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Auf Wiedersehen, Kinder!: Ernst Papanek. Revolutionär, Reformpädagoge und Retter jüdischer Kinder
Auf Wiedersehen, Kinder!: Ernst Papanek. Revolutionär, Reformpädagoge und Retter jüdischer Kinder
Auf Wiedersehen, Kinder!: Ernst Papanek. Revolutionär, Reformpädagoge und Retter jüdischer Kinder
eBook466 Seiten5 Stunden

Auf Wiedersehen, Kinder!: Ernst Papanek. Revolutionär, Reformpädagoge und Retter jüdischer Kinder

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Über dieses E-Book

Der junge Wiener Ernst Papanek ist Vollblut-Sozialist, leidenschaftlicher Pädagoge und unerschütterlicher Optimist. Obwohl er nach dem Februaraufstand 1934 nur knapp den Häschern des Dollfuß-Regimes ins Exil entkommt, ändert das nichts an seinem politischen und sozialen Engagement. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges leitet er vier Kinderheime in Montmorency bei Paris für 283 jüdische Flüchtlingskinder aus Deutschland und Österreich. In wenigen Monaten gelingt es ihm, ein beeindruckendes pädagogisches System aufzubauen, das für seine Zeit geradezu revolutionär ist. Er kann die Kinder später in die USA holen und vor dem Holocaust bewahren. In New York verwendet Papanek dieselben pädagogischen Ansätze und leitet
für zehn Jahre eine Schule für straffällige Jugendliche.
Bis heute können wir von seinen für die damalige Zeit ungewöhnlichen und revolutionären Methoden im Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen lernen.

Lilly Maiers große Biografie gibt dem heute beinahe Vergessenen seinen rechtmässigen Platz in der Geschichte zurück.
SpracheDeutsch
HerausgeberMolden Verlag
Erscheinungsdatum19. Jan. 2021
ISBN9783990406144
Auf Wiedersehen, Kinder!: Ernst Papanek. Revolutionär, Reformpädagoge und Retter jüdischer Kinder

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    Buchvorschau

    Auf Wiedersehen, Kinder! - Lilly Maier

    wurde.

    1.

    Vom Kaiser zur Sozialdemokratie

    Wir schreiben das Jahr 1900. Zwei Tage nachdem die Pummerin, die größte Glocke Österreichs, im Stephansdom das 20. Jahrhundert eingeläutet hatte, erschien erstmals die Österreichische Kronen Zeitung. Die Pariser Weltausstellung gab einen Ausblick auf das technokratische neue Zeitalter und begeisterte mit einer Rolltreppe, dem Tonfilm und dem Dieselmotor, während Ferdinand von Zeppelin in Friedrichshafen erste Probeflüge mit dem nach ihm benannten Starrluftschiff unternahm. Die Donaumonarchie wurde seit über fünfzig Jahren mit fester Hand vom frisch verwitweten Kaiser Franz Joseph I. regiert, im Juli sorgte die unstandesgemäße Hochzeit des Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand für einen Adelsskandal. Obwohl der Kaiser als reaktionär galt und mit zunehmendem Unabhängigkeitsstreben der einzelnen Nationalitäten in seinem Vielvölkerreich zu kämpfen hatte, blühte das geistige Leben im Wien des Fin de Siècle. Gustav Klimt malte seine ersten Atterseebilder. Sigmund Freud veröffentlichte sein bahnbrechendes Buch Die Traumdeutung, das Grundlagenwerk der Psychoanalyse. Auf kaiserlichen Erlass hin durften erstmals Frauen studieren und den Doktortitel erhalten.

    In diese Welt wurde Ernst Papanek am 20. August 1900 hineingeboren. Sein Vater Johann Papanek war Ende des 19. Jahrhunderts als Handelsreisender auf der Suche nach einem besseren Leben aus dem südmährischen Bisenz (Bzenec) nach Wien gekommen.⁴ Dort lernte er Rosa Spira kennen, die ebenfalls aus einer mährischen Familie stammte, aber in Wien aufgewachsen war. Das jüdische Paar heiratete am 27. März 1898 in der Synagoge in Wien-Fünfhaus und bekam drei Kinder: Margarethe, Ernst und Olga.⁵

    Eines der wenigen erhaltenen Kinderfotos zeigt die Papanek-Geschwister 1906 beim Posieren im Fotoatelier: Die Mädchen tragen weiße Kleider und Blumen im Haar, Ernst einen Matrosenanzug.

    Bis 1911 lebten die Papaneks in der Gumpendorfer Straße 122 im 6. Bezirk. Ernst besuchte die nahgelegene Volksschule für Knaben in der Rosagasse 8.⁶ In Naturlehre, Geschichte, Geographie sowie im Gesangsunterricht glänzte er, aber mit der »äußerlichen Form der schriftlichen Arbeiten« tat er sich laut Zeugnis schwer. Dann übersiedelte die Familie in eine Wohnung in der Reindorfgasse 17 im 15. Bezirk, einem vierstöckigen Mietshaus neben der Gastwirtschaft »Zum Guten Hirten« und der Pfarrkirche Reindorf zur »Allerheiligsten Dreifaltigkeit«, einem josephinischen Kirchenbau.

