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How to know a person: Wie wir anderen wirklich begegnen und echte Verbundenheit schaffen
How to know a person: Wie wir anderen wirklich begegnen und echte Verbundenheit schaffen
How to know a person: Wie wir anderen wirklich begegnen und echte Verbundenheit schaffen
eBook399 Seiten4 Stunden

How to know a person: Wie wir anderen wirklich begegnen und echte Verbundenheit schaffen

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Über dieses E-Book

Das Glück in jeder zwischenmenschlichen Beziehung speist sich aus der Fähigkeit, Menschen wirklich zu sehen. Aber in unserer hektischen Gesellschaft fühlen wir uns oft unsichtbar und missverstanden. Mit großer Neugier und dem Willen, als Mensch über sich selbst hinauszuwachsen, begibt sich David Brooks auf eine Reise, um herauszufinden, wie wir uns und anderen die Aufmerksamkeit schenken können, die wir verdienen und brauchen. Gemeinsam lernen wir, wahre Verbundenheit zu schaffen: mit den richtigen Fragen und einem tiefen Verständnis für uns selbst und andere. So bekommen wir die Chance, uns wirklich zu sehen und die Risse in unserer Gesellschaft zu überwinden. Mitreißend, einfühlsam und ehrlich: Das Buch für alle, die sich nach tiefer Verbundenheit sehnen.
SpracheDeutsch
HerausgeberKneipp Verlag
Erscheinungsdatum10. Apr. 2025
ISBN9783990408124
How to know a person: Wie wir anderen wirklich begegnen und echte Verbundenheit schaffen
Autor

David Brooks

David Brooks writes a biweekly opinion column for The New York Times and appears regularly on PBS NewsHour and NPR’s All Things Considered. He lives in Bethesda, Maryland.

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    Buchvorschau

    How to know a person - David Brooks

    Teil 1

    ICH

    SEHE

    DICH

    EINS

    Die Macht des Gesehenwerdens

    Kennen Sie den Filmklassiker Anatevka? Dann haben Sie eine Vorstellung davon, wie herzlich und emotional es in jüdischen Familien zugehen kann. Alle fallen einander ständig in die Arme, singen, tanzen, lachen und weinen gemeinsam.

    Ich stamme aus einer jüdischen Familie der anderen Art.

    In meiner Kindheit galt die Devise: „Jiddisch denken, britisch handeln." Wir waren reservierte Leute, die ihre Gefühle stets unter Kontrolle hielten. Das soll nicht heißen, dass meine Kindheit nicht schön war – ganz im Gegenteil, ich empfand mein Zuhause als äußerst anregend. Bei Familienfesten wurden die Geschichte viktorianischer Grabmäler und die evolutionären Hintergründe der Laktoseintoleranz diskutiert (das stimmt wirklich!). Bei uns gab es Liebe. Wir haben sie nur nicht deutlich gezeigt.

    Es mag daher nicht sonderlich überraschen, dass ich ein wenig distanziert war. Als ich vier Jahre alt war, sagte die Erzieherin im Kindergarten angeblich zu meinen Eltern: „David spielt oft nicht mit den anderen Kindern, sondern hält sich abseits und beobachtet sie. Ob angeboren oder anerzogen, eine gewisse Unnahbarkeit wurde Teil meiner Persönlichkeit. Auf der Highschool hatte ich mich dann endgültig in mich selbst zurückgezogen. Am lebendigsten fühlte ich mich, wenn ich mich der einsamen Tätigkeit des Schreibens widmen konnte. Mit etwa sechzehn Jahren hätte ich mich gerne mit einer jungen Frau namens Bernice verabredet, doch meine Erkundungen brachten zutage, dass sie sich für einen anderen Kerl interessierte. Ich war entsetzt. Noch heute weiß ich, dass ich damals dachte: „Was fällt ihr nur ein? Ich kann viel besser schreiben als dieser Typ! Gut möglich, dass ich nicht ganz durchschaute, was anderen in zwischenmenschlichen Beziehungen wichtig war.

