Freiheit, Gleichheit, Solidarität: Europas Zukunft - Anstöße aus Deutschland, Frankreich und Polen
Von Bertelsmann Stiftung (Editor)
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Buchvorschau
Freiheit, Gleichheit, Solidarität - Bertelsmann Stiftung
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet unter http://dnd.d-nb.de abrufbar.
© 2012 E-Book-Ausgabe (EPUB)
© 2012 Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh
Verantwortlich: Joachim Fritz-Vannahme, Armando Garcia Schmidt
Redaktion: Sibylle Reiter, Armando Garcia Schmidt
Herstellung: Sabine Reimann
Fotos: Klaus Mellenthin, Stuttgart; Michał Szlaga, Danzig;
Antònia Torres, Paris
Autorenfotos: Die Hoffotografen; Robert Laska for »Malemen«;
Parlement Europeen; Bertelsmann Stiftung; Torsten Linz;
Monika Lawrenz; Maria Sterniecka; Slawomir Kamiński/
Agencja Gazeta; Maciej Cynowski
Übersetzung: Henryk Mazepa, Krakau; Anna Royon-Weigelt, Berlin;
CPSL, Ludwigsburg
Layout und Satz: Büro für Grafische Gestaltung, Kerstin Schröder,
Christian Ring, Frank Rothe, Bielefeld/Berlin
Druck: Hans Kock Buch- und Offsetdruck GmbH, Bielefeld
ISBN : 978-3-86793-483-1
ISBN 978-3-86793-482-4 (PDF)
ISBN 978-3-86793-483-1 (EPUB)
'www.bertelsmann-stiftung.de/verlag'
Inhaltsverzeichnis
Titel
Impressum
Einführung
FREIHEIT
Freiheit West—Freiheit Ost? - Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Kultur des Erinnerns
Freiheitliche Grundwerte Westeuropas
Sehnsucht nach Freiheit
Manifestationen der Zivilcourage
Für eine Kultur des Erinnerns
Aufarbeitung des europäischen Kommunismus
Wir sind noch nicht am Ende der Geschichte angelangt
»Für unsere und eure Freiheit« - Freiheit und Unfreiheit der Polen
»Goldene Freiheit« des Adels
Verfassung und Teilung
»Für unsere und eure Freiheit«
Lebendige Freiheitstradition
Streben nach Unabhängigkeit
Variables Maß an Bürgerfreiheiten
Eröffnung neuer Freiheiten
Konservativ und wenig liberal?
Freiheitsorientiertes Denken und ein neuer politischer Weg
Eine Reise entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze
GLEICHHEIT
Erträumte Gleichheit - oder vom Verschwimmen der Kategorien
Ich wollte mehr als Gleichheit
Von der Zweiheit zur Vielfalt
Was ist Deutsch, was ist Türkisch?
Die Unterschiede lieben, das Andersartige schätzen
Gleichheit auf Französisch - Gleichheit auf Europäisch
Kampf zwischen Alt und Neu
Eine gewisse Dosis Ungleichheit ist gut für alle
Chancengleichheit: Ende eines Mythos?
Abschaffung der Diskriminierung: ein Trugbild?
Rehabilitierung des Begriffs »Verdienst«
Diskriminierung trotz Chancengleichheit
Gleichheit im Gesetz reicht nicht aus
Gleichheit im europäischen Sinn
Der Begriff der Gleichheit in Polen - ungewolltes Relikt des Kommunismus oder ...
Das Gespenst der Gleichheit über der polnischen Transformation
Mit Gleichheit zurück zum Kommunismus?
Paradoxe der europäischen Integration
Gleichheit als europäischer Wert und europäische Norm
Gleich - Ungleich
SOLIDARITÄT
Solidarität, die wir brauchen
Friede kein oberster Grundwert
Ein humanes Wirtschaftssystem gibt es nicht mehr
Agenda 2010: Ausgeburt des Leviathan?
Befreiung aus der Unmündigkeit
Nächstenliebe: Grundlage der menschlichen Zivilisation
Solidarität erfordert Eigeninitiative
Sozial und solidarisch denken
Keine Freiheit ohne Solidarität
Marktbedingte Ungleichheiten durch Solidarität abfedern?
Solidarisches Handeln verbindet die Gesellschaft
Solidarität im Handeln: Voraussetzung für die Freiheit des Einzelnen
Begriff der republikanischen Solidarität
Polen—Land der Solidarność oder Land der Solidarität?
Solidarität in Polen: eine leere Formel?