    Ernst wuchs in einem kleinbürgerlichen, ärmlichen Elternhaus auf. Sein Vater Johann arbeitete als reisender Händler, Rosa war Schneidergehilfin. Die Papaneks und ihre Vorfahren waren jüdisch, allerdings nahmen sie religiöse Vorschriften und Traditionen wohl nicht sehr streng. So wurde die Geburtsurkunde von Ernst zwar von der Israelitischen Kultusgemeinde ausgestellt, Johann und Rosa ließen ihren Sohn aber nicht beschneiden und gaben ihm auch nicht – wie bei Juden üblich – einen zusätzlichen hebräischen Vornamen.

    Die Papaneks waren also keineswegs fromm, trotzdem gab es eine kurze Phase in Ernsts Kindheit, in der er sich betont jüdisch gab und sogar Rabbiner werden wollte. »Er war jemand, der passionierend über alles war«, erklärte Ernsts Sohn Gus Papanek in amerikanisch-deutschem Sprachmix 1979 in einem Interview.⁷ Wenn Ernst Papanek sich für etwas interessierte, dann immer mit Haut und Haar, dann warf er sich geradezu auf ein Thema. So sollte es mit seinem lebenslangen leidenschaftlichen Einsatz für die Sozialdemokratie sein und so war es bei seiner kurzen »Liebesaffäre« mit dem Judentum.

    Wenn der halbwüchsige Ernst nun am Samstag seine Großeltern mütterlicherseits in ihrer »Trödlerei Spira« besuchte, hatte er ein Problem. Sie schenkten ihm und seinen Schwestern Geld, aber am jüdischen Ruhetag Schabbat durfte man dieses nicht in die Hand nehmen. Also hielt er die Tasche seines Matrosenanzugs weit auf, damit die Großmutter das Geld hineinwerfen konnte, ohne dass er es berühren musste.

    In der Volksschule besuchte Ernst noch den »mosaischen« Religionsunterricht, als Jugendlicher erklärte er sich dann aber für konfessionslos. Zeit seines Lebens blieb er bei dieser Einstellung – als Erwachsener hatte er nur mehr ein sehr rudimentäres Wissen über das Judentum.

    Während seiner Kindheit erlebte Ernst Papanek das letzte Aufblühen der österreichisch-ungarischen Donaumonarchie, dann brachten die Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 schockwellenartige Veränderungen. Papanek war zu diesem Zeitpunkt Schüler am Realgymnasium in der Diefenbachgasse und überzeugter Monarchist. »Der Kaiser war eine herrliche Gestalt für mich«, erinnerte er sich Jahrzehnte später.⁸ Papanek kam aus einer unpolitischen Familie und verstand daher viele Zusammenhänge nicht. Als kleiner Bub las er einmal auf einem Wahlplakat, dass die Sozialdemokratie für das Volk sei. Aber in der Schule hatte er gelernt, dass der Kaiser für das Volk sei. Seine Schlussfolgerung: Der Kaiser war Sozialdemokrat.

    1914 wurde Johann Papanek zum Kriegsdienst einberufen und Ernst begann die Familie mit Gelegenheitsarbeiten finanziell zu unterstützen. Gleichzeitig ließ sich der 14-Jährige von der allgemeinen Kriegsbegeisterung anstecken und trug mit seiner kleinen Schwester Süßigkeiten zu den Zügen, die die Soldaten an die Front brachten.⁹ Seine monarchisch-patriotische Treue zeigt auch ein um die Zeit entstandenes Schulfoto: Papanek als gutaussehender Junge mit aufgewecktem Gesicht, gestrickter Krawatte und einem militärisch anmutenden Kreuzanstecker am Revers.

    Einen ersten Riss bekam Ernst Papaneks Weltbild, als er beobachtete, wie junge Soldaten zu den Klängen des Radetzkymarsches durch die Straßen Wiens marschierten. Nachbarn säumten die Straßen, winkten den Soldaten zu und bewarfen sie mit Blumen. Für einen kurzen Moment trat ein lachender Soldat aus der Reihe, um eine der Blumen aufzuheben, da stürmte ein Feldwebel auf ihn zu und riss ihn brutal in die Formation zurück. Der Soldat verstummte und in seinem Blick spiegelte sich plötzlich all die Todesangst und Vorahnung dessen, was der Krieg noch bringen würde. Die Szene ließ Ernst Papanek ein Leben lang nicht los. Wenige Jahre vor seinem Tod erklärte er, er könne einen ganzen Roman über diesen einen Augenblick schreiben, so sehr wirke er in ihm nach.¹⁰