    Als ich achtzehn war, kamen die Zulassungsstellen der Universitäten Columbia, Wesleyan und Brown zu dem Schluss, dass ich besser an der University of Chicago studieren sollte. Ich liebe meine Alma Mater und seit meinem Studium hat sich sehr viel verändert, aber eine gefühlsbetonte Atmosphäre, die meine emotionale Eiszeit zum Tauen gebracht hätte, war an diesem Ort damals nicht gerade zu spüren. Mein Lieblingsspruch über die University of Chicago lautet: Eine baptistische Lehranstalt, an der atheistische Professoren jüdischen Studierenden die Lehren des heiligen Thomas von Aquin vermitteln. Dort trägt man immer noch T-Shirts mit der Aufschrift: „In der Praxis funktioniert es zwar, aber auch in der Theorie?" In dieser verkopften Welt fand ich mich also wieder … und, ob man es glaubt oder nicht, ich passte perfekt hinein!

    Wenn Sie mich zehn Jahre nach dem Studium kennengelernt hätten, hätte ich vermutlich ganz nett und fröhlich, aber etwas gehemmt gewirkt – nicht wie jemand, zu dem man leicht Zugang findet oder dem es leichtfällt, andere kennenzulernen. In Wirklichkeit war ich ein Entfesselungskünstler. Wenn sich Menschen mir gegenüber öffneten, nahm ich gekonnt bedeutungsvollen Blickkontakt zu den Schuhen meines Gegenübers auf und entschuldigte mich dann schnell, weil ich leider einen dringenden Termin in der Reinigung wahrnehmen musste. Dass diese Lebensweise nicht ideal war, spürte ich selbst. Situationen, in denen andere Menschen mit mir in Kontakt treten wollten, waren mir schmerzhaft unangenehm. Tief in meinem Inneren wollte ich eine Verbindung herstellen. Ich wusste nur nicht, wie ich das anstellen sollte.

    Ich unterdrückte meine Gefühle in allen Lebenslagen. Das war mein Standardmodus, der vermutlich die üblichen Ursachen hatte: Scheu vor Intimität, die vage Ahnung, dass mir das, was ans Tageslicht käme, wenn ich meinen Gefühlen freien Lauf ließe, nicht gefallen würde, gepaart mit der Angst vor Verletzlichkeit und einer allgemeinen sozialen Inkompetenz. Wie unsicher ich war, zeigt sich für mich ganz deutlich in einer scheinbar belanglosen Situation: Ich bin ein großer Baseball-Fan und habe zwar schon Hunderte von Spielen besucht, aber noch nie einen Ball auf der Tribüne gefangen. Vor etwa fünfzehn Jahren war ich bei einem Spiel in Baltimore, als der Schläger des Schlagmanns zerbrach und bis auf den Griff in hohem Bogen auf die Tribüne flog, wo er direkt vor meinen Füßen landete. Ich bückte mich und schnappte ihn mir. Ein Schläger war tausendmal besser als ein Ball! Ich hätte vor Freude in die Luft springen, meine Beute stolz präsentieren und mich mit anderen abklatschen sollen, während mein Jubel auf der Großleinwand übertragen wurde. Stattdessen legte ich den Schläger einfach neben mich und saß mit ausdrucksloser Miene da, während mich alle anstarrten. Im Rückblick würde ich mich selbst am liebsten kräftig durchschütteln und anschreien: „Zeig ein bisschen Freude!" Aber was spontane Gefühlsausbrüche betraf, war ich etwa so emotional wie ein Kohlkopf.

    Allerdings macht uns das Leben mit der Zeit oft weicher. Dass ich Vater wurde, war natürlich eine emotionale Revolution. Später erlebte auch ich viele jener Schicksalsschläge, die alle Erwachsenen treffen: gescheiterte Beziehungen, öffentliche Misserfolge, die Verletzlichkeit, die mit dem Älterwerden einhergeht. Das Gefühl der eigenen Zerbrechlichkeit, das daraus entstand, tat mir gut, denn so lernte ich tieferliegende, verdrängte Teile meines Selbst kennen.