Idee der Freiheit: in Polen tief verwurzelt
Primat des Individualismus
Fundamentale Bedeutung: das Christentum
Polen 1980 und heute
Epilog
Einführung
JOACHIM FRITZ-VANNAHME, ARMANDO GARCIA SCHMIDT
Die Idee zu diesem Buch wurde mitten in einer tiefen Krise geboren, die die Europäische Union vor nie gekannte Herausforderungen stellt und heftig an sich und ihrer Zukunft zweifeln lässt. Die folgenden Essays und Gespräche beschäftigen sich aus französischer, polnischer und deutscher Sicht mit den Leitbildern des modernen Europa - Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Allesamt sind dies nachdenkliche Versuche des Innehaltens, des prüfenden Rück- und fordernden Ausblicks zugleich, aufs eigene Land mitten in diesem Europa.
Gerade in dieser Banken-, Schulden- und Staatskrise mit ihrem schwindenden Vertrauen und ihrer wachsenden Angst tut Besinnung not: Warum gibt es diese Europäische Union? Warum suchen 27 Mitgliedstaaten und eine halbe Milliarde Menschen tagtäglich nach Wegen eines streitbaren, aber friedlichen Miteinanders? Was hält die Union im Innersten zusammen - ein gemeinsamer Haushalt von gerade einmal einem Prozent des Bruttosozialprodukts? Eine Handvoll gemeinsamer Institutionen, meist auf die Chiffre »Brüssel« verkürzt? Ein Binnenmarkt mit überall gültigen Regeln und seinen vier Freiheiten, freier Verkehr der Waren und Menschen, des Kapitals und der Dienstleistungen?
Das allein kann es nicht sein. Der Vertrag von Lissabon stellt nicht zufällig an den Anfang des zweiten Artikels »Grundlegende Werte«. Und er zählt auf: »Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte«. Von Pluralismus und Toleranz ist da die Rede und auch von Solidarität und der Gleichheit von Frauen und Männern. Das Wort von der europäischen Wertegemeinschaft geht leicht über die Lippen. Doch was meint es? Deutsche, Polen und Franzosen haben sich als Europäer gefunden und dabei ihre jeweilige Geschichte, Kultur und Tradition mitgebracht. Was trennt, was unterscheidet, was eint sie bei den Leitbegriffen Freiheit, Gleichheit, Solidarität?
Klangvolle Wörter, die in jedem dieser EU-Länder einen Wandel durchlaufen haben, manchmal über Jahrhunderte hinweg, mitunter aber auch - wie in Polen - in atemberaubend kurzer Zeit von nur zwei, drei Jahrzehnten. Verbunden sind die drei Begriffe aber nicht nur durch die Geschichte, sondern auch durch ein Beziehungsgeflecht, das die Essays und Gespräche, die in diesem Buch versammelt sind, auf oft überraschende Weise freilegen. »Freiheit und Gleichheit« war die Parole der Aufklärer und Revolutionäre im 18. Jahrhundert - aber ohne Solidarität missrät Freiheit egoistisch und bleibt Gleichheit sozial stumpf. Die folgenden Seiten handeln auch davon.
Bei der Auswahl unserer Autoren haben wir uns weder von Alter noch von Beruf, weder von parteipolitischer Farbe noch von religiöser Prägung leiten lassen. Wirwaren ganz einfach neugierig auf jene Polen, Deutscheund Franzosen, die in öffentlicher Rede oder durch ihre Publikationen, durch ihre Biografie oder ihre Rolle in ihrem Land das weite Feld dieser drei Leitbegriffe bearbeiten. Proporz war uns nur unter einem einzigen Gesichtspunkt wichtig: Freiheit, Gleichheit, Solidarität sollten jeweils von Deutschland, von Frankreich, von Polen aus betrachtet werden. Blickwinkel und Sichtachse blieben dabei den Autoren und Gesprächspartnern überlassen.
Die geistige Spurensuche der Autoren wird gespiegelt durch den Blick dreier Fotografen, die im Alltag der drei Länder mit künstlerischen Mitteln nach Freiheit, Gleichheit, Solidarität fahndeten. Die einzige Wahlverwandtschaft zwischen Wort und Bild sind wiederum jene drei Leitbegriffe. So sollten die Fotoserien nicht als Bebilderung des Geschriebenen missverstanden, sondern als drei weitere Annäherungen ans Thema mit anderen Mitteln »gelesen« werden.