    Der aufgerüttelte Jugendliche stellte nun erst einmal alles in Frage: den Krieg, den Kaiser, die Politik. Noch allerdings hatte er keinen Ort für seine neuen Überzeugungen. »Ich war mehr Rebell als Revolutionär«, beschrieb Papanek seine Einstellung später, »mehr Anarchist als Sozialist«.¹¹ Klassenkameraden schlugen ihm vor, der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei beizutreten, aber er zögerte. Nach seiner Abkehr vom kaisertreuen Patriotismus fand der idealistische 14-Jährige die Sozialdemokraten nun erst einmal nicht sozial(istisch) genug. Zu viele Kompromisse, zu wenig Interesse am »Lumpenproletariat«, an den Massen an hungernden Menschen auf der Straße, klagte er.¹² Gute zwei Jahre dauerte es, dann beschloss Papanek, dass zu wenig Sozialismus immer noch besser sei als gar keiner und dass auch der größte Idealist auf verlorenem Boden kämpft, wenn er alleine ist. Also trat er 1916 der Sozialistischen Arbeiterjugend Deutschösterreich bei.¹³

    In der fünfjährigen Volksschule schreibt Ernst Papanek gute bis gemischte Noten, für eine Versetzung auf das Realgymnasium reicht es aber.

    Das Parteilokal Rudolfsheim lag nur unweit von seinem Elternhaus entfernt und dort nahm er jetzt regelmäßig an Diskussionsabenden teil. Nur wenige Monate später kam es zu einem für Papanek und die gesamte Bewegung einschneidenden Ereignis: Am 21. Oktober 1916 erschoss der Parteisekretär Friedrich (Fritz) Adler im Wiener Hotel Meißl & Schadn in aller Öffentlichkeit den Ministerpräsidenten Karl Graf Stürgkh.¹⁴

    Stürgkh galt als Kriegstreiber und regierte dank kaiserlicher Verordnungen zunehmend diktatorisch, unter anderem hatte er eine strikte Pressezensur eingeführt. Fritz Adler war der Sohn von Victor Adler, dem Begründer der Sozialdemokratie in Österreich. Er hoffte mit seinem terroristischen Attentat die Massen, vor allem aber auch seine eigene Partei, zur Revolution gegen Kaiserreich und Krieg aufzurütteln. Dabei war der junge Adler keineswegs ein Fanatiker. Der 37-jährige Physiker (der einst seinem guten Freund Albert Einstein zuliebe auf eine Professur verzichtet hatte) galt als großer Humanist, wie Ernst Papanek Jahrzehnte später in einer Vorlesung seinen Studenten erklärte.¹⁵

    Der zutiefst erschütterte Victor Adler versuchte in den Monaten bis zum Prozess, seinen Sohn für geistig unzurechnungsfähig erklären zu lassen. Fritz aber stand zu seiner Tat. Mehr noch als der Mord war es dann seine Verteidigungsrede am 18. und 19. Mai 1917, die die Massen polarisierte und der Weltöffentlichkeit zeigte, dass nicht alle in Österreich-Ungarn den Krieg unterstützten. Historiker bewerten seine Rede heute als »Aufsehen erregende Abrechnung mit dem Verbrechen der Massenvernichtung, mit dem habsburgischen Kriegsabsolutismus und der lethargischen, defätistischen Tolerierungspolitik des sozialdemokratischen Parteivorstandes«.¹⁶

    Fritz Adler hatte damit gerechnet, für den Mord zum Tode verurteilt zu werden. Doch im Anbetracht der weltpolitischen Lage – im November 1916 war nach fast 70-jähriger Regierungszeit der Kaiser gestorben, im Februar 1917 brachte die Revolution in Russland das Ende des Zarenreichs – wurde das Urteil in eine langjährige Haftstrafe abgewandelt. (Kurz vor Kriegsende begnadigte der neue Kaiser Karl I. Fritz Adler dann sogar vollends.).

    Noch immer tobte der Erste Weltkrieg, während die Bevölkerung im nunmehr zweiten Hungerwinter zunehmend unter der Lebensmittelknappheit litt und die Sehnsucht nach Frieden weiter stieg. Krawalle und Proteste kulminierten 1918 im revolutionsartigen Januarstreik. Der 17-jährige Ernst Papanek war inzwischen Mitglied der sozialistischen Mittelschülerbewegung, einer illegalen und linksradikalen Organisation, die vor allem gegen das monarchisch verstaubte Schulsystem protestierte.¹⁷ Um diese Zeit herum wurde er bei Antikriegsdemonstrationen das erste Mal kurzzeitig verhaftet, eine Feuertaufe für junge Sozialisten. Im Oktober 1918 wurde Papanek zum zweiten Mal verhaftet: Er hatte Flugzettel mit dem 14-Punkte-Friedensprogramm des amerikanischen Präsidenten Wilson verteilt. Durch Intervention von Lehrern kam Papanek jedes Mal glimpflich davon.¹⁸ Mit schlimmeren Konsequenzen hatte er dann aber zu rechnen, als er seinen Einberufungsbefehl erhielt.

