Die Pappenheims: Aus den Tagebüchern einer Berliner Familie 1910–1920: Friedrich Fröbel, Maria Montessori: Revolutionäre Ideen von Kindheit
Von Rengha Rodewill und Erna Pappenheim
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Über dieses E-Book
Eine christliche Familie jüdischer Herkunft zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Berlin. Der Gymnasialprofessor Karl Pappenheim und seine Frau Erna bewohnen die Beletage in der Söhtstraße 1 in Gross-Lichterfelde, heute: Berlin-Lichterfelde. Der Sohn Hans wird 1908 geboren und Erna Pappenheim beginnt die täglichen Ereignisse in ihrem Tagebuch niederzuschreiben. Das sind u. a. Erlebnisse während der Sommerfrische in Krummhübel, i. Riesengebirge, heute: Karpacz (Polen). Man trifft sich dort mit der Berliner Freundin der Familie, der Komponistin und Pianistin der Spätromantik, Anna Teichmüller, die einen größten Teil ihres Lebens in der von Carl und Gerhart Hauptmann um 1890 gegründeten Künstlerkolonie im benachbarten Schreiberhau, heute: Szklarska Poręba verbringt. 1911 werden die Zwillinge Inge und Ursel geboren und Erna Pappenheim beobachtet und beschreibt die Entwicklung ihrer Kinder. Sie ist sehr vertraut mit dem Verhalten von Mädchen und Jungen, denn der Schwiegervater, der Fröbel Pädagoge Dr. Eugen Pappenheim hat sein Engagement für die »Fröbelbewegung« an seine Töchter Anna und Gertrud weitergegeben. Herausragend war Tochter Anna, die zum Kreis der Pädagoginnen zählte, die Kindergärten gründete und leitete. Als Clara Grunwald, Initiatorin und Protagonistin der Montessori-Bewegung in Berlin, die Dottoressa Maria Montessori für einen Vortrag 1922 nach Berlin einlädt, werden Gertrud Pappenheim und ihre Schwester Anna Wiener-Pappenheim, vermutlich Maria Montessori auch getroffen haben.
Erna Pappenheims Tagebücher sind ein bemerkenswertes Dokument aus der Zeit des Berliner Bürgertums zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wir erfahren auch von der katastrophalen Ernährungssituation der Zivilbevölkerung im »Hungerwinter« 1916/17, die selbst im Großbürgertum als äußerst schmerzhaft empfunden wurde. Neben den Aufzeichnungen sehen wir private Fotografien der Familie aus Gross-Lichterfelde, den Ferien in Krummhübel und Längenfeld im Ötztal in Tirol.
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Buchvorschau
Die Pappenheims - Rengha Rodewill
Tagebuch Erna Pappenheim
Gross-Lichterfelde
Erna Pappenheim »Aus dem Tagebuch vorlesend«, Bleistiftzeichnung, 1916
18. Mai 1910
Hansl schlüpfte unter das Deck u. schaut wieder vor und erklärt: »Ich gehe unter – ich bin die Sonne.« Von sich sagt er, »Hansl ist ein kleiner Junge.« Durch unsere Beeinflussung allerdings hängt H. mit Vorliebe allen Wörtern ein »l« an (Hundl, Sterndl). Sein naturwissenschaftliches, botanisches Interesse ist sehr ausgeprägt. Tausendschönchen, die er vom Balkon kennt, entdeckt er auf der Strasse und macht mich aufmerksam: »Mutti da ist ein Schönchen und 1000 Schönchen.« Gänseblümchen sind ihm von der Wiese her bekannt, ebenso erkennt er Maiglöckchen wieder und fragt, ob sie ebenso schön riechen wie auf dem Balkon und im Schulgarten. Die Schneeglöckchen im Frühjahr erregen stets seine Bewunderung, wie auch die Veilchen, die er jedesmal eifrig im Garten suchte und die er, wenn er nicht zärtlich veranlagt war eine Veile nannte, dann sparte er sich das chen. Hansl ist ein ganz modernes Kind, er telefoniert mit seinen Grosseltern und spielt telefonieren, indem er seine gewölbte Hand an das Ohr legt und in irgendeine Zimmerecke hineinruft, wo er ein ausgedachtes Telefongespräch führt: »und ’n Tag Ida, - wo ist Ahnst (Ernst) - Da. - ja.« und »Tag Ahnst. Geht es dir gut? – Hast du Durst? Ich habe hier in die Hand ein feiner Beihicht (Bleistift). Hast du auch ein kleines Messer – Grüße schön Ida - Ida, komm ½ 4 Kaffee - Adiö - adia - Auf Winzehn (Auf Wiedersehen). Barf ich nudeln?