    Ein weiteres, scheinbar unbedeutendes Ereignis markiert für mich den Beginn meiner Reise zur vollen Entfaltung meines menschlichen Wesens. Als Kommentator und Experte werde ich manchmal zu Podiumsdiskussionen eingeladen. Üblicherweise finden diese in Think-Tanks in Washington statt und sind emotional so aufgeladen, wie man es von Diskussionen über Steuerpolitik erwarten würde. (Die Journalistin Meg Greenfield machte einmal die Bemerkung, wonach sich in Washington nicht etwa die ungezogenen Kinder tummelten, die Katzen in Wäschetrockner stecken, sondern diejenigen, die petzen, wenn andere die Katze in den Trockner gesteckt haben.) An jenem Tag, um den es hier geht, sollte ich jedoch an einer Podiumsdiskussion im Public Theater in New York teilnehmen – dort, wo das Musical Hamilton uraufgeführt wurde. Ich glaube, es ging um die Rolle der Kunst im öffentlichen Leben. Die Schauspielerin Anne Hathaway saß mit in der Runde, dazu ein witziger, intellektuell anspruchsvoller Clown namens Bill Irwin sowie einige andere. Die Regeln der Washingtoner Think-Tanks galten bei dieser Veranstaltung nicht. Ehe es losging, sprachen sich hinter der Bühne alle gegenseitig Mut zu. Wir kamen zu einer großen Gruppenumarmung zusammen und marschierten dann voller Kameradschaftsgeist und Sendungsbewusstsein ins Theater. Hathaway sang ein bewegendes Lied. Auf der Bühne lagen Taschentücher bereit, falls jemandem die Tränen kommen sollten. Die anderen Teilnehmenden brachten ihre Gefühle zum Ausdruck. Sie berichteten von magischen Momenten, in denen sie ein Kunstwerk oder ein Theaterstück zutiefst berührt, in andere Sphären versetzt oder verwandelt hatte. Sogar ich fing an zu weinen! Mein großes Idol Samuel Johnson hätte vermutlich gesagt, es sei gewesen, als würde man ein Walross beim Eiskunstlauf beobachten – nicht schön, aber ein eindrucksvolles Erlebnis. Nach der Diskussion feierten wir dann mit einer weiteren Gruppenumarmung. Ich dachte: „Das ist großartig! Ich sollte öfter mit Theaterleuten zusammen sein!" Und ich schwor mir, mein Leben zu ändern.

    Ja, ich gebe zu, eine Podiumsdiskussion hat mein Leben verändert!

    Na gut, in Wirklichkeit ging es ein klein wenig langsamer vonstatten. Aber im Laufe der Jahre wurde mir klar, dass ein Leben auf Distanz im Grunde ein Rückzug aus dem Leben ist, eine Entfremdung nicht nur von anderen Menschen, sondern auch von sich selbst. Also habe ich mich auf eine Reise begeben. Wir Schriftsteller arbeiten das, was uns beschäftigt, natürlich öffentlich auf, also schrieb ich Bücher über Gefühle, moralisches Handeln und spirituelles Wachstum. Und irgendwie funktionierte es. Im Laufe der Jahre änderte ich mein Leben. Ich ließ mehr Verletzlichkeit im Umgang mit anderen zu und zeigte in der Öffentlichkeit mehr Emotionen. Ich versuchte, eine Person zu werden, der sich andere gerne anvertrauen – um mit ihr über Scheidungen, ihre Trauer nach dem Tod eines Ehepartners, ihre Sorgen um die Kinder zu sprechen. Mit der Zeit änderte sich etwas in mir. Ich spürte Dinge, die ich noch nie erlebt hatte: „Was kribbelt denn da in meiner Brust? Oh, das sind Gefühle! An einem Tag tanze ich bei einem Konzert: „Gefühle sind toll! Am nächsten Tag bin ich traurig, weil meine Frau verreist ist: „Gefühle sind doof!" Auch meine Lebensziele veränderten sich. In jungen Jahren hatte ich nach Wissen gestrebt, doch je älter ich wurde, desto mehr strebte ich nach Weisheit. Weise Menschen haben nicht nur Informationen, sondern auch mitfühlendes Verständnis für andere. Sie kennen sich mit dem Leben aus.

