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Anderes kenne ich nicht
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eBook195 Seiten3 Stunden

Anderes kenne ich nicht

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Über dieses E-Book

Es gibt keinen Ort, der universeller ist als das kleinste Dorf:
Lea ist 19 Jahre alt, hat ein Brennen im Bauch und ihr ganzes Leben in einem Dorf verbracht. Einem Dorf mit vier Straßen, einer Kirche, einem Lebensmittelladen und einem Wald, den sie nie durchquert hat. Im Schatten sitzend, sieht sie einen Mann auftauchen, der seinen Hund verloren hat, und in der Zeit, die sie für eine Zigarette braucht, erzählt sie ihm, warum die Welt gestern unterging. – Lea hat eine Schwester mit einem leeren Kopf, eine Mutter, die ebenfalls Lea heißt, und einen Vater, der nur weiß, wie man auf dem Feld arbeitet. Sie hat Javier, der nicht weiß, wie man über Liebe spricht, Catalina, ihre beste Freundin, die weint und weint und weint, und sie hat Marco, der ihr Geschenke auf der Fußmatte hinterlässt. Lea hat einen ländlichen Blick und ist Fremden gegenüber misstrauisch. Lea weiß nichts über andere Dinge, aber was sie weiß, kann sie überall gebrauchen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum10. Okt. 2022
ISBN9783986970147
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    Buchvorschau

    Anderes kenne ich nicht - Elisa Levi

    ICH GING DEN STEINPFAD HINUNTER

    Es ist wirklich sehr warm für Januar, aber Sie haben ja keine Ahnung, wie warm es letzten März hier bei uns war, sage ich zu dem Herrn. Außerdem brachte uns das Jahr 2012 keinen Regen, und die Sonne schlug wie ein böser Mann auf uns ein. Wir Jungen sind hier im Dorf nur zu viert: Javier, Catalina, Marco und ich. Und weil wir so alleine sind, verbringen wir fast unser ganzes Leben zusammen. Außerdem ist da natürlich noch Nora, Señor, meine Schwester ist auch jung, aber sie zählt nicht, nein, sie nicht. Dass wir in diesem Dorf geboren sind, macht, dass wir zusammenhalten, ich weiß nicht genau, worin, Señor, aber ich denke mal, einfach nur im Dasein. Hier ist nicht viel los, wissen Sie, man kann praktisch nirgendwo hingehen, und alle wissen, wenn du nicht hier bist, bist du dort. Deshalb rauchen wir so gern Marcos Gras, Señor, weil sich dann jeder in den Bildern in seinem eigenen Kopf verliert, selbst wenn wir vier zusammen sind, wenn wir uns im selben Raum befinden, am selben Tisch sitzen, und dort findet uns keiner, und wir selbst finden uns auch nicht.

    Marco ist wie eine Bergeiche, mit einem kräftigen, breiten Stamm und brutal und rücksichtslos vorstoßenden Wurzeln, so ist Marco, Señor. Javier dagegen ist eher wie ein Erdbeerbaum, ein Bäumchen, fast so klein wie ein Strauch, aber mit Früchten, die rötlich sind wie seine von der Sonne geröteten Wangen oder von der Hitze gebräunten Schultern. Meine Mutter sagt immer, in der Hauptstadt hätten sie die Erdbeerbäume für sich entdeckt, aber in Wirklichkeit wachsen dort nur wenige, weil sie das Klima nicht vertragen. Und auch das hat mich immer an Javier erinnert, Señor, der könnte in einem fremden Klima auch nicht überleben, selbst wenn ich ihn noch so gerne woanders mit hinnehmen würde. Catalina ist wie eine Mimose. Eine verkrüppelte Mimose, der ein Ast fehlt oder die eine verdrehte Wurzel hat, so dass sie ganz krumm und schief wächst. Arme Catalina, Señor, seit sie sich einmal ihr Bein verbrannt hat, hat sie eine leuchtend rote Narbe, die aussieht wie ein runzeliger Stein, und hinkt. Deshalb will sie sich unbedingt operieren lassen. Ich habe ihr schon oft gesagt, dass sie das mit der Operation vergessen kann, dass da nichts zu machen ist. Aber sie spart und spart, und wenn sie weiter so sparsam lebt, kann sie das ganze Dorf kaufen, bevor sie dreißig ist. Meine Schwester, Señor, meine Schwester ist eine ganz eigene Pflanzenart, mit nichts vergleichbar. Alte Leute gibt es in diesem Dorf dagegen jede Menge, und das, obwohl wir nicht mal zweihundert Bewohner sind. Was uns hier fehlt, was wir nicht kennen, das ist, dass Leute von außerhalb hierher kommen und bleiben. Das kennen wir hier kaum, und deshalb fing mein Magen wieder an zu brennen, als die Märzhitze auf meinen Kopf eindrosch und Catalina mir das von Jimenas Haus erzählte, so wie er gebrannt hatte, als meine Mutter mir das vom Ende der Welt erzählte.

