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Die Geschichte von Wilhelm Andere
Die Geschichte von Wilhelm Andere
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eBook404 Seiten4 Stunden

Die Geschichte von Wilhelm Andere

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Über dieses E-Book

Wilhelm Andere wird als sechzehntes und jüngstes Kind einer Bergarbeiter - Familie geboren. Kaum laufen gelernt, wird er in die Tiefen eines Stollen gesteckt. Mit einem Kind gerechten Pickel ausgestattet, hat er tagtäglich aus einem Massiv Kohlebrocken zu hauen. Zu den Strapazen setzen ihm die brutalen Peitschenhiebe des Oberschichtführers von Friedrich zu. Im Alter von fünfzehn ist Wilhelm am ständigen Röcheln und Blut spucken, die Krankensalbung ihm bereits zuteil geworden, als ihn Reimi, sein bester Kumpel, aus dem Haus zerrt. Die Beiden schleppen sich bis nach Rotterdam durch, wo sie ein freundlicher, englischer Frachtkapitän an Bord nimmt. Von Johnny, dem Steuermann erlernt Wilhelm das ABC der Navigation. Der ewig kränkelnde Bergarbeiter - Jungen wandelt sich binnen weniger Jahre zum Bären von einem Mann, dessen Statur am Ende an einen eineinhalbfachen Gewehrschrank erinnert. Die sieben Meere werden zu seinem Zuhause, auf die er eine beachtliche Karriere einschlägt; sogar das Kapitänspatent wird erworben. Nach vielen, vielen Jahren wird von einem seiner Schiffe der Anker auch mal wieder vor Hamburg ausgeworfen. Nicht lange dauert es dagegen, bis ihm mit Marie eine seiner Lieblingsdirnen nahelegt, dass sie ein Kind von ihm erwartet. Wilhelm lässt sich daraufhin weder lumpen noch will er sich der Verantwortung entziehen. Kurzerhand beschließt er, die Seefahrt an den Nagel zu hängen. Bei einer Reederei in den Docks findet er einen stupiden Schreibjob. Doch bevor er ihn überhaupt antreten kann, kommt ihm sein kaiserlicher Namensvetter zuvor. indem er Soldaten aussendet; der Erste Weltkrieg hat begonnen. Schwer verwundet humpelt Wilhelm nach vier Jahren zurück nach Hamburg, wo er Marie im Sterbebett vorfindet. Nach ihrem Tod entscheidet sich der Dank einer üppigen Seemanns - Pension finanziell Unabhängige an den Ort seiner Wiege zurückzukehren. Mit Söhnchen Heinrich an der Hand hat er dort festzustellen, dass sein Elternhaus längst schon von seiner Schwester Isabella übernommen und bewohnt wird. Im Keller entdeckt er ein von ihm seit seiner Kindheit verstecktes Kästchen wieder. Er wird verzaubert. Daraufhin beschließt er, ein Bankhaus zu gründen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten mutiert es sehr rasch zu einem florierenden Unternehmen, und übersteht sogar Drittes Reich und Zweiten Weltkrieg nahezu schadlos. Vom Wirtschaftswunder dann auch noch profitierend, ist der Gealterte des Lebens müßig geworden. Von einem auf den nächsten Tag taucht er unter. Zähneknirschend übernimmt der inzwischen auch nicht mehr ganz junge Heinrich die Bankgeschäfte, die ihm Zeit seines Lebens zuwider sind. Irgendwann findet man ihn zusammengesackt hinter seinem Schreibtisch. Der Führungsstab fällt nun an dessen Sohn Hansi, der wohl mit einer goldenen Nase auf die Welt geraten ist. Auf jeden Fall entwickelt unter dessen Regie das zwar erfolgsverwöhnte, aber eigentlich immer noch sehr provinzielle Bankhaus sich zu einem übermächtigen Weltkonzern der Superlative. Mit Jasmine erwartet zudem seiner Verkaufsleiterinnen ein Kind von ihm. Noch vor der Geburt wird geheiratet. Außerdem ziehen sie in ein Schloss der Superlative....
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum25. Feb. 2017
ISBN9783742795731
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    Buchvorschau

    Die Geschichte von Wilhelm Andere - Tarius Toxditis

    Kleines Vorwort von der Geisterhand

    Hallo, werter Gast, da bin ich wieder. Beziehungsweise Gästin – ach, ja. Und es ist mir ein außerordentliches Vergnügen, sie hier an diesem Ort und an dieser Stelle begrüßen zu dürfen – beziehungsweise eine außerordentliche Plaisir,

    Ich selbst bin die Geisterhand, bin unsichtbar und sehr gewandt – durchaus, durchaus. Normalerweise liege ich auf meiner guten, alten Lauer. Irgendwo vor oder einer Bank. Und ich werde auch gleich wieder zurückkehren – ach, was für eine Plaisir, kann ich nur sagen.