Das Buch zeigt: Freiheit, Gleichheit, Solidarität bewegen die Europäer auch heute noch. Wer jedoch glaubt, Freiheit, Gleichheit, Solidarität befänden sich in dieser Europäischen Union in sicheren Händen, der wird im Folgenden von unseren Autoren eines Schlechteren belehrt: Die Ungleichheit in und auch zwischen den Mitgliedstaaten wächst; die Solidarität als Aufgabe der Union wurde im Streit um Schuldendienst und Sparpolitik ramponiert; und die Freiheit wird nicht nur bei unseren Nachbarn im Süden und Osten eingeschränkt, sondern auf offene oder schleichende Weise auch in manchen EU-Mitgliedstaaten. Darum halten wir dieses Buch und seine Beiträge gerade jetzt für notwendig. Freiheit, Gleichheit, Solidarität sind in der Europäischen Union nicht fixe Größen, sondern unvollendete Aufgaben.
002FREIHEIT
Freiheit West—Freiheit Ost?
Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Kultur des Erinnerns
MARIANNE BIRTHLER
»Der Engländer liebt die Freiheit wie sein rechtmäßiges Weib. Er besitzt sie, und wenn er sie auch nicht mit absonderlicher Zärtlichkeit behandelt, so weiß er sie doch im Notfall wie ein Mann zu verteidigen. Der Franzose liebt die Freiheit wie seine erwählte Braut. Er wirft sich zu ihren Füßen mit den überspanntesten Beteuerungen. Er schlägt sich für sie auf Tod und Leben. Er begeht für sie tausenderlei Torheiten. Der Deutsche liebt die Freiheit wie seine Großmutter.«
Was Heinrich Heine spöttisch beschreibt, scheint bis heute zuzutreffen: Die Deutschen schätzen ihre Freiheit durchaus, aber in der Hierarchie ihrer Werte steht sie keineswegs an erster Stelle. Nicht wenigen gilt sie sogar als suspekt und wird mit Egoismus und Marktradikalität gleichgesetzt. Die Risiken und Zumutungen einer offenen Gesellschaft werden gegen das Prinzip der Freiheit in Stellung gebracht. Eigensinn, Verantwortung und freiheitliches Lebensgefühl haben es schwer gegenüber den Verlockungen einer fürsorglich-vormundschaftlichen Gesellschaftsordnung.
Die Mehrheit der Deutschen lebt seit drei Generationen in einem freien Land, dessen demokratische Institutionen, Strukturen und Verfahren als stabil und vorbildlich gelten. Dass die Alt-Bundesbürger Freiheit und Demokratie ganz überwiegend wertschätzen, trägt zu dieser Stabilität bei - freilich ebenso die Tatsache, dass in den zurückliegenden sechs Jahrzehnten die Erfahrung der Freiheit immer auch mit steigendem Wohlstand, mit Wirtschaftskraft und mit innerer und äußerer Sicherheit verknüpft war.
Freiheitliche Grundwerte Westeuropas
Nur wenige Jahre nach dem Ende des Schreckens, den die deutschen Nationalsozialisten über Europa und die Welt gebracht hatten, reichten die freien Staaten der Welt Deutschland die Hand zur Versöhnung - eine der wesentlichen Voraussetzungen dafür, dass die Bundesrepublik Deutschland in die neu entstehende westeuropäische und transatlantische Wertegemeinschaft hineinwachsen konnte. Die Entwicklung beschränkte sich dabei nicht allein auf den politischen Raum und die entschlossene Westorientierung der ersten Bundesregierungen. Der Prozess veränderte auch die Gesellschaft der Bundesrepublik durch ungezählte Begegnungen, Reisen und Freundschaften - auch gefördert durch einflussreiche Institutionen wie zum Beispiel das Deutsch-Französische Jugendwerk, den deutsch-amerikanischen Schüleraustausch oder die Aktion Sühnezeichen. Dieser lebendige Austausch mit den Ländern der westlichen Welt hat einen großen Teil der Generation geprägt, die heute in der Politik, in den Medien und den Universitäten Verantwortung trägt.
Es gehört zu den Paradoxien gesellschaftlicher Entwicklung, dass sich sogar diejenigen aus der Generation der 68er, die einst Lenin und Mao verehrten, die kommunistische Regime unterstützten und blind waren für die Menschenrechtsverletzungen jenseits des Eisernen Vorhangs, später, manchmal allerdings viel später, zu verlässlich liberalen politischen und sozialen Akteuren mauserten, die sich geistig an den freiheitlichen Grundwerten Westeuropas orientierten. Allerdings lässt sich bis heute schwer sagen, wie stabil die Zustimmung zu einer freiheitlichen und demokratischen Grundordnung auch unter politisch oder wirtschaftlich belastenden Bedingungen wäre. Bis jetzt war sie noch keinem wirklichen Stresstest ausgesetzt.
Sehnsucht nach Freiheit
Ganz anders