    Gemeinsam mit einer Reihe junger Männer sollte Ernst Papanek den Soldateneid auf den Kaiser leisten. Doch er weigerte sich. Ja, nicht nur er: Die gesamte Gruppe weigerte sich, für die sich in den letzten Atemzügen befindende Monarchie in den Krieg zu ziehen. Darauf stand die Todesstrafe. Doch im Herbst 1918 hatte niemand großes Interesse daran, eine Gruppe Schüler gesammelt vor ein Standgericht zu stellen. Also schlug man ihnen einen Kompromiss vor: Erklärt euch für verrückt. Wer nicht für Kaiser, Volk und Vaterland sterben will, muss schließlich verrückt sein. Allerdings stand darauf nur ein Aufenthalt in der Psychiatrischen Klinik Steinhof und nicht der Tod. Wieder weigerten sich Papanek und seine Kameraden. Genau wie ihr großes Vorbild Fritz Adler wollten sie eine Gerichtsverhandlung, in der sie öffentlich ihre Ablehnung des Krieges erklären konnten. Mehrere Wochen lang waren die jungen Männer im Gefängnis, während man ihnen immer wieder neue Kompromisse vorschlug. Das ganze Dilemma erledigte sich schließlich auf »natürliche« Art und Weise, als im November 1918 der Krieg zu Ende war und kurz darauf auch die Monarchie unterging.¹⁹

    ***

    »Das sind so Geschichten, die Teil der Familienlegende sind«, erklärte Hanna Papanek 1979 in einem Interview mit dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands.²⁰

    Die Papanek-Schwiegertochter hatte Ernst und ihren späteren Ehemann Gus 1939 als Jugendliche in Frankreich kennengelernt. Hannas Eltern waren deutsche Sozialdemokraten, die wie die Papaneks im Pariser Exil lebten und ihre Tochter in dieselbe sozialistische Jugendgruppe schickten. Dort hörte Hanna zum ersten Mal die »Familienlegenden« rund um Ernst Papaneks viele Verhaftungen, angefangen mit jenen in Wien. »Für mich hat all dies bedeutet, ich stehe im Schatten von Helden«, erzählte sie in dem Interview 1979. »Und das war ja auch so der Sinn, der Wert der politischen Erziehung.«

    Ernst Papanek hat seinen Kindern und Schülern oft Geschichten über seine wilde politische Jugend erzählt. Ob sich all das wirklich so zugetragen hat, lässt sich aus heutiger Sicht nicht einwandfrei beweisen. Die Polizeiakten für das Jahr 1918 sind während des Zweiten Weltkriegs verbrannt und in den vergilbten Registern des Landesgerichts für Strafsachen im Archiv der Stadt Wien finde ich keine Hinweise darauf, dass Ernst Papanek je angeklagt wurde. Auch das Kriegsarchiv im Österreichischen Staatsarchiv verzeichnet zu Papanek keinen Bestand. Es gibt kein »Grundbuchblatt« über ihn, wie es für alle potenziellen Soldaten angelegt wurde, ebenso fehlt sein Name in den überdimensionierten Registerbüchern für den Buchstaben P.²¹

    Als Historikerin wünscht man sich, jeden Abschnitt eines Lebens bis ins letzte Detail belegen zu können. Für Papaneks Biografie ist es aber letztlich unwichtig, ob der 18-jährige Ernst wirklich wochenlang in Haft saß oder ob das Habsburgerreich in den letzten Monaten seiner Existenz andere Probleme hatte, als sich mit ein paar Kriegsdienstverweigerern herumzuschlagen. Und wenn man den (zweifelsfrei dokumentierten) Rest seiner Geschichte kennt, stellt sich die Frage sowieso nicht mehr: Seine jugendlichen Demonstrationen waren noch das Geringste, was Ernst Papanek geleistet hat.

    2.

    Eben mal die Welt retten

    Schon mit 18 Jahren bekommt Ernst Papanek eine prägnante Halbglatze, die ihn wesentlich älter erscheinen lässt. Das Foto links wurde um 1920 aufgenommen, da ist der Student gerade einmal zwanzig Jahre alt. Von Vorteil ist die Glatze, um Papanek in Gruppenfotos zu finden, sei es im Kreis seiner Kollegen (vorletzte Reihe 3. v. r.) …

    … oder in der Landarbeiterjugendschule in Wien (3. Reihe 5. v. r.).