    Zuvor habe ich die Ehre, Ihnen die Geschichte von Wilhelm Andere zu präsentieren – von Wilhelm und seiner entzückenden Urenkelin Tissie. Ach, wirklich eine Plaisir, natürlich, selbstverständlich, ganz klar Ach, und was aus ihnen wohl geworden ist? Nach all den Jahren?

    Die Geschichte entstammt ist Teil des Werks „Hugo Bauklotz – Ein Zaun". Damals nach ihrer Entdeckung ist sie dem ßilberling zu teil geworden. Will damit gesagt worden sein, er wurde mit ihrer Schilderung beauftragt. Und eine kleine Zaubermünze er ist, der kleine ßilberling, Ach, was nur aus Ihnen geworden ist. Manches liegt aber wirklich verdammt lange zurück.

    Ach, ja, genau -  und im nun Vorliegenden haben wir die originale Erzählung aus dem Hauptwerk übernommen. So wie sie der vom ßilberling wiedergegeben hatte – ach, wie lange manches doch wirklich zurückliegt.

    So, das, war´s dann aber auch schon wieder von mir. Zurückziehen werde ich mich nun. Auf meine gute alte Lauer. Nicht ohne Ihnen nun viel Vergnügen zu wünschen mit Wilhelm, mit Tissie und mit dem ßilberling. Plaisir

    Mit freundlichen Grüßen

    Ihre Geisterhand

    Die Geschichte von Wilhelm Andere

    ßilberling Hach, dann will ich mal anfangen. Ja, ja, der gute alte Wilhelm –  zunächst nur das jüngste beziehungsweise sechzehnte Kind einer stinknormalen Bergarbeiterfamilie. Am Freitag, dem ersten April des Jahres 1881 wurde das Licht der Welt erblickt. Allzu viel hatte er davon allerdings zunächst nicht, aber auch rein gar nichts, befördert worden in die Tiefen der Kohlengruben, sobald er auch nur ansatzweise kriechen und krabbeln konnte. 

    Kriechen und Krabbeln war gutgesagt, Kriechen und Krabbeln, eigentlich mehr wie ein passendes Stichwort. Und das von morgens bis abends, in den engen Stollen nämlich, und zumeist hatte er mit den für die winzigen Finger viel zu großen Pickel Brocken und Gestein aus massivsten Wänden zu hauen. Blutblasen und Schürfungen, Blessuren aller Art an allen möglichen und unmöglichen Körperpartien an dem stets für sein Alter viel zu klein geratenen Kerl, zudem wurde dem völlig aus farbloser und hoffnungslos verschmutzter Haut und Knochen Bestehenden von der Arbeitspeitsche des Oberschichtführers Friedel von Friedrich zugesetzt. Dabei spielte es beileibe keine Rolle, ob es sich um ein etwaiges Nachlassen des Arbeitstempos handelte, beziehungsweise Arbeitspensums, oder um Erschöpfungserscheinungen im Allgemeinen, schlicht und ergreifend, welche hin und wieder durch ein gelegentliches Einnicken Ausdruck verliehen wurde. Nicht selten entglitt der Pickel den kaputten Kinderhänden, doch bei all den größeren und kleineren Verfehlungen war ihm das Pflichtgefühl von Friedel von Friedrich gewiss. Mehr wie das, der Schwung mit der Peitsche wurde stets mit Worten des Aufforderns begleitet. Wurde am Ende nicht schließlich vorausgegangen? Vorbildlich? Mit gutem Beispiel?

    Friedel von Friedrich  Beweg endlich deinen faulen Arsch – oder brauchst du mal wieder eine Extraeinladung!

    ßilberling Wenn man gerade in solchen Fällen in Wilhelms hoffnungslos verdrecktem Gesicht überhaupt noch was erkennen konnte, war‘ s ein verlegenes, beinahe schon peinlich berührtes Lächeln.  Die Hiebe wurden ertragen mit einem leisen, leichten Winseln, halbwegs zumindest, kurzem Schlucken, schmerzhaft war es für Ihn zu allem besonders, wenn er mit den von geplatzten Blasen übersäten Handflächen den Stil seines Pickels wieder zu umklammern hatte. 