    Ich bin kein außergewöhnlicher Mensch, aber ich versuche zu wachsen. Es gelingt mir, meine Schwächen zu erkennen und daran zu arbeiten, mich als Mensch weiterzuentwickeln. Nach und nach habe ich Fortschritte gemacht. Das kann ich sogar beweisen! Zweimal in meinem Leben hatte ich die Ehre, in der Sendung Super Soul Sunday von Oprah Winfrey aufzutreten, einmal 2015 und einmal 2019. Nach der Aufzeichnung des zweiten Interviews kam Oprah zu mir und sagte: „Ich habe selten erlebt, dass sich ein Mensch so verändert. Beim ersten Mal waren Sie so gehemmt." Das machte mich unglaublich stolz. Denn sie muss es schließlich wissen – sie ist Oprah!

    Im Laufe dieser Entwicklung habe ich etwas Grundlegendes gelernt. Ein offenes Herz ist die Voraussetzung dafür, dass man ein erfüllter, freundlicher und weiser Mensch ist, aber es reicht nicht aus. Wir brauchen soziale Fähigkeiten. Oft genug wird die Bedeutung von „Beziehungen, „Gemeinschaft, „Freundschaft oder „Verbundenheit betont, doch diese Begriffe sind zu abstrakt. Um beispielsweise eine Freundschaft oder eine Gemeinschaft aufzubauen, muss man eine ganze Reihe kleiner, konkreter sozialer Handlungen beherrschen: Meinungsverschiedenheiten austragen, ohne eine Beziehung zu vergiften, in angemessenem Rahmen Verletzlichkeit zeigen, gut zuhören, ein Gespräch taktvoll beenden, Verzeihung erbitten und anbieten, andere enttäuschen, ohne sie dabei zu verletzen, anderen in ihrem Leid beistehen, Treffen veranstalten, bei denen sich alle angenommen fühlen, und Dinge aus der Sicht anderer Menschen betrachten können.

    Diese Fähigkeiten gehören zu den wichtigsten, die ein Mensch beherrschen kann, doch in der Schule werden sie nicht gelehrt. Manchmal scheint es, als hätten wir absichtlich eine Gesellschaft geschaffen, die bei den wichtigsten Dingen des Lebens nur wenig Unterstützung bietet. Das führt dazu, dass viele von uns einsam sind und keine tiefgehenden Freundschaften haben. Dabei liegt es nicht daran, dass wir uns diese Dinge nicht wünschen. Kaum ein menschliches Bedürfnis ist so groß wie die Sehnsucht, von einem anderen Menschen liebevollen Respekt und Akzeptanz zu erfahren. Nein, es mangelt uns an praktischem Wissen darüber, wie wir einander die wohltuende Aufmerksamkeit schenken können, die wir uns wünschen. Ich bin mir nicht sicher, ob das in der westlichen Welt jemals gut vermittelt wurde, doch vor allem in den vergangenen Jahrzehnten haben wir viel an moralischem Wissen verloren. Unsere Schulen und anderen Institutionen konzentrieren sich mehr und mehr darauf, uns auf die berufliche Laufbahn vorzubereiten, vermitteln jedoch nicht, wie man auf seine Mitmenschen Rücksicht nimmt. Die Geisteswissenschaften, die uns lehren, was in den Köpfen anderer vor sich geht, wurden ins Abseits gedrängt. Und ein Leben in den sozialen Medien trägt nicht gerade dazu bei, dass man diese Fähigkeiten erwirbt. In den sozialen Medien gibt es die Illusion sozialer Kontakte, ohne die Gesten ausführen zu müssen, die dafür sorgen, dass tatsächlich Vertrauen, Fürsorge und Zuneigung entstehen. Social Media ersetzt Intimität durch Stimulation. Jede Menge Urteile, nirgends Verständnis.

    In unserer Ära der schleichenden Entmenschlichung sind mir soziale Fähigkeiten wichtiger denn je: Wie schaffen wir es, andere Menschen rücksichtsvoller zu behandeln, wie gelingt es uns, unsere Mitmenschen besser zu verstehen? Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass die Qualität unseres Lebens und die Gesundheit unserer Gesellschaft zu einem großen Teil davon abhängen, wie gut wir in den kleinen Begegnungen des Alltags miteinander umgehen.

    All diese verschiedenen Fähigkeiten gehen auf eine grundlegende Fähigkeit zurück: die Fähigkeit, zu verstehen, was ein anderer Mensch erlebt. Es ist eine ganz bestimmte Fähigkeit, die das Herzstück aller gesunden Menschen, Familien, Schulen, Gemeinschaften oder Gesellschaften bildet: die Fähigkeit, einen anderen Menschen wirklich zu sehen und ihm das Gefühl zu vermitteln, dass er gesehen wird – einen anderen Menschen grundlegend zu erkennen und ihm das Gefühl zu vermitteln, wertgeschätzt, gehört und verstanden zu werden.