« Darf ich abklingeln? soll das heissen. Hansl hört gern Erzählen, ganz gleich ist ihm, was er zu hören bekommt; ob er es schon öfter erzählt bekam oder es miterlebt hat und doch ist man manchmal um Stoff verlegen. Da bringt er mich oft selbst mit seinen Wünschen auf gute Gedanken, wie er mich z. B. neulich beim Spargel schälen bat: »erzähl mir von den Spargel« und darauf erfolgte eine feine Spargelgeschichte die vom kleinen Spargelinen im Winter in der Erde, vom 1. Sonnenschein, vom neugierigen Spargelkopf, vom Spargelstechen, von den Bauersfrauen, von Spargels Eisenbahnfahrt und von Frau Schulze auf dem Markt erzählte, bis zuletzt eine Dame die Spargel kaufte. Da der Schmerz über das Ende der schönen Geschichte so gross war, hat Frau Schulze der Dame, rasch noch mal die ganze Sache erzählt. So ist das Gemüseputzen für Hansl eine fröhliche Stunde und wenn’s auch mal keine Geschichte gibt, dann finden wir soviel anderes Feines. Da darf der Junge helfen, er darf auch das geputzte Gemüse in den Gemüseeimer tun oder bis Mutter sie braucht, von den Kohlrabis einen Garten bauen, doch die schönste Aufgabe ist Bohnen brechen. Auch anderswo weiss er sich nützlich zu machen. Durch ihn verursachte Unordnung muss er beseitigen, was er meist als selbstverständlich tut. Von nun an hat Hansl ein fröhliches Amt, nämlich Blumengiessen. Das ist der Glanzpunkt des Tages, der von Mutter leider immer noch nicht lange genug ausgedehnt wird. Hansl nimmt sein Amt sehr ernst. Des Morgens ist seine erste Behauptung: »meine Blümchen haben Durst.« Beim Begiessen versichert er mir immer wieder: »Mutti, ich giesse auch den Pursichbaum« (ein Pfirsichbaum den ich mir vor drei Jahren gepflanzt habe). Mit besonderer Liebe behandelt er seine 3 kleinen Blumentöpfchen, mit Teppichbeetpflanzen, die haben schon schwer unter seiner Liebe gelitten. Im Garten kommt sich Hansl als ganz grosser Mensch vor, wenn Vater den Wasserhahn aufdreht und der Hansl mit dem grossen Schlauch gerade wie der Spritzenmann oder Spritzenfrau (wie H. sie nennt) die vorne im Garten sind, die Blumen sprengen darf. Doch wenn Hansl dann nachher nach hause kommt, braucht er mir kaum erzählen, wo er war und was er getan hat, davon zeugen schon seine Kleider, so nass sind die, und ein neues Paar gelbe Sandalen haben wir ganz verdorben dabei. Nun der Streit über Mutters Verwunderung war bald vergessen, denn dafür ist das Wasserspiel viel zu schön. Neulich sagt er: »Mutter ich feue mich (er freut sich) bald ist Sonntag und denn kommt Onkel Alfek und Tante Alfek, nein mit Tante Alfek – (Tante Anna heisst es) – Man schnell alles sauber machen.« Wenn unten die Haustür klingelt, rafft er all seine Spielsachen zusammen u. ruft: »au wei jetzt kommt einer, schnell Ordnung machen.« Und wenn’s auch allerlei gibt, was er als seine Pflichten gegen die Mitmenschen erkennt, scheint’s ihm doch recht gut bei uns zu gefallen; denn neulich sagt er beim Spinatverlesen zu mir: »Ach is schön bei Mutti.« Das Spazierengehen auf der Strasse, mag es noch so langweilig sein, viel Interessantes erleben wir doch dort; z.B. da gehen wir eben noch in der Sonne, plötzlich ist um uns herum alles dunkel, das fällt dem Hansl auf, aber er hat sich auch nicht lange zu besinnen, wie das gekommen ist. Er antwortet: »Das ist weil der Baum da so gross ist.« Einmal stehe ich in der Sonne, da ruft er ganz erfreut: »ach gucke doch, Mutti ist sonnig.« Auf dem Loggiatisch werfen die Vergissmeinnicht Schatten, es waren wunderhübsche Silhouetten; auf meine Frage, wer die schwarzen Blümchen auf den Tisch gelegt hat, antwortet er: »na die Sonne.« Wir gehen wiedermal spazieren da begegnet uns ein Spreng- oder Wasserwagen, als wir ihn nicht mehr sahen fragt er: »Wo ist bloss der Wasserwagen? Ach ich weiss schon, immer weiterfahren ganz hinten nach Bahnhof West, wo man nach Grunewald fahrt« (In der Richtung war es ganz recht). Als wir den Strassendamm gehen sagt er: »Jetzt gehen wir über den Dampf.« Mit Vorliebe gebraucht Hansl das Fürwort »man«. Darf man da hinsetzen?