    Zu Wilhelms Vater, der in einen der Nebenschächte es immerhin zum Hauptschichtführer gebracht hatte, pflegte Friedel von Friedrich ein durchaus kollegiales, freundschaftliches Verhältnis, durchaus, durchaus, was Wilhelm, dem kleinen Jungen alles andere wie zu Gute kam. Ganz im Gegenteil, ganz im Gegenteil, beileibe, oft schüttete von Friedrich beim gemeinsamen Feierabendschoppen sein Herz aus, über den faulen Knirps, demzufolge Wilhelm auch noch vom väterlichen Ledergürtel gemaßregelt wurde.

    Doch irgendwann hatte der viel zu Schmächtige den viel zu vielen Strapazen Tribut zu zollen, so dass er bereits im zarten Alter von sechs von Stadtpfarrer Kühnert gesalbt wurde. Doch gegen alle Erwartungen erholte er sich, von ärztlichen Prognosen ganz zu schweigen, und für wenige Wochen hatte wohl zum ersten Mal in seinem Leben das von der Mutter liebevoll gesäuberte Gesicht so etwas wie Farbe erfahren. Erleichtert konnte er nach dieser Phase der Genesung und Erholung zurück in den Schacht geschickt werden. Und natürlich begrüßte auch Friedel von Friedrich die Wiederkehr freudig, selbst Wilhelms Pickel lag noch immer an der haargenau gleichen Stelle im Stollen, wo er etliche Zeit zuvor Blut und Staub ausgespuckt hatte.

    Doch die erste Schicht nach der Unterbrechung war alsbald mit neuerlichen Verzögerungen verbunden. In der Tat klopfte Wilhelm minutenlang auf einer einzigen Stelle des Massivs vor ihm, ohne das irgendwas nur bröckelte. Bis sich endlich dann doch kleine Sprünge bildeten, kleine Risse, so dass er am Ende auf das Ursächliche der Unnachgiebigkeit stieß. Kleinste Kohleteile fielen nun aus der Wand, bis etwas mehr und mehr hervorschimmerte: ein Blechkästchen war es.

    Wilhelm Andere   Oh!

    ßilberling Noch bevor Wilhelm ein weiteres Mal mit der Wimper zucken konnte, oder mit was Anderem, spürte er von Friedrichs Peitsche auf dem eigentlich endlich einmal einigermaßen ausgeheilten, kleinen Rücken.  

    Friedel von Friedrich   Wilhelm, du faules Miststück, genügt es nicht, dass du dich wochenlang gedrückt hast! 

    ßilberling Völlig ungeachtet vom Oberschichtführer oder einem jeglichen anderen gelang es Wilhelm, das Kästchen aus den Arbeitstiefen des Arbeitsschachts bis in die Keller des elterlichen Bergarbeiterhauses zu schmuggeln, wo es hinter einem lockeren Ziegel zwischen zwei Regalen versteckt werden konnte. Sehr gut sogar, kaum emporgestiegen aus dem Keller wurde er vom Vater über einen geschmackvoll verarbeiteten Stuhl gelegt, um das kindliche Gesäß nach allen Lederregeln der Gürtelkunst zu verdreschen, nach Strich und Faden wohlgemerkt, galt es nicht immerhin, die Trödelei bei der Arbeit zu tadeln? Und das gleich am ersten Tag nach der nahezu absoluten Gesundung, und von welchem einer wie der von Friedrich aufopfernd zu berichten wusste? Vater Andere drosch während dem Akt des Ahndens so sehr ein, so dass der Stuhl samt kleinen Knaben an Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte. Wilhelm kroch hinterher auf allen Vieren, freilich mit einem leicht ins Verlegene neigende Grinsen, freilich, freilich, ein Winseln, ein klein wenig, und fing an zu piepen. Etwas was sich beileibe nicht zum aller ersten Mal abspielte, wenn er windelweich geprügelt worden war. Nicht mehr wie ein Anflug kindlicher Anmut, dazu auch noch in väterlicher Gegenwart, dem dies allerdings genauso viel berührte wie ein irgendwo in China umgefallener Reisbeutel. Wahlweise Mongolei oder Thailand, doch Wilhelm gelang es, sich aufzurappeln. Dann breitete er die Ärmchen aus, und fing an – gleichsam wie ein Vogel – auf – und ab zu schwirren. Oder ein Flugzeug. 

    Wilhelm Andere  Piep! Piep! Piep!

    ßilberling So wie immer verließ der Vater genervt den Raum, so wie immer, nicht ohne das Zuknallen der Türe zu vergessen. Etwas total anderes hatte es freilich mit dem Kästchen auf sich, und in welchem Wilhelm von nun an seine persönlichen Habseligkeiten aufbewahrte: ein halbes DutzendGlasmurmeln, die schimmerten, sobald sie nur ein klein wenig gegen das Licht gehalten wurden; dreischäbige, abgenutzte Würfel sowie die Reststummel einiger Buntstifte. Wesentlicher Bestandteil seiner Sammlung drei zusammengefaltete Zeichnungen, und auf einer hatte er einen übergroßen blauen Vogel gestrichelt, den er einfach nur „Piep nannte. Sowie ein orangefarbener Fisch, der einfach nur „Blubb hieß. 

