Kampf um die Armut: Von echten Nöten und neoliberalen Mythen
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Über dieses E-Book
Es ist ein erbitterter Kampf ausgebrochen in Deutschland. Vordergründig geht es um Defnitionen und wissenschaftliche Methoden - tatsächlich aber um knallharte Interessenpolitik. Es ist die Armut in unserem Land, um die so verbissen gestritten wird. Je größer sie wird, umso hartnäckiger das Leugnen derer, die ihren Reichtum oder ihre Macht bedroht sehen und umso härter ihre Schläge gegen alle, die sich mit der sozialen Spaltung in Deutschland nicht abfinden wollen. Einige der prominentesten und renommiertesten Kritiker dieses neuen neoliberalen Mainstreams vereint dieser Band mit brillianten Analysen, entlarvenden Erzählungen und engagierten Plädoyers gegen Ausgrenzung und für eine Gesellschaft, die keinen zurücklässt.
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Buchvorschau
Kampf um die Armut - Ulrich Schneider
Ebook Edition
Ulrich Schneider (Hg.)
Kampf um die Armut
Von echten Nöten und neoliberalen Mythen
Mit Beiträgen von Christoph Butterwegge, Friedhelm Hengsbach SJ, Rudolf Martens und Stefan Sell
Westend VerlagMehr über unsere Autoren und Bücher:
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
ISBN 978-3-86489-602-6
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2015
Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich
Inhaltsverzeichnis
Titel
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Armut kann man nicht skandalisieren, Armut ist der Skandal!
Armut – sozialpolitischer Kampfbegriff oder ideologisches Minenfeld?
Das ist keine Armut, sondern »nur« Ungleichheit?
Armut wird gemacht
Armut im Überfluss
Anmerkungen und Quellen
Die Autoren
Vorwort
Es war an einem dieser Wochenenden, an dem wieder Tausende Flüchtlinge in Deutschland Zuflucht suchten. Ich war in Kiel auf einer Veranstaltung mit Torsten Albig. Der schleswig-holsteinische Ministerpräsident sprach über die Herausforderungen, vor denen Deutschland stehe. Und während er so redete, bemerkte ich in seinen Worten irgendetwas, das mich stutzig machte. Ich konnte erst gar nicht sagen, was es war. Es dauerte eine Weile, bis ich darauf kam: Er benutzte Wörter, die ich schon seit Jahren kaum noch gehört hatte, wenn es um Sozialpolitik ging. Er sprach davon, dass wir uns den Flüchtlingen »zuwenden« müssten, dass wir uns »kümmern« müssten. Er mahnte uns, auf die Menschen, die da zu uns kommen, »aufzupassen«. Sogar das Wort »behüten« nahm er in den Mund. Es waren Begriffe wie aus alten Zeiten, warme Begriffe. Es war eine Sprache, die man uns doch eigentlich längst ausgetrieben hatte, da sie angeblich nicht mehr in den Zeitgeist passen wollte. Heute sprechen wir von Aktivierung, Befähigung, Vermittlung oder Fallmanagement. Sprache macht Politik. Und gerade deshalb war die Rede von Torsten Albig eine der politischsten, die ich seit langem gehört habe. Es war ein unterschwelliges Statement, ein subtiles Aufbegehren gegen das neoliberale kalte Neusprech.
Der Neoliberalismus hat in den letzten Jahren so einiges sprachlich abzuräumen versucht, was nicht gedacht oder gefühlt werden sollte, weil es nicht in Einklang zu bringen war mit seinem auf Wettbewerb, Leistung und Profit zielenden Wirtschafts-, Gesellschafts- und Menschenbild.¹ Die Beispiele sind zahlreich. Früher sprach man davon, dass jemand einen »Beruf ausübt«, heute sagt man: »Er macht einen Job.« Job hat nichts mehr mit Identität, Berufung oder gar Berufsehre zu tun. Man hat flexibel zu sein, alles ist möglich, alles ist zumutbar. Früher »verdiente« man sein Geld, heute »macht« man es – egal wie.
Wörter sind wichtig. Worte prägen über kurz oder lang unser Denken. Sie geben uns Möglichkeiten zu reflektieren und bilden zugleich den Korridor für unsere Reflektionen. Und genauso wichtig: Sie sind mit Gefühlen und Assoziationen verbunden – oder eben auch nicht.
