehende Krise:
Zunächst einmal: der legitime Kampf um formale Gleichheit vor dem Gesetz, z. B. der Frauen im Berufsleben; der Homosexuellen in der Frage der Gleichstellung mit den Heterosexuellen etc.
Damit zusammenhängend: die krisenhaften Strukturveränderungen der Arbeit (Flexibilisierung, Automatisierung, Digitalisierung, Massenentlassungen etc.) und die daraus folgenden Behauptungs- und Umverteilungskämpfe.
Aber auch: die Flüchtlingskrise und die damit zusammenhängenden Behauptungs- und Umverteilungskämpfe der illegal Eingereisten; die Behauptungs- und Umverteilungskämpfe von religiösen Minderheiten.
Die mittels ›Moral‹ verschleierten Fakten hierbei: der multikulturelle Kampf aller gegen alle um Hegemonie, Geld, Posten und Quoten, erkämpft oft mit dem moralisierenden Missbrauch des Topos des Opfers (›Wir sind Opfer der Verhältnisse‹; ›Wer nicht mit den Opfern der Verhältnisse mit leidet, hat kein Herz‹).
Das Hauptproblem: die Übergriffigkeit der Politik gegenüber den Lebensweisen, den ›Lebensformen‹ sowohl von Mehrheiten als auch von Minderheiten. Vor allem die Idealisierung, die Verabsolutierung und die moralische und manchmal rechtliche Privilegierung milieuspezifischer Werteprovinzen, eine Verabsolutierung, die über die allgemein notwendige Toleranz hinausgeht.
Die Moralkeule: ›Allen Völkern die Freiheit bringen‹.
Die damit ›moralisch‹ gerechtfertigte Politik: die Expansionspolitik der EU-Kommission, oder gröber gesagt: der imperiale Hype der EU-Kommission (inzwischen durch Putins völkerrechtswidrige Ukraine-Akionen stark gedämpft).
Die dahinterstehende Krise: die Ukrainekrise. (Aber auch die damalige, als ›arabischer Frühling‹ titulierte Krise, in welcher europäische Politiker sich auf dem Tahiri-Platz in Kairo einmischten.)
Die mittels ›Moral‹ verschleierten Fakten hierbei: die hektische, imperiale EU-Osterweiterung und auch sonstige Einfluss-Erweiterung; das Interesse am Fracking in der Ukraine: das Interesse an einem ›starken Euro in einem starken Europa‹ bzw. an einem ›starken Deutschland in einem starken Europa‹.
Das Hauptproblem: die Übergriffigkeit vor allem gegenüber den Interessen Russlands.
Das sind die Dimensionen von ›Europa mit der Moralkeule‹, die ich analysieren möchte.
Die Berufung auf Werte kann eine gute Sache sein, jedenfalls dort, wo man sich auf Menschenechte, die Menschenwürde, also auf naturrechtliche Werte beruft, die in den Verfassungen enthalten sind. Und selbstverständlich ist es eine gute Sache, sich auf die in den Verfassungen enthaltenen Werte zu berufen. Aber Verfassungen sind keine Moralkeulen. Sie sind keine moralischen Einrichtungen. Es werden damit Interessen realisiert, Interessen der Bevölkerungen an Sicherheit, Friedenserhaltung, Rechtssicherheit, sozialer Absicherung etc. Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist keine karitative Institution.
In der Realität stehen sich hier gesellschaftliche Bereiche gegenüber, die nicht identisch sind und auch nicht identisch gemacht werden können: das Herz versus das Recht; Karitas versus Politik; ausgleichende Gerechtigkeit versus strafende Gerechtigkeit; Barmherzigkeit versus Prinzipienreiterei. Das sind gegensätzliche Bereiche, die sich zwar auch in den Verfassungen überschneiden, die jedoch nicht in vollständige Übereinstimmung gebracht werden können und auch nicht sollen.
HYBRIS DES HERZENS VERSUS ANGEMESSENHEIT
Das Naturrecht ist unverzichtbar angesichts der Inhumanität in der Welt, aber es darf nicht als Moralkeule missbraucht werden
Die Moralkeulen-Politik praktiziert einen moralischen Maximalismus, der fahrlässig mit Recht und Gesetz umgeht
Das positive Recht, die formale Gleichheit aller und die faktischen Unterschiede unter den Menschen
Vor dem Gesetz sind alle gleich. Jedenfalls dort, wo demokratische Zustände bestehen. Je mehr die Verhältnisse in der Welt verrechtlicht werden – Habermas möchte sogar den gesamten Kosmos in die Verrechtlichung einbeziehen –, desto mehr besteht eine öffentliche Ordnung, die, anders als die feudale und absolutistische, keine Sonderrechte, keine Ausnahme, keine Vetternwirtschaft, aber auch keine landesfürstliche Güte und Gnade gestattet. Die Menschenrechte gelten für alle Menschen, selbst wenn die Menschenrechte auf der Ebene der UNO primär eine moralische Ordnung darstellen und nur in manchen Staaten oder Staaten-Verbünden den Status eines abgesicherten Rechts haben, z. B. in den Staaten, die der Europäischen Menschenrechtskonvention beigetreten sind; dort sind die Menschenrechte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenechte in Straßburg einklagbar. Und auch angesichts politischer, religiöser, sexueller Unterschiede und auch solcher der Herkunft und Hautfarbe müssen alle Menschen vor dem Recht und Gesetz gleich behandelt werden. Ist diese formelle Gleichheit einmal hergestellt, impliziert das auch die Möglichkeit und Notwendigkeit, das jeweils Unterschiedliche, z. B. religiöse Fragen, überhaupt die Lebensweisen, die ›Lebensformen‹, als Privatangelegenheit zu behandeln. Der zivilgesellschaftliche Begriff hierfür ist ›Toleranz‹.
Schwierig wird die Sache dadurch, dass nicht jedes Recht ein absolutes Recht ist, also für alle gilt. Es gibt auch relative Rechte. Manches Recht gilt nur für spezielle Rechtsgebiete und damit nur für unterschiedliche Normadressaten.
Beispiel:
Das deutsche Grundgesetz legt fest, dass jemand, der aus einem Mitgliedsstaat der EU kommt (also aus einem Nachbarstaat Deutschlands, also auch aus Österreich) oder aus einem Drittland, das der Genfer Konvention der UNO