    Die anderen beiden Bilder hatte er geschenkt bekommen, eine davon von Reimi, seinem Freund, doch handelt es sich hierbei um nicht mehr wie ein hoffnungslos krakeliges Kindergekrakel. Ein wildes in Grün gehaltenes Meer aus Strichen, rauf und runter, hin und her, nicht mehr. Auf einem uralten, hoffnungslos verschrammten Schemel gehockt beschaute Wilhelm das dritte der Bilder, stundenlang, das er von Paula, einem gleichaltrigen Mädchen aus der Nachbarschaft gekriegt hatte. Die Paula mochte er sehr, und sie ihn, auf einem Tisch war ein übergroßer Apfel dargestellt. Eingerahmt von zwei Stühlen, auf einem saß sie selbst, auf dem anderen er. Und während Wilhelm das Bild betrachtete, betrachtete und betrachtete, immer wieder betrachtete, immer und immer wieder, träumte er mit offenen Augen, wie es werden hätte werden können. Wenn sie groß genug und dann heiraten hätten können. Was für ihn so sicher war, wie das Amen in der Kirche. Und alles, was er in der Grube verdiente, würde er dann immer nur ihr geben, so dass sie immer genügend zu essen hätte.

    Nichtsdestotrotz gedieh Wilhelm weiter kärglich heran, und mit fünfzehn spuckte er Staub und Blut wie nie zuvor. Und wieder Mal war es Stadtpfarrer Kühnert, der sich bis vor das Krankenbett begab, in welchem im Laufe der Jahre zwei seiner Brüder auf durchaus vergleichbare Art und Weise eingegangen waren. Zu nachtschlafender Zeit hatte sich Reimi dann bis zu Wilhelm herangeschlichen, ihn aus dem Haus geschleppt, an einem kleinen Fenster gegenüber war Paulas Silhouette zu erkennen.

    In kurzer Zeit hatten sich die Beiden bis nach Rotterdam durchgeschlagen, wo sie vom liebenswürdigen Frachtkapitän Henry Toshack an Bord genommen wurden. Übelkeit waren kein Ausdruck, eine nach der anderen, die ersten Stunden auf See verbrachte Wilhelm mehr an der Reling denn in der Kombüse, wo ihm im Gegensatz zur Grube wenigstens die einen oder anderen Sonnenstrahlen gewiss waren. Beim tagtäglichen Kartoffel schälen. Beziehungsweise Gemüse putzen – hach!

    Abends an Deck jedoch schaute er sehnsüchtig in die Weiten des Atlantiks, entfernte man sich doch mehr und mehr von der Heimat, Stunde für Stunde, ganz traurig blickte er zu den hell erleuchteten Sternen am Firmament auf, und spätestens dann konnten Tränen nicht mehr zurückgehalten werden, wenn Johnny, der Steuermann, die Ziehharmonika zur Hand genommen hatte.

    Johnny, der Steuermann   My Bonnie!

    ßilberling Und Johnny war es unterm Strich auch, von dem Wilhelm das Binden von Seemannsknoten erlernte, ganz zu schweigen von den einen oder anderen Geheimnissen der Navigation, dass Teilen von Tabak und Rum nicht zu vergessen. Zudem wurden ihm und Reimi sogar etwas Schreiben und Lesen beigebracht; ach, was sag ich überhaupt, in den darauffolgenden Jahren entwickelte sich aus dem ewig kränkelnden, stets viel zu blassen Bergarbeiterjungen Wilhelm der Seebär von einem Mann, dessen Gestalt durchaus mit den eines eineinhalbfachen Gewehrschrankes hätte verglichen werden können. Das große und kleine Einmaleins der Seefahrerei angeeignet, jawohl, vom  ABC ganz zu schweigen. Fleiß und Ausdauer waren kein Ausdruck, Zielstrebigkeit und unbändiger Ehrgeiz und Wille, eine Seemanns - Sprosse nach der anderen wurde erklommen, und so war es schließlich alles andere wie ein Wunder, als ihn eines Tages und nach nur wenigen Jahren auf hoher See das Kapitänspatent verliehen wurde. Ja, und längst waren es die sieben Meere, die ihm zur Heimat geworden waren, und stets eilte ihm sein Ruf voraus, in den Häfen überall auf der Welt, in den Kneipen an den Docks, wo in den seltensten Fällen die Nächte einsam verbracht wurden, ganz im Gegenteil. Zu Shantys spielte er mit der Ziehharmonika auf, und etwas Besonderes war es für Wilhelm Anderer, als nach etlicher Zeit auch mal wieder vor Hamburg der Anker von einen seiner Schiffe geworfen wurde. 