    Genau das bildet den Kern eines guten Menschen und ist gleichzeitig das größte Geschenk, das man anderen und sich selbst machen kann.

    Der Mensch braucht Anerkennung so dringend wie Nahrung und Wasser. Jemanden nicht zu sehen, ihn klein oder unsichtbar zu machen, ist die grausamste Strafe überhaupt. „Das größte Übel, das wir unseren Mitmenschen antun können, ist nicht, sie zu hassen, schrieb George Bernard Shaw, „sondern ihnen gegenüber gleichgültig zu sein: Das ist absolute Unmenschlichkeit. Wer das tut, sagt: Du bist nicht wichtig. Du existierst nicht.

    Auf der anderen Seite ist kaum etwas so erfüllend wie das Gefühl, gesehen und verstanden zu werden. Ich bitte andere Menschen oft, mir von Situationen zu erzählen, in denen sie sich gesehen fühlten, und sie berichten mir dann mit leuchtenden Augen von entscheidenden Momenten in ihrem Leben. Ich erfahre, wie jemand ein Talent erkannte, von dem die Betroffenen selbst nichts ahnten, oder wie jemand genau wusste, was in einem Moment der Schwäche nötig war – und exakt das Richtige tat, um für Entlastung zu sorgen.

    In den vergangenen vier Jahren habe ich mich gezielt bemüht, jene Fähigkeiten zu erlernen, die man braucht, um andere zu sehen, zu verstehen und ihnen das Gefühl zu vermitteln, respektiert, geschätzt und sicher zu sein. Anfangs wollte ich diese Fähigkeiten aus praktischen Gründen verstehen und erlernen. Große Lebensentscheidungen lassen sich besser treffen, wenn man andere richtig versteht. Ehe man einen Menschen heiratet, sollte man nicht nur sein Aussehen, seine Interessen und seine berufliche Perspektive kennen, sondern auch wissen, wie sich Leid aus der Kindheit im Erwachsenenalter bemerkbar macht und ob die tiefsten Wünsche dieses Menschen mit den eigenen übereinstimmen. Wenn Sie eine Stelle besetzen möchten, reicht es nicht, die im Lebenslauf genannten Qualifikationen zu registrieren, sondern Sie müssen auch subjektive Aspekte im Bewusstsein eines Menschen erkennen, die sich auf die Leistungsbereitschaft und den Umgang mit Ungewissheit auswirken und darüber entscheiden, ob jemand in Krisensituationen Ruhe bewahrt oder den Kolleg:innen gegenüber großmütig ist. Wenn Sie Beschäftigte im Unternehmen halten wollen, müssen Sie wissen, wie Sie diesen Personen Wertschätzung vermitteln können. In einer Studie aus dem Jahr 2021 fand das Meinungsforschungsinstitut McKinsey Folgendes heraus: Die meisten Führungskräfte glauben, dass Angestellte den Arbeitsplatz wechseln, um woanders mehr zu verdienen, während die Beschäftigten selbst eine Kündigung in erster Linie mit zwischenmenschlichen Faktoren begründen. Sie gehen, wenn sie sich von ihren Vorgesetzten und im Unternehmen nicht anerkannt und wertgeschätzt fühlen – wenn sie sich nicht gesehen fühlen.

    Diese Fähigkeit, andere wirklich zu sehen, ist nicht nur bei Eheschließungen, bei einer Stellenbesetzung oder zur Mitarbeiterbindung wichtig, sondern auch für Lehrkräfte, die Schüler:innen unterrichten, für Ärzt:innen bei der Untersuchung ihrer Patient:innen, für Gastgeber:innen, die vorausahnen wollen, was ihre Gäste wünschen, für Freund:innen, die Zeit miteinander verbringen, für Eltern im Umgang mit ihren Kindern, für Eheleute beim abendlichen Zubettgehen. Das Leben läuft viel besser, wenn man die Dinge nicht nur aus dem eigenen Blickwinkel, sondern auch aus dem eines anderen Menschen sehen kann. Künstliche Intelligenz wird uns in den kommenden Jahrzehnten vieles abnehmen und den Menschen bei vielen Aufgaben ersetzen, aber es wird ihr niemals gelingen, zwischenmenschliche Beziehungen herzustellen. Um im Zeitalter der KI Erfolg zu haben, müssen Sie außergewöhnlich gut darin werden, mit anderen in Verbindung zu treten.