Wer Sprache beherrscht, wer es vermag, Begriffe zu eliminieren oder zumindest umzudeuten, der beherrscht den Zeitgeist oder hat doch in jedem Fall erheblichen Einfluss auf ihn. Er hat erheblichen Einfluss darauf, was in einer Gesellschaft als notwendig erachtet wird, was akzeptiert wird, was zum Tabu erklärt wird, was schick ist oder was sich schlicht nicht gehört. Der Neoliberalismus und seine Verkünder haben in dieser Hinsicht in den letzten beiden Jahrzehnten ganze Arbeit geleistet. Zweifelsfreie Tugenden, über Jahrhunderte tradiert, wurden einfach umdefiniert, diskreditiert und in ihr Gegenteil verkehrt. Wem die Nöte von Menschen am Herzen lagen, wer Empathie zeigte, wer das menschliche Einzelschicksal in der Sozialpolitik nicht aus dem Blick verlieren wollte, wer ganz einfach gütig war, der sah sich plötzlich als »Gutmensch« vorgeführt – nette Leute, aber leider absolut aus der Zeit gefallen und nicht mehr brauchbar. Wer sich nachdenklich zeigte, wer sich seine ganz eigenen Gedanken machte und auch mal couragiert gegen den Stachel löckte, der wurde genauso plötzlich zum nervigen »Bedenkenträger« gemacht. Nachdenklichkeit bekam eine deutlich negative, ja fast destruktive Konnotation und wurde gleichgesetzt mit Nörgelei und Verbreitung schlechter Stimmung auf dieser großen Party des marktwirtschaftlichen Auf- und Durchbruchs.
Auf den ersten Blick wirken solche Wortverdrehungen einfach wie besonders platte Versuche der Diskreditierung und Diskriminierung Andersdenkender. Doch ihre Wirkung ist eine sehr viel tiefere. Es geht darum, einen Altruismus, der dem neoliberalen Denken fremd ist, genauso aus dem gesellschaftlichen Diskurs zu verbannen wie die vertiefte und kritische Reflexion. Denn beides, Altruismus und Reflexion, kann neoliberalen Interessen durchaus gefährlich werden.
Was in diesem neuen Weltbild jedoch vor allem störte und abgeräumt werden musste, war jener »nervige« Gerechtigkeitsbegriff. Hier lieferte die neoliberale Propaganda ihr Meisterstück ab. »Sozialneid« war der neue Kampfbegriff der Privilegierten, der immer dort eingesetzt wurde, wo Ungerechtigkeit und Privilegien angeprangert wurden: In Wirklichkeit stecke ja nur Sozialneid dahinter, mehr nicht. Der Begriff war einfach genial: Neid klingt nach Missgunst, unsympathisch. Den Neider kann keiner leiden, und deshalb will auch keiner als solcher beschimpft werden. Neider, so suggeriert das Wort, sind immer die Unterlegenen, die Habenichtse, die es zu nichts gebracht haben. Worauf sie neidisch sind, so der im Wort mitschwingende Vorwurf, sind nicht die Privilegien, die ein anderer genießt, sondern es ist in Wirklichkeit dessen Leistung. Neid klingt immer ungerechtfertigt, ja unmoralisch. Den Neoliberalen gelang mit dieser Umdeutung von Gerechtigkeit in Neid tatsächlich, Oberwasser im öffentlichen Diskurs zu gewinnen.
Es war eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis neben Nachdenklichkeit, Güte und Gerechtigkeit auch der Armutsbegriff immer härteren Attacken ausgesetzt wurde – zumindest jener Armutsbegriff, wie er sich in den letzten Jahrzehnten in Deutschland etabliert hatte.
Armut ist ein sehr stark emotional aufgeladener Begriff. Armut löst Assoziationen wie Mitleid, Zuwendung und bedingungslose Hilfe aus – alles andere also als marktwirtschaftliche Termini und Leitvorstellungen. Armut ist immer etwas, was im allgemeinen Verständnis nicht duldbar ist, was nicht akzeptabel ist, was bekämpft und beseitigt gehört. Armut ist damit ein auch ethisch und moralisch sehr aufgeladener Begriff.
Spätestens seit Ende der 1960er Jahre wurde in Deutschland – beflügelt vom Zeitgeist einer gebändigten, sozialen Marktwirtschaft – nicht mehr lediglich dann von Armut gesprochen, wenn es sich um existenzielle Not oder Elend handelte, sondern im besten Verständnis eines sozialen Gemeinwesens bereits dann, wenn materielle Unterversorgung zu dauerhafter Ausgrenzung führt, zum Ausschluss aus sozialer und kultureller Teilhabe. Der aufgeklärte Armutsbegriff der letzten Jahrzehnte ist darüber hinaus ein relativer, weil er sie immer im Verhältnis zum allgemeinen Wohlstand einer Gesellschaft bemisst. Er ist damit immer auch eine Anklage gegen zu große Einkommensungleichheit, gegen zu viel Armut, aber auch gegen zu großen Reichtum.