    Ja, ja, viele, viele Jahre waren ins Land gegangen, als tatsächlich mal wieder hanseatischer Boden betreten wurde, und sogleich suchte er die von Marie - eine seiner Lieblingsdirnen - betriebene Hafenkneipe auf.  Und umso größer die Wiedersehensfreude, umso kleinlauter stahl Wilhelm Andere am nächsten Morgen sich von ihrer Bettkante hinfort, um sich an den Docks von einem Fischkutter bis nach Liverpool überbringen zu lassen.

    Nachdem man sich vor mittlerweile über einem Jahrzehnt aus den Augen verloren hatte, sahen er und Johnny sich zum ersten Mal wieder. In einem Pub versanken die beiden Seeleute in Nostalgischem. Bei Tabak und Rum.

    Johnny, der Steuermann   Weißt du noch? Damals, im Hafen von Rotterdam?

    ßilberling Von Johnny erfuhr Wilhelm zum Beispiel auch, dass Toshack sein Kapitänsamt längst an den Nagel gehängt und sich zur Ruhe gesetzt hatte.  In den darauffolgenden Tagen und Wochen war kein Lokal vor ihnen sicher, mit oder ohne Ziehharmonika, kein Pub, mit oder ohne Dirnen auf dem Schoß, bis Wilhelm irgendwann dann doch zurück nach Hamburg hatte müssen. An den Docks dort wurde sein nächstes Schiff, welches er nach Buenos Aires überführen sollte, bereits tüchtig beladen.  Doch in der Lieblingskneipe eröffnet ihm Marie andere Umstände, in welchen sie sich befand. 

    Marie   Ach, Wilhelm. Bitte lass mich jetzt nicht im Stich!"

    ßilberling Etwas, was für Wilhelm Andere völlig außer Frage stand. Hoch und heilig versprach er es, er war sowieso nicht unbedingt einer gewesen, der sich von einer jeglichen Verantwortung gedrückt hätte. Und das womöglich auch noch hemmungslos, zudem konnte er locker auf über die Meeresjahre üppig Zurückgelegtes zurückgreifen, um Marie ausreichend Unterstützung zu gewähren – Marie und dem künftigen Kind. Die total unerwarteten Vatervorfreuden hatten in dem Seebären Glücksgefühle der ganzen Art und Weise ausgelöst, so wie er davon in seinem bisherigen Leben bestenfalls geträumt hatte. Zudem mochte er die Marie auch noch, am selben Tag, an welchem er es von ihr erfuhr, gab er bei der Reederei den Kapitänsauftrag nach Argentinien zurück. Schweren Herzens, denn zu sehr war er Seefahrer gewesen – hach. Auf der anderen Seite, mit Leib und Seele, seinem exzellenten Ruf hatte er es schließlich zu verdanken, beziehungsweise außerordentliche Beliebtheit, dass innerhalb der Reederei niemand so richtig böse mit ihm war. Beziehungsweise nachtragend, ganz im Gegenteil, jawohl, auf viel Verständnis stieß er für das persönliche ernst nehmen väterlicher Pflichten. 

    Mitarbeiter der Reederei   Ach, Herr Andere, wenn nur alle Väter so wären!

    ßilberling Ja, ja, jawohl, so war er wirklich, Bewunderung, die ihm entgegen schnappte, und so gewährten sie ihm einen kleinen, stupiden Schreibtischjob in einem der Büros an den Docks. Für die Archivierung von ausrangierten Frachtbriefen und anderen Kram, auf dem Standesamt fungierte Johnny als Trauzeuge. Freilich, freilich, wer sonst auch, und natürlich nutzte man die Gelegenheit für die Nächte zum Tage machen ausgiebig. Und Marie sollte sich mehr wie einmal beschwert haben, weil Wilhelm mehr Zeit mit Johnny verbrachte. Am Stammtisch ihrer Hafenkneipe. Anstatt mit ihr im schmucken Zweizimmerappartement. Die sich oberhalb des Lokales befand, und Wilhelm Andere großzügig und nach Maries Wünschen mit funkelnagelneuen Eichenmöbeln ausstatten ließ. Zum neuen Job kam es allerdings zunächst nicht, denn kaum, dass sich Wilhelm nach Johnnys Verabschiedung aus Hamburg zu Marie zurückbegeben hatte, wedelte sie ein frisch eingetrudeltes Schreiben unter die Nase. Vom Kreiswehrersatzamt wohlgemerkt, denn die Zeit war heran gebrochen, in welcher sein kaiserlicher Namensvetter am Aussenden von Soldaten gewesen war. Natürlich wurde Wilhelm Andere zur Marine herangezogen, selbstverständlich, selbstverständlich, bei einen der ersten Ausritte auf dem nun militärischen Seeweg wurde man von einem englischen Kriegsschiff beschossen. Die Restbestände der Mannschaft irrten tagelang in einem hoffnungslos überladenen Rettungsboot umher, bis sie von einem deutschen Kreuzer aufgefischt werden konnten. Der schwer am Bein verwundete Wilhelm Andere wäre um Haaresbreite verblutet, von irgendeinem Lazarett hinkte er etliche Monate später zurück in den Krieg, wo er von nun an in einer Schreibstube irgendwo an der Westfront dienen durfte. 