    Zweitens wollte ich diese Fähigkeit aus einem Grund erlernen, der für mich spiritueller Natur ist. Andere richtig zu sehen, birgt ungeheure Schaffenskraft. Wir können unsere eigene Schönheit und unsere eigenen Stärken nur umfassend erkennen, wenn diese durch den Geist eines anderen Menschen gespiegelt werden. Das Gesehenwerden lässt uns wachsen. Wenn jemand das Licht seiner Aufmerksamkeit auf mich richtet, blühe ich auf. Wenn jemand in mir großes Potenzial sieht, werde ich höchstwahrscheinlich ebenfalls großes Potenzial in mir sehen. Wenn jemand meine Schwächen versteht und Mitgefühl zeigt, wenn das Leben es nicht gut mit mir meint, dann habe ich wahrscheinlich eher die Kraft, den Stürmen des Lebens zu trotzen. „Die Wurzeln der Resilienz, schreibt die Psychologin Diana Fosha, „sind in dem Gefühl zu suchen, von Geist und Herz eines liebevollen, eingestimmten und selbstbeherrschten Anderen verstanden zu werden und darin geborgen zu sein. In der Art und Weise, wie du mich siehst, lerne ich, mich selbst zu sehen.

    Und drittens wollte ich diese Fähigkeit aus Gründen erlernen, die man wohl als Basis für das nationale Überleben bezeichnen könnte. Im Laufe der Evolution lebte der Mensch meist in kleinen Gruppen mit anderen, die ihm mehr oder weniger ähnlich waren. Heutzutage jedoch sind viele von uns in wunderbar pluralistischen Gesellschaften zu Hause. In Amerika, Europa, Indien und vielen anderen Ländern versuchen wir, multikulturelle Massendemokratien zu errichten, Gesellschaften, in denen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Ethnie mit unterschiedlichen Ideologien und Hintergründen leben können. Damit eine pluralistische Gesellschaft überlebt, braucht sie Bürger:innen, die über die Unterschiede hinwegsehen und jene Art von Verständnis zeigen, die eine Voraussetzung für Vertrauen bildet – Menschen, die zumindest sagen können: „Ich verstehe dich allmählich. Sicher werde ich die Welt nie ganz so sehen, wie sie sich für dich darstellt, aber ich nehme sie langsam ein Stück weit mit deinen Augen wahr."

    Gegenwärtig reichen unsere sozialen Fähigkeiten für die pluralistischen Gesellschaften, in denen wir leben, nicht aus. Als Journalist habe ich oft mit Menschen zu tun, die mir sagen, dass sie sich nicht gesehen und nicht respektiert fühlen: Schwarze Menschen, die das Gefühl haben, dass Weiße die systemische Ungerechtigkeit nicht verstehen, der sie tagtäglich ausgesetzt sind; Menschen aus ländlichen Regionen, die sich von den Eliten in den Städten nicht gesehen fühlen; Menschen, die politisch Andersdenkenden mit wütendem Unverständnis begegnen; deprimierte junge Leute, die sich von ihren Eltern und allen anderen unverstanden fühlen; Privilegierte, die all jene in ihrem Umfeld, die ihre Häuser putzen und ihnen sämtliche Bedürfnisse erfüllen, nicht wahrnehmen; Eheleute in zerrütteten Beziehungen, denen klar wird, dass der Mensch, der sie eigentlich am besten kennen sollte, im Grunde keine Ahnung von ihnen hat. Viele unserer großen nationalen Probleme ergeben sich aus dem Zerfall unseres sozialen Gefüges. Wenn wir die großen nationalen Risse kitten wollen, müssen wir lernen, im Kleinen richtig zu handeln.