Der Neoliberalismus steht nicht nur zur Ungleichheit – er propagiert sie. Das Anhäufen von Privilegien und Reichtum, egal ob an der Börse gewonnen, erarbeitet oder geerbt, ist nach dessen Lesart ebenso sakrosankt wie das Risiko des materiellen Absturzes notwendig ist, um die Menschen zu motivieren und zu disziplinieren. Genauso wie Güte oder Gerechtigkeit kann man den relativen Armutsbegriff aus solch einer Perspektive nur als Zumutung empfinden. Er muss weg oder wenigstens kleingeraspelt werden.
Und so befinden wir uns 25 Jahre nach der Vereinigung Deutschlands und 25 Jahre nach Beginn eines unaufhaltsamen Siegeszuges des Neoliberalismus in der Bundesrepublik heute mitten in einem erbitterten Kampf um die Definitionsmacht über den Armutsbegriff.
»Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher« – mit dieser Verdummung versucht die herrschende Klasse in George Orwells berühmter Fabel Die Farm der Tiere in einem moralisch heruntergekommenen, einst sozialistischen Gemeinwesen ihre Privilegien und ihren Reichtum zu erklären. »Alle Menschen sind ungleich, aber manche sind ungleicher« – so in etwa versuchen Neoliberale, heute Armut wegzureden. Was wir als Armut bezeichnen, sei überhaupt keine Armut, sondern »lediglich« Ungleichheit. Es handele sich doch nur um das untere Ende einer vermeintlich notwendigen Ungleichheit in dieser Gesellschaft.
Dahinter steckt der Versuch einer Neudefinition der Armut: Armut soll im öffentlichen Diskurs – und damit auch politisch – auf ein Maß zurechtgestutzt werden, das auch Neoliberale wieder gut schlafen lässt: Keine Ungleichheits- und Gerechtigkeitsdebatten mehr und auch keine Umverteilungsdiskussionen. Es geht um die Etablierung eines rudimentären Armutsbegriffs, der System- und Verteilungsfragen ausblendet und es wieder zulässt, Armut allein mit einzelnen sozialstaatlichen Programmen, etwas mehr Chancengleichheit oder karitativer Zuwendung zu »behandeln«. Es geht um eine weitgehende Entpolitisierung von Armut.
Es bedurfte keiner großen Überredungskunst, vier der derzeit namhaftesten und profiliertesten Wissenschaftler auf dem Feld der Armuts- und Sozialpolitik dafür zu gewinnen, diesen Kampf um die Armut aus ihren spezifischen Blickwinkeln zu analysieren und zu kommentieren. Es geht um die politischen Aspekte des Armutsbegriffs und um den Umgang der politisch Verantwortlichen mit diesem Begriff und mit der Armut in Deutschland selbst. Es geht um ökonomische Aspekte und darum, wie viel Ungleichheit eine Gesellschaft überhaupt verkraftet oder wo ein mehr an Zusammenhalt und ein wenig mehr an Gleichheit nicht doch mit mehr Lebensqualität einhergehen. Es geht um die ethischen Fragen, mit denen sich der herrschende Neoliberalismus so schwer tut, und es geht schließlich um die drohende »Vertafelung« unserer Gesellschaft, wenn sozialstaatliche Garantien durch Almosen ersetzt werden.
Ulrich Schneider
Armut kann man nicht skandalisieren, Armut ist der Skandal!