Original-Küchenausstattung der Pappenheims aus der Söhtstraße 1 mit dem Kochbuch »Das ABC der Küche« von Hedwig Heyl; Widmung: »Meiner lieben Erna 20. Nov. 06«
10. Juni 1910
Musik und Reim machen ihm Freude. Lange Zeit hat er das Klavierstimmen nachgeahmt. Auf dem Klavier tippt er überhaupt zu gern herum und freut sich, wenn er bekannte Töne trifft. Neulich läuft er barfuß umher, setzt sich ans Klavier und als er mit den Händen ein paar Töne gespielt, ruft er triumphierend: »Ich kann schon barfuss Mumik spielen!« Er singt Folgendes, anfangs recht gesungen, zuletzt geht’s in Sprechen über: »Schlaf Kindl schlaf, da daussen stehn fei Schaf. Ein fazes und ein weisses und wenn das Kind nicht schlafen will, dann wird es wieder munter.« So lautet sein Text. Da hat er 2 Liedertexte zusammengeworfen, aber der Inhalt war ihm jedenfalls ganz aus der Seele gesprochen, denn Schlafen gehört ja zu den bösesten Dingen auf der Welt, ebenso das Waschen. In heissen Tagen haben wir auf der Loggia gebraust, um das Waschen zu ersparen, aber selbst das passte ihm nicht. »Aber nicht spritzen und nicht douchen, lieber waschen, ich weine aber doch.«
Ringstraße 8a Lichterfelde, 2022
Dadurch, dass wir auf dem Balkon die Vögel füttern, kennt der Hansl viele von ihnen. Meise ist ihm ganz geläufig, doch bekommt er sie häufiger zu hören wie zu sehen. Er hat selbst herausgefunden und bezeichnet die Meise die im Schulgarten singt: »hüpüpe hüpüpe.« Krähen sieht er fliegen u. weiß dass sie krah rufen. Spatzen und Grünfinken fressen sich bei uns satt und sind uns gut bekannt, ebenso die Buchfinken. Tauben spazieren auf dem Schulhof umher und jedes Mal ist H. von Neuem enttäuscht, wenn sie plötzlich auffliegen, als er sie gerade greifen wollte. Hühner und Enten haben unsere Freunde Jossmanns¹ in grossen Mengen und das Hübscheste bei solcher Hühnerzucht ist, dass wir die Küken vom 1. Lebenstage an betrachten können. Die Enten haben Hansl immer noch mehr interessiert. Einen Storch kennt er aus dem Zoologischen Garten² und seine langen Beine sind ihm unvergesslich, immer ahmt er auch den Storchengang nach. Einen Zeisig haben wir im Zimmer und er erkennt auch seinen Gesang auf der Strasse von Weitem, wenn dieser auf dem Balkon ist. – Sein Spiel besteht jetzt hauptsächlich aus Sandspiel, Betätigung im Garten: Giessen, Pflanzen, Graben usw. Käfer finden, die er natürlich immer wieder laufen lassen muss. Er ist ganz furchtlos, fasst Tiere jeglicher Art an. Ab und zu wird vielleicht mal ein kleines Weilchen auf dem Balkon gebaut, am ehesten noch in Verbindung mit dem Sandtisch. Das Bilderbuch ist beinahe vergessen. Neulich baute er aus lauter Pfennigstücken eine Eisenbahn. Bei folgender Figur sagt er: »Jetzt macht die Eisenbahn eine Ecke.« Wir haben vergessen zu erzählen, dass uns im Mai ein Maikäfer ins Zimmer geflogen ist, dass hat uns viel Spaß bereitet. Zuletzt haben wir das Fenster aufgemacht und da ist er durch die Luft auf den nächsten Baum geflogen. Das Wort ›Luft‹ gebraucht Hansl oft. Er zeigt um sich herum und sagt: »das ist alles Luft.« Er winkt aus dem Fenster und als ich frage, wem er winkt, antwortet er: »ich winke die Luft.« Mit grosser Treffsicherheit setzt er allen Wörtern die richtigen Artikel z.B. sagt er: der Maikäfer, ein kleiner Maikäfer, ein kleines Maikäferlein, viele, kleine Maikäferlein, nur beim einem Wort (bei Rad) wusste er es nicht richtig, da sagte er, ein Rad und der Rad; weil man meistens von ein Rad redet. Die Geschichte von Maikäfer Fritz hat ihn lange beschäftigt. Der Maikäfer Fritz, der auf dem Baum sass und von den Kindern runtergeschüttelt wurde. In dem dunklen Kasten war’s traurig und er weinte, bis er einschlief usw. Hansl erzählt diese Geschichte nach und zwar folgendermaßen: »Da war mal ein Maikäfer Fritz, der sitzte auf dem Baum und da rumpeln die Kinder und da fällt der Maikäfer Fritz runter und in dunklen Kasten war’s schlecht und Maikäfer Fritz weinte und denn mehmte (nahm) er sich sein Däumchen und denn mehmte er sich seine Locke und denn schlafte er« (H. nimmt nämlich zum Schlafen sein Däumchen u. eine Locke).