    Im Spätherbst des Jahres 1918 dann hinkte Wilhelm Andere dann wieder zurück nach Hamburg. Dort begab er sich zunächst an die Docks, um nach all den Kriegsjahren endlich wieder Seeluft atmen zu können, frei nach dem Motto „Seebär bleibt doch Seebär, selbst wenn man an der Westfront irgendwo in Frankreich am Versauern war – mehr oder minder". Während der Zeit der Waffengänge war es ihm nicht einmal vergönnt gewesen, beziehungsweise gelungen, nach Hause zu kehren. Nicht ein einziges Mal, umso verzückter war Wilhelm Anderer, als er zum ersten Male sein im Kinderbett friedlich schlummerndes Söhnchen Heinrich in Augenschein nehmen konnte. Hingegen schwer erkrankt war Marie, am ständigen Husten, am Röcheln, eine Woche vor Heiligabend fand die Beisetzung statt. Noch am Grabe wurde geschluchzt.

    Maries Mutter  Das arme Kind – was wird jetzt nur aus ihm!"

    ßilberling Bedingt durch Maries Erkrankung war das Lokal unter ihr schon vor etlicher Zeit geschlossen worden, völlig unabhängig von solchen Dingen, beziehungsweise anderen zückte er noch am Abend nach der Beerdigung, und nachdem er Heinrich zu Bette gebracht hatte, die Feder. Und unmittelbar nach den Festtagen erhielt er Antwort, von seiner Schwester Isabella nämlich, und der invalide Wilhelm, der Dank einer üppigen Seemanns - Pension mehr wie ausgesorgt hatte, seine Ersparnisse nicht zu vergessen, zögerte nicht eine Minute, packte die Koffer, nahm das Söhnchen an die Hand, und zerrte es bis zum Bahnhof. Ein gutes Vierteljahrhundert war nun wohl inzwischen verstrichen, als er mit Reimi Reißaus nahm von daheim, ein gutes Vierteljahrhundert, und mit jeder der ihm ehemals so vertrauten Fassade wurde ihm dann schummriger zumute. Und die Knie butterweich und butterweicher, als sich endlich sein Elternhaus vor ihm auftat. Auf der Schwelle warteten bereits vier oder fünf der Schwestern samt Ehemännern und einer nicht unerheblichen Schar von Kindern unterschiedlichster Größe, und nicht nur Isabella, die Älteste von ihnen, war am offenen Schluchzen. 

    Isabella   Sieh da, der kleine Wilhelm – ach, da bist du ja endlich wieder!

    ßilberling So dass sie sich nach fünfundzwanzig Jahren wieder in den Armen lagen, die Schwäger, Neffen und Nichten nicht zu vergessen. Isabella, die gemeinsam mit ihrem Mann das Haus hielt, überließen Wilhelm wieder das alte Jungenzimmer, welches während der Kindheit mit den Brüdern geteilt wurde; und sogar für Heinrich hatte sie ein Bettchen gerichtet. 

    Die anderen Schwestern wohnten in unmittelbarer Nachbarschaft, von den Brüdern lebte nicht ein einziger mehr. Am zweiten Tag des neuen Jahres begab sich Wilhelm dann allein hinter einem kleinen Kirchhof in ihrer Gegend. Einen Küster am Zipfel erwischt, veranlasste der ehemalige Seebär Wilhelm Andere noch am selben Tage, die schlichten Holzkreuze auf dem Grab seiner Eltern gegen einen marmornen Gedenkstein auszutauschen.