    In jeder Gruppe gibt es zwei Arten von Menschen – Diminisher (also Leute, die andere kleinmachen) und Illuminatoren (die andere erleuchten). Diminisher vermitteln anderen das Gefühl, klein und ungesehen zu sein. Sie betrachten ihre Mitmenschen als Dinge, die sie benutzen, und nicht als Personen, mit denen sie sich anfreunden können. Sie sind ignorant und ordnen Menschen in Schubladen ein. Und sie sind so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie andere einfach nicht wahrnehmen.

    Illuminatoren dagegen zeigen stets großes Interesse an ihren Mitmenschen. Sie haben gelernt – oder sich selbst beigebracht –, andere zu verstehen. Sie wissen, worauf sie achten müssen und wie sie die richtigen Fragen zum passenden Zeitpunkt stellen. Sie lassen das Licht ihrer Fürsorge auf ihre Mitmenschen strahlen, sodass diese sich größer, bedeutsamer, respektiert und erleuchtet fühlen.

    Sicher haben Sie so etwas schon einmal erlebt: Sie begegnen einer Person, die sich offenbar uneingeschränkt für Sie interessiert, die Sie versteht, die Ihnen hilft, Dinge zu benennen und an sich zu erkennen, die Sie vielleicht noch gar nie in Worte gefasst haben, sodass Sie sich persönlich weiterentwickeln.

    Über den Schriftsteller E. M. Forster schrieb ein Biograf: „Wer mit ihm sprach, wurde von einem umgekehrten Charisma verführt, dem Gefühl, mit einer solchen Intensität gehört zu werden, dass man sein ehrlichstes, intelligentestes und bestes Selbst sein musste." Stellen Sie sich vor, wie schön es wäre, selbst so wie Forster zu sein.

    Vielleicht kennen Sie die Geschichte von Jennie Jerome, der späteren Mutter von Winston Churchill. In ihrer Jugend soll sie einst mit dem britischen Staatsmann William Gladstone gespeist und ihn anschließend für den klügsten Menschen Englands gehalten haben. Danach speiste sie mit Gladstones großem Rivalen Benjamin Disraeli, und nach diesem Abend hielt sie sich selbst für den klügsten Menschen Englands. Es ist schön, wenn man wie Gladstone ist, aber es ist besser, wie Disraeli zu sein.

    Oder denken Sie an eine Geschichte aus den Forschungslabors Bell Labs. Vor vielen Jahren stellten die Verantwortlichen dort fest, dass einige der Beschäftigten viel produktiver forschten und es zu viel mehr Patenten brachten als andere. Woran konnte das liegen? Die Geschäftsführung nahm sämtliche möglichen Erklärungen für die Erfolge dieser Personen unter die Lupe – Bildungshintergrund, Position im Unternehmen –, jedoch ohne Ergebnis. Dann jedoch fiel eine Besonderheit auf. Am produktivsten waren diejenigen, die ihre Frühstücks- oder Mittagspause üblicherweise mit einem Elektroingenieur namens Harry Nyquist verbrachten. Nyquist leistete nicht nur wichtige Beiträge zur Kommunikationstheorie, sondern, so berichteten seine Kolleg:innen, hörte aufmerksam zu, wenn andere von Problemstellungen berichteten, versetzte sich in ihre Lage, stellte intelligente Fragen und verhalf ihnen so zu Bestleistungen. Mit anderen Worten: Nyquist war ein Illuminator.

    Was sind Sie selbst üblicherweise, Diminisher oder Illuminator? Wie gut können Sie andere Menschen lesen?