    Die Niederlage im Ersten Weltkrieg bedeutete den Untergang für das Herrscherhaus der Habsburger und ihr Reich an der Donau. Die Monarchie und der Adel wurden abgeschafft, der habsburgische Vielvölkerstaat zerbrach in nicht weniger als sieben Nachfolgestaaten. Vor dem Krieg hatte Wien etwas mehr als zwei Millionen Einwohner gezählt, eine angemessene Größe für die Hauptstadt eines Reiches, in dem 1910 über 51 Millionen Menschen lebten. Nach 1918 gab es immer noch etwa zwei Millionen Wiener, aber Österreich selbst war auf magere 6,5 Millionen Einwohner geschrumpft.²² Nicht ohne Grund nannte man Wien den »Wasserkopf« des Landes.²³

    Österreich war nun eine demokratische Republik mit universellem Wahlrecht. Landesweit regierten in der Zwischenkriegszeit meist die konservativen Christlichsozialen, die Sozialdemokraten machten sich in der Hauptstadt an die Arbeit. »Die bis dahin gewalttätig unterdrückte junge politische Bewegung flammte auf und hat das hervorgebracht, was wir ›Rotes Wien‹ nennen«, schrieb Ernst Papanek später. »Das Rote Wien war nicht nur eine politische Struktur, die von der siegreichen Sozialdemokratischen Partei geschaffen wurde; es gab den Ton für das gesamte Leben der Gemeinschaft und ihrer Individuen an, die begeistert seiner inspirierenden Musik folgten.«²⁴

    Auch Papanek selbst folgte der »inspirierenden Musik« und fing – ohne jegliche Ausbildung – an, sich als Sozialarbeiter und Erzieher zu engagieren. Auslöser war das Bild, das sich dem 18-Jährigen bot, wenn er im nachkriegsgebeutelten Wien spazieren ging: Zehntausende obdachlose, verwahrloste Kriegswaisen versuchten in den Straßen zu überleben. Kurzerhand organisierte Papanek rund 400 Gymnasiasten und Studenten, um den Kindern zu helfen. Er nannte die Gruppe Spielkameraden und man kann sie wohl am besten als eine frühe Mischung aus Parkbetreuung und street work beschreiben: Sie spielten mit den Kindern und verhalfen ihnen mittels Suppenküchen und Heimen zu Nahrung und Unterkunft. Sobald sie das Vertrauen der Kinder gewonnen hatten, versuchten sie deren Energie in freiwillige Arbeitseinsätze zu lenken, die wiederum anderen halfen. Fast zwei Jahre lang leitete Papanek – anfangs als Schüler, später als Student – die Spielkameraden und trat dabei erstmals mit Persönlichkeiten und Organisationen in Kontakt, mit denen er im Lauf seines Lebens immer wieder arbeiten würde. Dazu zählten die Quäker und die bekannte Wiener Sozialreformerin und Philanthropin Dr. Eugenie Schwarzwald.²⁵

    Am 8. Juli 1919 schloss Papanek das Realgymnasium in der Diefenbachgasse mit der Matura ab, im Herbst darauf schrieb er sich an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien ein.²⁶ Der junge Mann besuchte Vorlesungen in Medizin, Pädiatrie und Psychiatrie und lernte bei prominenten Ärzten wie Julius Tandler, bei dem er eine sechsstündige Sezierübung belegte, oder Clemens von Pirquet, einer Koryphäe auf dem Gebiet der Kinderheilkunde. Zwölf Semester lang studierte Papanek Medizin – zumindest theoretisch. In der Praxis war er viel zu sehr damit beschäftigt, »die Welt zu retten«, wie es mehrere Mitglieder seiner Familie übereinstimmend berichteten. Regelmäßig rasselte er durch Prüfungen und glänzte im Hörsaal durch Abwesenheit. Die Spielkameraden, die Politik und sein vielfältiges Engagement für sozialdemokratische Organisationen, all das war Papanek wichtiger, als die lateinischen Namen menschlicher Knochen auswendig zu lernen.

    ***

    »Er studierte nicht wirklich Medizin, er hatte gar keine Zeit«, brachte es Papaneks spätere Ehefrau Lene in ihren unveröffentlichten Memoiren auf den Punkt. »Er tat, was er sein ganzes Leben lang tat: Er musste die Welt retten. Das meine ich ernst. Er hatte einen übertriebenen Sinn für soziale Gerechtigkeit.«²⁷

    Auch wenn das vielleicht etwas überspitzt klingt, Lene meinte die Zuschreibung von Ernst Papanek als Weltretter nicht abschätzig, sondern als größtmögliches Lob. An anderer Stelle schrieb sie: »Er hat nach seinen Werten gelebt: Niemand war so konsequent, so ehrlich, so wahr wie er.«

    Konsequent, unverstellt und so optimistisch, dass es oft an Idealismus grenzte – quer durch die Jahrzehnte wird Papanek von einer Vielzahl von Weggefährten mit ähnlichen Worten beschrieben. »Ernst war die Art von Mensch, der jeden Morgen aufwachte und sich überlegte, wie er heute der Menschheit dienen konnte. Und er fand meistens etwas, weil die Welt immer so dringend in Not war«, erinnerte sich zum Beispiel Claude Brown, ein Schüler Papaneks.