    Bereits wenige Wochen nach der Rückkehr an dem Orte seiner Wiege war Wilhelm Andere allerdings des Müßiggangs überdrüssig geworden. Mehr wie das, am Gehstock hinkte er durch die engen Straßen und Gassen seiner Heimat, doch sehnte er sich längst zurück nach den Hafenkneipen. Beziehungsweise der guten, alten Seeluft. Abends wurde ihm indes bei einem guten Glas Rotwein von Isabellas Ehemann in durchaus endlosen Monologen die Vorzüge der Russischen Revolution vorgekaut. In allen noch so langweiligen Einzelheiten wohlgemerkt, und nahezu jedes Mal, wenn er ihr altes Jungenzimmer betrat, hielt er vor dem Kinderbettchen inne: der kleine Heinrich, und wie friedlich er schlummerte. Wilhelm fühlte Glück so nahe wie noch nie zuvor in seinem Leben

    Doch ob gelangweilt oder nicht, irgendwie verging die Zeit dann doch, und Ostern rückte bereits heran, als Isabella ihren wiedergewonnenen Bruder einmal bat, Kartoffeln aus dem Keller zu holen. Ja, und es war tatsächlich das erste Mal seit der Wiederkehr, dass er herabstieg. Mit Feuchtigkeit im Knopfloch rückte er jenen lockeren Ziegel beiseite, das Kästchen schien seit der Flucht vor jenen zweieinhalb Jahrzehnten von einem jeglichen Kellerschmutz verschont geblieben zu sein. Und scheinbar total unberührt geblieben, und noch größer wurde das Staunen von Wilhelm Andere nach dem langsamen Öffnen: die Stifte, die Murmeln, die Würfel – alles unverändert. Lediglich die Zeichnungen hatten an Vergilbung zugenommen, beim Auseinanderfalten von Paulas Zeichnung hätte es Wilhelm beinahe das Herz zerrissen. Isabella hatte unlängst von Paulas Wegzug erzählt, bereits vor dem Kriege. Und was aus ihr schließlich geworden war, wusste eigentlich niemand. Ein Nachbar hatte gemeint, sie wäre im Kloster gelandet, die Zeichnung war indes doch sehr verblasst. Fast genauso wie Piep und Blubb, und umso mehr wunderte sich Wilhelm Andere über das Kindergekrakelte von Reimi, denn das Papier war blütenweiß und glänzte, so als ob es erst gestern dem Kästchen zugeführt worden wäre. Und auch die Farben der grünen Striche, von oben nach unten, hin und her, waren voller und kräftiger denn je. Dem Wilhelm Andere aber war es so, als ob ein winzig kleines vierblättriges Kleeblatt zu ihm empor schwirrte. Von den grünen Strichen der Zeichnung, eines, zwei, drei, die vielen, vielen grünen Striche, immer mehr, Kleeblätter, immer mehr, vier, acht, sechzehn, immer mehr, zwanzig, fünfzig, hundert, mehr, mehr. Gegen Abend wurde er von Isabellas Poltern an der Kartoffelkiste geweckt.

    Isabella „Oh, Wilhelm, kleiner, kleiner Wilhelm. Dass man dich nicht einmal zum Kartoffel holen schicken kann.

    ßilberling Am darauffolgenden Morgen packte Wilhelm Andere die Koffer. 

    Die Reise nach Tinkel.

    ßilberling Obwohl der naserümpfende Schalterbedienstete am Bahnhof aus einem hoffnungslos verstaubten Karton einen hoffnungslos zerfledderten Atlas hervor gezückt hatte, wollte es trotzdem dauern, bis er fündig geworden war. Schließlich konnte er dann aber doch noch einen Preis für Wilhelms Fahrkarte berechnen, frei nach dem Motto „muss nicht wirklich alles seine Ordnung haben, sogar bei der Bahn?" 

    Wilhelm Andere musste mindestens dreimal umsteigen, bis endlich Tinkel erreicht worden war. Am Bahnhof dort konnte die Reise mit einer Droschke fortgesetzt werden. Bald schon hatten sie die kleine Stadt hinter sich gelassen, mit all den Straßen und all den Häusern, nein, über Stock ging‘ s nun, über Stock und Stein. Beziehungsweise über Berg und Tal, bis sie schließlich am Platz vor dem Marktbrunnen des Dorfes Clauhenthal vorfuhren: „Au revoir, Monsieur."