    Wir beide kennen uns zwar nicht persönlich, aber dennoch würde ich vermuten: Sie sind nicht so gut, wie Sie glauben. Wir alle gehen voller sozialer Ignoranz durchs Leben. Der Wissenschaftler William Ickes befasst sich mit der Frage, wie genau man wahrnehmen kann, was andere denken. Laut ihm schätzen sich Fremde, die zum ersten Mal miteinander sprechen, nur in rund 20 Prozent der Fälle gegenseitig richtig ein, während das engen Freund:innen und Angehörigen nur in 35 Prozent der Fälle gelingt. Ickes bewertet die „Empathiegenauigkeit" seiner Testpersonen auf einer Skala von 0 bis 100 Prozent und erkennt große Unterschiede zwischen den einzelnen Personen. Bei manchen liegt der Wert bei null. Wenn diese Personen sich zum ersten Mal mit jemandem unterhalten, haben sie keine Ahnung, was ihr Gegenüber tatsächlich denkt. Manche hingegen können andere Menschen ziemlich gut einschätzen und erreichen etwa 55 Prozent. (Problematisch dabei ist, dass diejenigen, die andere schlecht einschätzen können, sich für genauso gut halten wie diejenigen, denen das ziemlich gut gelingt.) Interessanterweise stellt Ickes fest, dass sich Ehepaare gegenseitig immer schlechter lesen können, je länger sie verheiratet sind. Sie haben eine frühe Version ihres Partners oder ihrer Partnerin verinnerlicht, an der sie auch nach vielen Jahren noch festhalten, obwohl der Mensch sich verändert hat. Das hat zur Folge, dass sie immer weniger Bescheid wissen, was im Herzen und im Kopf des anderen tatsächlich vor sich geht.

    Man braucht keine wissenschaftliche Studie, um zu erkennen, dass das stimmt. Wie oft hatten Sie schon das Gefühl, dass man Sie in eine bestimmte Schublade steckt? Wie oft haben Sie sich vorverurteilt, unsichtbar, missverstanden oder falsch wahrgenommen gefühlt? Glauben Sie wirklich, dass Sie nicht tagtäglich genau dasselbe mit anderen machen?

    Dieses Buch soll dazu beitragen, dass es uns besser gelingt, andere zu sehen und ihnen das Gefühl zu vermitteln, gesehen, gehört und verstanden zu werden. Zu Beginn meiner Recherchen zu diesem Thema hatte ich keine Ahnung, welche Fähigkeiten dazu nötig sind. Aber ich wusste, dass sich außergewöhnliche Menschen in vielen Fachbereichen diese Fähigkeiten selbst beigebracht hatten. Psycholog:innen sind darin geschult, jene Mechanismen zu erkennen, mit denen sich Menschen vor ihren tiefsten Ängsten schützen. Schauspieler:innen können die wesentlichen Eigenschaften einer Figur erfassen und sich beibringen, wie sie diese Rolle verkörpern. Biograf:innen können die Widersprüche in einer Person wahrnehmen und dennoch ihr Leben als Ganzes betrachten. Lehrer:innen können Potenziale entdecken. Erfahrene Talkshow- und Podcast-Moderator:innen wissen, wie sie ihre Gäste dazu bringen, sich zu öffnen und ihr wahres Ich zu zeigen. Es gibt so viele Berufe, in denen es wichtig ist, Menschen zu sehen, sie zu erfassen und zu verstehen: in der Pflege, in der Seelsorge, im Management, in der Sozialarbeit, im Marketing, im Journalismus, in Redaktionen, im Personalwesen und in vielen anderen Bereichen. Mein Ziel war es, das Wissen, das über diese verschiedenen Berufe verstreut ist, zu sammeln und zu einem einzigen praktischen Ansatz zu bündeln.

    Also habe ich mich auf eine Reise zu mehr Verständnis begeben, eine Reise, auf der noch ein langer, langer Weg vor mir liegt. Mit der Zeit wurde mir klar, dass man nicht nur bestimmte Techniken beherrschen muss, um andere tiefgehend zu kennen und zu verstehen, sondern dass es sich dabei um eine Lebenseinstellung handelt. Es ist vergleichbar mit der Schauspielerei: Wenn Darstellende auf der Bühne stehen, denken sie nicht an die Techniken, die sie auf der Schauspielschule gelernt haben, sie haben diese Techniken vielmehr so sehr verinnerlicht, dass sie ihnen in Fleisch und Blut übergegangen sind. Ich hoffe, dass dieses Buch Ihnen dabei helfen wird, Ihren Mitmenschen gegenüber anders aufzutreten, anders mit ihnen umzugehen, anders wichtige Gespräche zu führen. Auf diese Art zu leben kann sehr befriedigend sein.

    Vor nicht allzu langer Zeit saß ich im Esszimmer und las ein langweiliges Buch, als ich bemerkte, dass meine Frau in der Eingangstür zu unserem Haus stand. Die Tür war offen, das spätnachmittägliche Licht strömte herein. Meine Frau war mit den Gedanken ganz woanders, doch ihr Blick

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