    Samuel Friedman, ein amerikanischer Sozialist, beschrieb seinen Parteigenossen so: »Er war ein Mann ohne Hass, ohne List, ohne Schuld. Und das meine ich, wenn ich ihn als naiv und unschuldig bezeichne. In unserer modernen Welt […] handeln wir auf eine Art und Weise, von der wir glauben, dass sie andere Menschen beeindrucken wird. Ernst Papanek war nicht so. Er sprach die Wahrheit, wie er sie sah.«²⁸

    Nicht nur charakterlich, auch äußerlich veränderte sich Ernst Papanek im Lauf der Jahrzehnte kaum. Schon mit 18 Jahren bekam er eine Halbglatze, die sein Aussehen sein Leben lang prägte. Das ging so weit, dass Ria Kanitz, die Frau des Pädagogen Otto Felix Kanitz, einen Brief an Papanek einmal an die »vielgeliebte Glatze« adressierte.²⁹ Die runden Brillengläser wurden etwas größer, die Hose spannte etwas mehr, aber wer einmal ein Bild von Papanek gesehen hat, hat kein Problem, ihn auch auf einem zwanzig Jahre später gemachten Gruppenfoto zu erkennen.

    Objektiv betrachtet war Ernst Papanek nicht attraktiv. »Er hatte eine Glatze, er war farblos, er war sehr klein«, formulierte es Eve Stwertka, eine entfernte Verwandte, als ich sie im Herbst 2019 interviewte. Dafür zog Papaneks charismatische Art jeden in seinen Bann. So war es auch bei Stwertka: »Er strahlte etwas aus, das dich anzog«, erzählte sie mir.

    Papanek war ein begnadeter Redner und sein idealistischer Optimismus war ansteckend. In jungen Jahren war der Wiener besonders bei den weiblichen Genossinnen in den Jugendgruppen sehr beliebt. Als er einmal ein Ferienlager leitete, bekam er zu seinem Geburtstag acht Holzpuppen geschenkt, die seine acht Freundinnen – oder besser gesagt, seine acht Verehrerinnen – repräsentierten.³⁰

    ***

    Das Ferienlager mit den vielen Verehrerinnen fand 1919 statt und war eine von Dr. Eugenie Schwarzwald organisierte Ferienkolonie. »Fraudoktor«, wie sie allgemein genannt wurde, leitete eine fortschrittliche Mädchenschule in Wien, an der unter anderem Oskar Kokoschka und Arnold Schönberg unterrichteten, und engagierte sich intensiv als Philanthropin.³¹ Sie betrieb eine (von Adolf Loos entworfene) Suppenküche, unterstützte Papaneks Spielkameraden und organisierte 1918 erstmals eine Ferienkolonie, um die Wiener Kriegsjugend aufzupäppeln.³² Im Sommer 1919 wuchs ihre Aktion »Wiener Kinder aufs Land« um eine Reihe weiterer Kolonien, für die »Fraudoktor« mit Jugendorganisationen zusammenarbeitete. Viele Mitglieder der sozialistischen Mittelschülerbewegung nahmen an den Kolonien teil und wurden innerhalb kürzester Zeit selbst als Lehrpersonal rekrutiert. So kam es, dass der erst 19-jährige Ernst Papanek im August 1919 eine Führungsrolle in einer Kolonie für hunderte Arbeiterkinder übernahm.³³ Und diese fand an einem denkbar prächtigen Ort statt: in der leerstehenden Kaiservilla in Bad Ischl.

    Am 26. Juli 1919 vermeldete die Neue Freie Presse, dass Dr. Schwarzwald »durch die Vermittlung des Arbeiterrates Bad Ischl und der Bezirkshauptmannschaft Gmunden von der ehemaligen Erzherzogin Marie Valerie der Kavalierstrakt der Kaiservilla in Ischl zur Verfügung gestellt« wurde.³⁴ Die großräumige Villa musste aber erst einmal instand gesetzt werden. Federführend war hierbei Papanek, der sich als großes Organisationstalent entpuppte. Eine schöne Beschreibung darüber findet sich bei Friedrich Scheu, einem langjährigen Mitarbeiter der Arbeiter-Zeitung: »Ernst Papanek, ein kluger, bebrillter, junger Mann, nahm seine Aufgaben ernst. Er gehörte zu jenen Personen, denen immer jene Arbeiten aufgehalst werden, die viel angestrengte Aufmerksamkeit erfordern und für die man gewöhnlich wenig Ruhm erntet. Unter seiner Leitung ging die Umwandlung der vornehmen Kaiservilla in ein Heim für Arbeiterkinder reibungslos, in aller Stille, vor sich.«³⁵

    Im Jahr darauf leitete Papanek eine weitere Schwarzwald-Kolonie in Kaltenbach, einem Ortsteil von Ischl. Die Teilnehmer waren diesmal ältere und hauptsächlich sozialistische Mittelschüler oder Studenten. Papanek war nicht der einzige junge Mann, der hier den Sommer über Theaterstücke inszenierte und sich später einen Namen machte: Auch (Sir) Karl Popper, der spätere Philosoph und Begründer des Kritischen Rationalismus, war mit von der Partie.