    Ich ging den Steinpfad hinunter, als mir Catalina entgegenkam. Sie haben Jimenas Haus verkauft, sagte sie. Jimena war meine Großmutter, Señor, aber meine Mutter wollte nie etwas mit ihr zu tun haben, sie nannte sie nur »diese Frau«, und als sie starb, weigerte sich meine Mutter, das Haus zu übernehmen, und so wurde es zum Eigentum des ganzen Dorfes. Ich habe meine Großmutter nie »Großmutter« genannt. Aber Jimena hat mich geliebt. Die Große Lea mochte sie nicht, aber die Kleine Lea sehr wohl, deshalb brachte sie mir Blumen an die Schulbushaltestelle. Manchmal stellte sie dort morgens Blumen für mich hin. Anfangs haben Javier, Marco und Catalina gelacht und gesagt, die kämen von einem alten Verehrer. Aber ich wusste, dass sie von Jimena waren, weil Jimena mich liebte und diese Blumen an ihrem Fenster hingen. Ich habe ihr dafür Obst aus dem Laden vor die Tür gestellt, und wenn meine Mutter mich dabei erwischte, sagte sie: »Hoffen und Harren hält manchen zum Narren«, und ich entgegnete: »Wer andern Gutes tut, dem geht es selber gut.«

    »Und wer hat das Haus verkauft, wenn es dem ganzen Dorf gehört?«, fragte ich Catalina, »wer bekommt das Geld dafür?« »Ich denke, Pueblo Grande«, sagte sie. Wissen Sie, wenn ich Gemeindevorsteherin wäre, dann wäre Jimenas Haus jetzt eine Ambulanz. Ich sagte Ihnen ja schon, mein Kopf ist das Beste an mir. »Ich habe gehört, dass es Leute aus der Stadt gekauft haben«, erzählte mir Catalina. »Du bist dumm, wer soll denn in dieses Dorf kommen, wenn sie in der Stadt das Meer haben?« »Nein, nein«, sagte Catalina, »die sind nicht hier aus der Gegend, die kommen aus Zentralspanien, aus Madrid, und sie haben genug von der Stadt und wollen Felder und Wald.« »Den Wald wollen sie nur, weil sie ihn noch nie aus der Nähe gesehen haben«, sagte ich zu Catalina.

    Wenn ich hier im Dorf das Sagen hätte, würde ich Schilder aufstellen, Señor, Tafeln, riesige Stellwände, auf denen steht: »Hier findet ihr nicht, was ihr sucht.« Die Leute wissen das nicht, aber die kleinen Dörfer stinken nach Kuhmist und nach Haufen von toten Tieren und nach Angst und Groll und Langeweile und Schmerzen und Hass, die von Generation zu Generation weitervererbt werden. Und Fremde kommen nur, weil sie sich in eine merkwürdige Idee vom Leben auf dem Land verliebt haben, das in Wirklichkeit nichts anderes ist als Leere und endlos lange Stunden.

    Catalina sagte: »Sie malt, und er will eine Käserei aufmachen.« »Wieso denn eine Käserei, wir haben hier doch schon genug Käse«, erwiderte ich. »Denen ist egal, was wir hier haben, außerdem haben sie einen kleinen Jungen.« »Wie klein?« »Fünf oder drei, keine Ahnung.« »Der wird sich hier langweilen«, sagte ich und dann: »Was wollen die hier?« »Das gleiche wie du und ich, Lea«, sagte Catalina, »leben.« Leben, sagte sie. Leben. Und da fing das Brennen in meinen Eingeweiden wieder an, und ich spürte, wie mir die Wut bis in die Kehle stieg.

    Anderes kenne ich nicht, Señor, aber eines weiß ich, nämlich dass das, was jemand kauft, zuerst einmal verkauft werden muss. Und an Jimenas Haus hatte kein Schild zu verkaufen gehangen. Wissen Sie, ich war unfassbar wütend, weil meine Großmutter in diesem Haus so schrecklich einsam gewesen war. Ich weiß nicht, warum sie in all der Zeit kaum aus dem Haus ging, warum sie es fast zwanzig Jahre nur einmal in der Woche verließ, um einzukaufen und mir Blumen hinzustellen. Und sie hat immer nur wenig gekauft, weil sie so dünn war, dass man sie von der Seite glatt übersehen konnte. Meine Großmutter starb im Bett, allein, und die Totenwache hielten die Nachbarinnen, weil meine Mutter sich nie mit ihr ausgesöhnt hatte. Ich weiß nicht, was so Unverzeihliches zwischen ihnen vorgefallen ist, aber das ist mir egal, denn auch wenn in den Dörfern der Hass vererbt wird wie die Kühe oder die Geschäfte, habe ich von diesem Hass nichts geerbt. Jimenas Haus ist mit Abstand das größte im Dorf. Als sie frisch verheiratet war und an ihre Zukunft dachte, stellte sie sich vor, dass sie einmal viele Kinder und viele Enkel haben würde, aber dann hat ihr das Leben nur eine Tochter und einen früh verstorbenen Mann geschenkt, und so blieb sie allein und verbrachte ihre Tage in einem zu großen Haus in einem zu kleinen Dorf. Mein Großvater hat sie nur ein einziges Mal mit an den Strand genommen, können Sie sich das vorstellen? In ihrem ganzen Leben hat Jimena nur fünf Mal das Meer gesehen. »Wie traurig, Mama«, sagte ich zu meiner Mutter, »da wohnt man schon so nah am Wasser, und sieht immer nur den Wald.« Und meine Mutter antwortete: »Was man nicht sieht, das existiert auch nicht, Lea.« Meine Mutter hörte auf, meine Großmutter zu sehen, und meine Großmutter hörte auf, zu existieren. Wäre das jetzt passiert, würde ich Jimena ins Auto packen und mit ihr ans Meer fahren, und dort würde ich uns mit meinem Geld in einer Pension mit Liegestühlen am Strand einquartieren. Aber ich war noch zu klein, als es

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