    Noch hörte er das klappernde Galoppieren, eine kühle Böe wehte über den Platz, aus irgendeiner der Gassen das hallende Bellen eines Hundes, aus einer anderen ein verloren wirkendes Krähen. Ein Baby schrie und ein Heuwagen quietschte langsam an ihm vorbei, der mit einem Strohhut bedeckte Kopf des Bauern darauf neigte nach unten, beziehungsweise vorne, und ob der vielleicht sogar ein kleines Nickerchen abhielt? Nein, einen solchen Eindruck konnte man sich nicht erwehren. Aber rein gar nicht; Gerüche stiegen in die Nase, Gerüche von Mist und Dung, vermischt mit dem von würziger Landluft; vor einer Haustür kleine, mit Murmeln spielende Kinder, vor einem Laden ein paar tratschende Bäuerinnen. Dumpf die Glocke des Kirchturms zur zwölften Stunde schlug, wie freundlich in der kleinen Dorfpension ihm der Zimmerschlüssel überlassen wurde.

    Lommel Zu Buderus   Herzlich Willkommen. Und fühlen Sie sich ganz wie zu Hause.

    ßilberling  Abend für Abend lachte er mit, wenn am Stammtisch die Clauhenthaler Bauern einem Witz nach dem anderen zum Besten gaben; von einem von ihnen erfuhr Wilhelm sogar, dass eines der schmucken Häuser am Rande des Dorfes freistand. Gleich am nächsten Morgen machte Wilhelm im Rathaus seine Aufwartung. 

    Bürgermeister Wagner   Ich kann nur davon abraten. Die Clauhenthaler sind sehr eigenwillig.

    ßilberling Natürlich wunderte es Wilhelm sehr, warum ausgerechnet ihr Bürgermeister so etwas über sie erzählte, denn hatte er sie nicht anders kennengelernt? Total anders wohlgemerkt, das Aufnehmen in ihrer Mitte, nein, dies war doch nun wirklich das totale Gegenteil von dem, was Bürgermeister Wagner meinte. Oder hatte der sich lediglich in einem kleinen Dorfscherz geübt? In einem nicht sonderlich guten freilich, aber auf jeden Fall ließ Wilhelm sich von seinem Entschluss nicht mehr abbringen. Mit den Rechten und Freizügigkeiten der zur damaligen Zeit frisch gegründeten Republik warf er ein zusätzliches Argument in die Waagschale, so dass ihm am Ende dann doch noch die Schlüssel für das freie Haus entgegengeschleudert wurden. 

    Bürgermeister Wagner   Na gut, von mir aus, an mir soll‘ s nicht liegen. Aber Sie werden es noch bereuen.

    ßilberling Am ersten Abend, nachdem er Heinrich, sein Söhnchen, nachgeholt hatte, war er tief bewegt, als er auf das Bettchen des Kinderzimmers blickte. Ach, wie friedlich der Kleine doch schlummerte, kurzerhand suchte er den Stammtisch in der Pension auf. Nicht ohne die Ziehharmonika zu vergessen haben. Aus den guten alten Seemannstagen wohlgemerkt, kaum dass er Platz genommen hatte an ihrem Stammtisch, stimmte er an. 

    Wilhelm Andere   Seemann, oh alter Seemann!!

    ßilberling Vom Pensionswirt höchstpersönlich wurde er auf die Straße geprügelt, die Ziehharmonika hinterher geschleudert. 

    Lommel Zu Buderus So ein jämmerliches Gedudel hat uns gerade noch gefehlt.

    ßilberling Und nicht nur die dadurch demolierte Ziehharmonika war es, die mehr wie eine Schramme abgekriegt hatte. Am darauffolgenden Morgen füllte der Händler Bischof, ohne auch nur eine Miene zu verziehen, den Einkaufskorb des einstigen Seefahrers, wortlos wurde das Wechselgeld auf den Teller geklimpert; am Nachmittag wartete er dann zu einem Gespräch im Dorfpfarramt auf. 

    Pfarrer Windik   Die Leute hier sind am Anfang ein klein wenig misstrauisch, aber ich denke, das wird sich noch legen, Gut Ding braucht sein Weilchen, und hier in Clauhenthal ticken die Uhren nun mal ein klein wenig anders,

    ßilberling Mehr angetan wie von den Worten des Pfarrers war Wilhelm von der blutjungen Haushälterin, die Kaffee und Apfelkuchen auftrug. Mit Streuselauflage wohlgemerkt. 

    Unwesentlich besser erging es Heinrich, der in Clauhenthal eingeschult worden war. Von Anfang an war das schmächtige, dünne Bürschchen den Anfeindungen und Hänseleien der Dorfkinder ausgesetzt. Insofern sie ihn nicht gerade nach Strich und Faden verprügelten, stopften sie ihn Dinge wie Dreck oder tote Frösche in den Mund. Selten gab es einen Tag, an welchem er nicht mit zerrissenen Kleidungsstücken nach Hause kam. Oder mit blutiger Nase, einmal gar stürzten sie sich wie wie von wilden Hornissen Gestochene auf ihn, rissen ihm die

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