Vom Kampf um die Deutungshoheit über den Armutsbegriff
Von Ulrich Schneider
»Zerrbild«¹, »Etikettenschwindel«², »Horrorstudie«³, »Panische Überzeichnung« und »Skandalisierung«⁴. So rauschte es im Februar und März 2015 durch den konservativ-liberalen und neoliberalen Blätterwald. Was war passiert? Eigentlich nichts Besonderes. Der Paritätische hatte wieder mal seinen Armutsbericht vorgestellt. Das tut er jedes Jahr. Nur waren seine Befunde dieses Mal besonders schlecht: Mit einer Armutsquote von 15,5 Prozent war in Deutschland ein trauriger historischer Rekord erreicht. Seit 2006 zeigten die Armutsquoten darüber hinaus einen klaren Aufwärtstrend, auch darauf wies der Verband hin. Und noch nie war Deutschland auch regional so zwischen Arm und Reich zerklüftet wie derzeit.⁵
Gern gehört wurde das nicht. Die Kommentatoren in FAZ, Welt⁶, Zeit oder Focus Online bis hin zur Wirtschaftsredaktion der Süddeutschen Zeitung⁷ oder der Neuen Zürcher Zeitung⁸ überschlugen sich geradezu in ihrem Bemühen, den Bericht als aufgebauscht, überzogen, realitätsfern oder schlicht falsch zu attackieren. Deutschland habe einen Sozialstaat, der nicht schlecht geredet werden dürfe. Gut gehe es den meisten heutzutage. Früher hatten alle viel weniger. Und überhaupt: Wer Armut tatsächlich kennen lernen wolle, sollte doch mal über Deutschlands Grenzen hinaus schauen … so weit, so üblich.
Es waren die erwartbaren Reaktionen von neoliberaler Seite. Als solche nicht neu.
Bereits bei der Vorlage des allerersten Armutsberichts des Paritätischen 1989⁹ begann sich dieses Muster einzuschleifen. Damals hatte der Verband 3,1 Millionen Sozialhilfebezieher als arm bezeichnet. Rigorose Zurückweisung seitens der Bundesregierung: In Deutschland gebe es kein Armutsproblem, hieß es damals schon, die Sozialhilfe verhindere sie ja gerade. Von Armut könne man bestenfalls dann sprechen, wenn jemand trotz Bedürftigkeit keine Sozialhilfe beantrage; ein Betriebsunfall sozusagen, aber kein Massenphänomen.¹⁰ Verwiesen wurde auch damals schon auf das Elend in Kalkutta, und wir wurden gemahnt, stolz zu sein auf unseren Sozialstaat, der einem Sozialhilfebezieher einen höheren Lebensstandard beschere als einem Facharbeiter in der UdSSR.¹¹ Die Kritik war damals allerdings noch sehr viel moderater, nachdenklicher, ruhiger und dem Thema zugewandter. Es folgten Armutsberichte in den Jahren 1994¹² und 2000¹³, zusammen mit dem DGB und der Hans-Böckler-Stiftung. 2009 legte der Verband seinen Armutsatlas vor, die erste Aufbereitung der Daten des Statistischen Bundesamtes für Regionen.¹⁴ Und seit 2011 erscheinen die Berichte jährlich.¹⁵
Bezeichnend an dieser Auseinandersetzung: Je reicher Deutschland im Laufe der Jahre wurde, je weiter allerdings auch die Einkommens- und Vermögensschere sich öffnete, desto rigoroser wurde Armut geleugnet, desto aggressiver wurden jene attackiert, die die schlechte Botschaft von der Armut in diesem reichen Deutschland überbrachten, und desto apodiktischer wurde ihnen praktisch das Recht abgesprochen, jenseits von Obdachlosigkeit oder anderen extremen Erscheinungsformen der Not überhaupt von Armut zu sprechen. Der Paritätische hat dazu im Laufe der Jahrzehnte reichlich Erfahrung sammeln dürfen. Im Rückblick gewinnt man den Eindruck: So wie der Protest in Deutschland anschwoll gegen eine zunehmende Armut und ungerechte Ungleichverteilung und die Rufe nach einer solidarischen Steuer- und Finanzpolitik immer lauter wurden, so wuchs in gleichem Maße auch der Widerstand derer, die dabei etwas zu verlieren haben.¹⁶
Das »soziokulturelle Existenzminimum«, Warenkörbe und Statistiken
Die Sozialrechtler prägten in dieser Auseinandersetzung rund um die Frage, was Armut überhaupt sein soll und wo sie beginnt, den sperrigen Ausdruck vom »soziokulturellen Existenzminimum«¹⁷. Er sollte zu einem Schlüsselbegriff werden in diesem Kampf um die Deutungshoheit über die Armut und besagt: Zum Existenzminimum gehöre mit Blick auf das Gebot der Menschenwürde nicht nur das, was man zum Überleben zwingend brauche, also Nahrung, Kleidung, ein Dach über dem Kopf oder Energie. Das soziokulturelle Existenzminimum umfasse auch das, was notwendig sei, um bei sparsamer Haushaltsführung am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.