Hansl auf dem Balkon Ringstraße, 1910
11. Juni 1910
Wir haben einen Kaffeebesuch bei Frl. Saniter³ gemacht und in der Laube im Garten Kaffee getrunken. Hansl Milch mit Kuchen, wofür er aber wie immer freundlich dankte. Frl. S. war bange, dass er sich bei uns Erwachsenen langweilte. Da war sie aber sehr im Irrtum. Da fand er 1. eine Giesskanne ohne Wasser, an der man aber die Brause abdrehen konnte. Da war an der Gartenpforte ein winziges Schloss, das hatte es ihm angetan. Und nachdem er oben und um sich herum alles angeschaut hatte, durchstöberte er Tisch u. Bänke unterhalb und da gab’s nun erst Herrlichkeiten. Eine Harke uvm. hatte er entdeckt und forderte nun Frl. S. auf: »Tante Saniter, stehe mal eben auf und hole mir die Harke von die Erde auf.« Für eine so hochachtbare Lehrerin eine dreiste Zumutung – Sie aber war von H’s Schlagfertigkeit und Zutraulichkeit ganz begeistert. Nachdem wir im Garten alles ausgekundschaftet hatten, es blieb nichts mehr zum Erörtern, sogar das Gras hat der H. berochen und festgestellt, dass es nicht riecht, gingen wir in die Wohnung hinauf. Eine fremde Wohnung ist ja Kindern immer das Interessanteste. »Tante Saniter wohnst Du hier? Hast Du auch eine Wasserleitung? Ist das hier das Badezimmer? Tante Saniter, ist hier in die kleine Tür dein Toilettchen?« u.a.m. Das Fragen nahm kein Ende. Auf dem Balkon tranken wir Citronenlimonade, wobei ihm die tanzenden Kerne Spass machen. »Tante Saniter warum tanzen die Kerne von Deine Citrone?« Essen sollten wir Bananen u. Cäks. Als Frl. S. ihm die Banane abzog, bat er sehr bestimmt: »Aber bitte nicht das Faule.« Als sie ihm Cäks anbot, sagte er: »nein ich danke, Herr Francke.« Dauernd wollte er Citronenwasser trinken, da ich das nicht leiden wollte, meint Frl. S.: »Das Kind hat doch Durst.« Als ich ihm nach einer Weile das Trinken wieder verweigere, sagt er: »das Kind hat doch Durst. Tante Saniter, guck mal, ich habe eine Ohrmuschel, Du auch? Tante Saniter was hast Du da für Blumen, die kenne ich nicht« (Geranien). Als ihm Frl. S. den Hut aufsetzt, sagt er: »Du hast es da mit den Hut nicht richtig gemacht« (das Gummiband hinter d. Ohren gemacht). Alle seine Bemerkungen waren so sehr niedlich und von ihm selbst gesprochen klingen sie ganz anders als hier banaus niedergeschrieben. Frl. S. ist jedenfalls den ganzen Nachmittag nicht aus dem Lachen herausgekommen und nur sehr gut, dass den Hansl anderer Leute Amusements nicht im mindesten in seiner Unbefangenheit stört. Ein Schalk ist der Hansl. Ich verbiete ihm energisch das Alles – sage zu ihm: »Wer Affe sagt, kriegt einen Klaps.« Nach ein paar Tagen verkündet er ganz laut und unaufgefordert: »Meine Mutti hat gesagt, wer Affe sagt, kriegt ein Bonbon.« Danach schaut er uns alle nacheinander an, um dann seinem Herzen durch kräftiges Lachen Luft zu machen. Solche Ausfälle ignoriert man am besten oder weist seine Dummheit ganz entschieden ab.