    Die Kolonie war wie jedes Bildungsprojekt Schwarzwalds koedukativ angelegt und das sommerliche Zusammenleben der jungen Männer und Frauen sorgte regelmäßig für Gerede. Ernst Papanek fiel wieder einmal die unleidige Aufgabe zu, für Ordnung zu sorgen. Das zeigt sich auch in einem humoristischen Lied der Ferienkolonie:

    Was kommt denn dort aus Wien?

    Das sind die Schwarzwald-Kolonien.

    Wer stellt sie zur Schau?

    Das ist Sektionschef Schwarzwalds Frau. […]

    Wer kehrt uns fort den Dreck?

    Das ist der Ernstl Papanek.³⁶

    In den folgenden Jahren leitete Papanek immer wieder Ferienkolonien. Von 1919 bis 1920 arbeitete er dann – noch immer ohne formales pädagogisches Training – als Lehrer und für kurze Zeit sogar als Direktor von Schwarzwalds Landeserziehungsheim Harthof am Semmering.³⁷ Zu Weihnachten 1921 rief »Fraudoktor« ein weiteres Hilfsprojekt ins Leben, für das sich der Student Papanek sehr engagierte: die Greisenhilfe der Wiener Jugend. Der Hintergedanke der Greisenhilfe war ähnlich wie bei den Spielkameraden, nur dass es diesmal um verarmte alte Menschen ging. In einem Aufruf der Greisenhilfe appellierten die beteiligten Jugendorganisationen: »Wir können nicht in so eine entsetzliche Welt hineinleben, die Greise verhungern lässt. Diese Welt wird so aussehen, wie wir sie gestalten werden. Wir sind jung und glauben noch daran, dass sie besser werden kann.«³⁸

    In zahlreichen Aktionen sammelten die Jugendlichen Geld und Sachspenden. Papanek, der das »Recherchenbureau« der Greisenhilfe leitete, organisierte Milchpulver, Mehl und Zucker aus skandinavischen Ländern und kümmerte sich um die Verteilung in ganz Wien. Bis Juni 1922 konnten Geldmittel und Waren im Wert von 50 Millionen Kronen aufgebracht werden.³⁹

    Mit seinem humanitären Engagement für Kinder und Alte und seiner Erziehungsarbeit lebte Papanek die sozialdemokratischen Ideale des Roten Wiens. Zwischen 1919 und 1934 verbesserten die roten Reformen das Leben für die Bürger und vor allem die Arbeiter in der Hauptstadt auf beachtliche Art und Weise. Grundlage dafür war die neue österreichische Bundesverfassung, die am 10. November 1920 in Kraft trat und Wien von Niederösterreich löste. Mit neuen Kompetenzen ausgestattet konnte sich das jüngste Bundesland so zahlreichen Problemen widmen. Durch Aktionen wie das kostenlose Säuglingswäschepaket und die Einrichtung von Mutterberatungsstellen gelang es dem »Volksarzt« Julius Tandler zum Beispiel, in nur zwölf Jahren die Säuglingssterblichkeit zu halbieren.⁴⁰ Ein besonderer Fokus des Roten Wiens lag auf der Bildung und dem Erreichen der Jugend: »Wähler zu gewinnen ist nützlich und notwendig«, hatte Parteigründer Victor Adler einst erklärt, »Sozialdemokraten erziehen ist nützlicher und notwendiger.«⁴¹ Auf sein Leben zurückblickend erklärte Papanek Jahrzehnte später: »Wir wurden alle in Richtung Bildung gedrängt. Politik wurde von der österreichischen sozialistischen Partei als Bildungsproblem verstanden«.⁴²

    So wurde der vielbeschäftigte Student Papanek Mitglied im Verband der Sozialistischen Studenten und der Akademischen Legion, einer Studentenvereinigung innerhalb des 1923 gegründeten Republikanischen Schutzbundes. Bereits 1919 trat Papanek der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreich (SDAP) bei und übernahm Funktionärsämter, sowohl in der Sozialistischen Jugend als auch in der SDAP-Ortsgruppe Rudolfsheim. Er leitete Heimabende und Ferienlager für die Kinderfreunde und später auch für die Roten Falken.⁴³

    Für die Sozialistische Bildungszentrale hielt Papanek zahlreiche Vorträge in Wien und im Umland. Er war »Volksbildner«, wie man im Jargon der Zeit sagte, und ein äußerst beliebter dazu. Papanek »wurde einer der populärsten Vortragenden in allen Bezirksveranstaltungen Wiens«, erinnerte sich der Schauspieler und Arzt Richard Berczeller.⁴⁴

    Die jungen Sozialisten sahen sich als das »Bauvolk der kommenden Welt« (später besungen im Lied Die Arbeiter von Wien von Fritz Brügel), ihr Ziel war der »neue Mensch«. Otto Bauer, der unangefochtene Führer der Sozialdemokratie in der Ersten Republik, nannte sie die »Generation der Vollendung«, die Generation, in der der Sozialismus Realität werden würde.⁴⁵ Wenn Ernst Papanek nun in mitreißenden Reden vor Fabrikarbeitern über die Befreiung aus dem Elend sprach, über den Mut und den Auftrag, eine neue, gerechte Welt zu bauen, dann drückte er damit die Hoffnung aus, dass die Zukunft gerade beginne und dass sie alle ein Teil davon seien.