Als Anfang der 1960er Jahre die Sozialhilfe eingeführt wurde, sollte damit genau das sichergestellt werden: ein Leben, das der Würde des Menschen entspricht, wie es im Gesetz heißt.¹⁸ Was und wie viel der Mensch dazu bräuchte, wurde bis in die 1980er Jahre durch den »berühmten« Warenkorb definiert, ein Werkstück echter »deutscher Gründlichkeit«: Zwei Rosshaarbesen und eine Glühbirne für das Jahr fanden sich darin, ein halbes Ei pro Tag, jeden Monat 60 Gramm Bücklinge, 1/8 Liter Sahne, ein Pfund Butter und 70 Gramm Kalbfleisch. Sechs Straßenbahn- oder Buskarten legte man noch hinein, für die Mobilität, und für die kulturelle Teilhabe ein Taschenbuch und eine halbe Kinokarte. Von der Nahrung bis zum Putzmittel, von der Hautcreme bis zum gelegentlichen Gang zum Frisör sollte man in diesem Korb alles finden, was der »typische« Single so braucht, um nach den Vorstellungen der Sozialbehörden vor der Armut geschützt zu sein. Es war ein sehr transparentes und vor allem ein sehr plastisches Verfahren, eine Armutsschwelle festzulegen. Es lud zur Diskussion ein. Jeder konnte sich eine Meinung dazu bilden, ob ein halbes Ei am Tag nicht zu wenig sei, ob 70 Gramm Kalbfleisch im Monat nicht zu üppig seien oder ob Tabak denn wirklich sein müsse.
Lange hielt der politische Warenkorb-Frieden nicht. Eigentlich war vereinbart, den Warenkorb mit seinen Rosshaarbesen und Bücklingen gelegentlich auch mal an sich verändernde Gebrauchsgewohnheiten anzupassen. Doch vor allem Länder und Kommunen drückten sich genau darum herum – sie wussten, es konnte nur teurer werden. Lediglich auf Preisanpassungen ließ man sich ein. Die Diskussion darüber, ob der Warenkorb tatsächlich noch vor Armut schütze, gewann daher durchaus an Schärfe. Als dann 1981 doch endlich eine zeitgemäßere Produktpalette erarbeitet war, blockten die Haushaltspolitiker. Zur Umsetzung hätten die Regelsätze in der Sozialhilfe um über 30 Prozent angehoben werden müssen.¹⁹ Das war ihnen dann doch zu viel Teilhabe. Man versuchte, den neuen Warenkorb so lange zu »schleifen«, bis die Kosten genehm wurden. Sogar Koch- und Backzutaten wurden wieder ins Regal zurückgestellt. Statt Durchschnittspreise wurden in den Berechnungen ausschließlich Billigangebote zugrunde gelegt. Trotzdem wollte es nicht gelingen, die Mehrkosten wegzuzaubern. Und so war man sich bald einig: Ein ganz neues Verfahren musste her.
Das sogenannte Statistikmodell wurde geboren. Bis heute dient es dazu, die Regelsätze zu bemessen; oder besser: in ihrer Höhe quasi-objektiv zu begründen. Vereinfacht formuliert funktioniert es so, dass man nachschaut, wie viel Geld einkommensschwache Haushalte haben und wofür sie es ausgeben. Datengrundlage für das Ganze ist die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes (EVS), die alle fünf Jahre erhoben wird. 60 000 Haushalte werden dazu gebeten, penibel Haushaltsbuch zu führen und aufzuschreiben, was sie sich so leisten: Von Lebensmitteln über Getränke und Tabak bis hin zu Einrichtungsgegenständen, von Topfpflanzen über die Fahrradausstattung bis zum Besuch einer Gaststätte, von der Bratwurst im Brötchen bis zum Segelflugzeug: Für alles findet sich eine Kategorie in dieser Statistik. Da ausschließlich das Ausgabeverhalten einkommensschwacher Personen interessierte, wurden aus dieser Datenbank dann nur die 20 Prozent Singlehaushalte mit dem geringsten Einkommen in den Blick genommen.²⁰ (Seit 2010 sind es – um die Rechenergebnisse zu drücken – sogar nur noch die untertesten 15 Prozent.)
Weiß man also, wofür diejenigen mit dem wenigsten Geld dieses so ausgeben, werden in einem nächsten Schritt all jene Ausgaben herausgestrichen, wovon die Beamten des Arbeitsministeriums glauben, dass sie einem Hartz-IV-Bezieher nicht zustehen: Ausgaben für den Unterhalt