»Hansl’s Eisenbahn fährt um die Ecke« 1 Pfennig Kupfer Münzen, Deutsches Kaiserreich (1892).
Hansl hört was von Bratkartoffeln zubereiten und sagt ganz ärgerlich: »Ach nein, nun schon wieder Bratkartoffeln, denn geht ja schon wieder die Sonne unter« (Schlafenszeit). Wir glücklichen Menschen in Lichterfelde sehen nämlich noch Himmel und somit auch den tägl. Weg der Sonne, nachdem wir dann lieber als nach der Uhr, unsere Tätigkeiten bestimmen. »Ich bin so schwer« sagt er, als er lange Zeit in unbequemer Stellung gesessen u. gespielt hatte. H. hat gehört, dass ich zum Zahnarzt war, da kriegt er mich bei der Nase zu packen, reist mir den Mund auf und sagt: »na zeig mal, ist er nu raus?« Als ich mir nun endlich den Zahn habe ausziehen lassen, war er rührend mitfühlend und seine 1. Frage am nächsten Morgen war: »Vati, blutet’s noch, bei Mutti oben am Zahn?« Er hat in letzter Zeit soviel von Zahnarzt und Zahnleiden gehört, dass, als er sich neulich mit einem Löffel gegen den Zahn schlug und wir ihn teilnehmend fragten, welcher Zahn es gewesen wäre, er mit bitter ernster Mine antwortete: »da oben, der pumbierte« (der plombierte).
20. Juni 1910
Hast Du Ahnung, wo der kleine Bleistift ist oder auch hast Du Ahnung, wo die Blumenspritze ist, ist jetzt eine Hauptredensart von ihm. Ich frage Tante Käte [Nagel]: »Was macht bloss der Junge?« Er antwortet vom Balkon her: »er giesst seine Blumen.« Wir haben eine kleine, reizende Katze zu Besuch, schneeweiss ist sie und hat vergissmeinnichtblaue Augen. Hansl’s ganzes Entzücken ist sie und furchtlos ist er ihr gegenüber bis zum Äussersten. Als er sich auf sie legt, frage ich ihn, ob er gar nicht bange ist, da antwortet er: »nein ich fürchte nicht, aber die Katze ist bange.« Als die Katze ihm die Hand leckt, ruft er ganz entzückt: »Ach, die Katze gibt nur einen Handkuss.« Handküsse zu verabreichen ist ihm persönlich nämlich viel lieber als jeder andere Kuss, wie er ja überhaupt für Zärtlichkeiten, verbunden mit Küssen, kaum zu haben ist. Ich muss hier gestehen, er kann noch nicht einmal einen richtigen Kuss geben, was ja kaum zu bereuen ist. Wir wünschen uns nur noch, dass er fremden Leuten gegenüber sich alles Küssen verbittet, wenn die Eltern das tun müssen, hört sich das doppelt so hart an. – Da unsere Katze in unserer Wohnung keinen Platz hat, haben wir sie verschenkt und zwar Lotte Jossmann zum Geburtstag. In einem ausgeputzten Obstkorb mit rosa Bändchen dran haben wir sie gesetzt, ihr selbst ein rosa Band um den Hals gebunden, da sah das Ganze sehr festlich aus und der Jubel über das Geschenk war unbeschreiblich. Als wir neulich alle bei Tisch sitzen, sagt Hans: »wie riecht das hier, hat die Katze was gemacht?« H. schlägt mit einem Stock gegen einen Karton, ich sage, was soll das, da erklärt er mir: »ich buffe den Kasten, das ist ein Bufballon« (der Stock - Bufballon = Luftballon). Bekannte redet er bisher mit Onkel und Tante an. Er beginnt zu unterscheiden und sagt jetzt manchmal »Dame« und »Herr« als Anrede. Mehr als Spass und zu Freunden »gnädige Frau«. H. hat immer schlechten Appetit, trotz des recht mässigen Essens stets gute Laune, viel und festen Schlaf und gute Verdauung. Jetzt kommt es auch öfter vor, dass er die Abendflasche abweist. Als ich sie ihm neulich aufdrängen will, fragt er: »darf ich mir was wünschen?« und ich höre seinen Wunsch an. Er heisst: »Eins, zwei, drei altes Piel (Spiel) is jetzt vorbei«, drauf legt er sich mit Däumchen auf die andere Seite. Dieses Reimlein sage ich oft zu ihm, wenn er schlafen gehen