    In seiner politischen Arbeit kam der junge Papanek mit vielen bedeutenden Vertretern der Sozialdemokratie und des Austromarxismus zusammen. Der aus dem Gefängnis entlassene Fritz Adler war für ihn »der hochgeschätzte, heroische und doch freundschaftliche Führer«⁴⁶, wichtiger für die Arbeit in der Jugendbewegung waren jedoch Otto Bauer sowie Otto Felix Kanitz, der Vorsitzende der Sozialistischen Jugend und Begründer der Schönbrunner Schule.

    ***

    Am ersten Tag des Jahres 2020 spaziere ich bei strahlendem Sonnenschein durch den Schönbrunner Schlosspark. Die Enten laufen auf dem zugefrorenen Springbrunnen Schlittschuh, aber für Januar ist das Wetter erstaunlich mild. Von der Rückseite kommend, gehe ich auf das Schloss zu. Ich bin auf der Suche nach dem Kindergarten der Kinderfreunde. Vor ein paar Wochen hat mir Heinz Weiss, langjähriger Geschäftsführer und passionierter Haushistoriker der Wiener Kinderfreunde, erzählt, dass es dort eine kleine Ausstellung über die Schönbrunner Erzieherschule gibt. »Da verirrt sich natürlich fast niemand hin«, klagte Weiss; ich aber will sie mir anschauen.

    Als mit dem Ende der Monarchie das Kaiserschloss Eigentum der Republik wurde, sprach man den sozialdemokratischen Kinderfreunden 84 Räume des gigantischen Baus zu. »Die Erzieher in den Kinderheimen waren in der Monarchie ehemalige Soldaten«, erklärte mir Weiss bei unserem Treffen. »Man kann sich vorstellen, was da für ein Ton geherrscht hat.« Nach 1918 sollten nun die Kinderfreunde die Heime übernehmen. Die jedoch hatten zu wenige Erzieher. »Die wachsen ja nicht am Baum«, ergänzte Weiss lachend. So kam man auf die Idee, in Schönbrunn eine Erzieherschule einzurichten, die in den folgenden Jahren die österreichische Reformpädagogik entscheidend prägen sollte. Direktor wurde der 25-jährige Otto Felix Kanitz, zu den Lehrern gehörten Alfred Adler und Josef Luitpold Stern. Kanitz hatte zuvor in einem aufgelassenen Flüchtlingslager in Gmünd die erste selbstverwaltete »Kinderrepublik« Österreichs geleitet und vertrat die Philosophie, dass Erzieher den Kindern auf Augenhöhe begegnen sollten.

    Die damaligen Räume lagen zentral über den Prunkräumen, um den heutigen Kindergarten samt Ausstellung zu finden, muss ich mich aber ganz schön anstrengen. Am Café Residenz vorbei bis in den zweiten Hof, dann liegt links der Hofküchentrakt, schließlich durch eine unscheinbare Tür und tatsächlich: Neben dem bunt geschmückten Eingangsbereich des Kindergartens hängen Infotafeln mit Fotos über die Schönbrunner Schule. Insgesamt 140 Lehrer wurden hier ausgebildet, sie alle lernten, das Kind und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen. 1923 gründeten Absolventen dann die Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Erzieher und schufen ein beliebtes »Propagandainstrument«: das rote Kasperltheater. Mit über hundert Kasperlbühnen tourten die Kinderfreunde durch die Republik. Die Bösewichte waren damals allerdings nicht das Krokodil oder der Polizist, sondern der Nikotinteufel, die Bierhexe, der Alkoholgeist und am allerschlimmsten: der Kapitalist.

    ***

    Auch Ernst Papanek war Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Erzieher und leitete für die Kinderfreunde ein Tagesheim und Ferienaktionen in der Freudenau. Dabei studierte er ja eigentlich immer noch Medizin. Dass daraus auch nach zwölf Semestern nichts werden würde, war schon die längste Zeit absehbar und so wechselte Papanek im Herbst 1925 an die Philosophische Fakultät.⁴⁷ Zeitgleich inskribierte er sich am Pädagogischen Institut der Stadt Wien. Seit sieben Jahren arbeitete Papanek schon als Erzieher, nun ließ er sich endlich auch ganz offiziell zum Lehrer ausbilden.

    Der »hochschulmäßige Lehrerbildungskurs« entsprach einem Studium und fand in enger Zusammenarbeit mit der Universität statt, wo Papanek Vorlesungen in Psychologie, Philosophie, Geschichte und Soziologie belegte. Das Pädagogische Institut war 1923 von Otto Glöckel zur Umsetzung seiner Wiener Reformen gegründet worden, fast alle Professoren dort stammten aus dem

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