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Provokation und Politik. Oskar Lafontaine: Eine Biografie
Provokation und Politik. Oskar Lafontaine: Eine Biografie
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eBook294 Seiten4 Stunden

Provokation und Politik. Oskar Lafontaine: Eine Biografie

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Über dieses E-Book

Oskar Lafontaine, 1943 in Saarlouis geboren, politische Ausnahmeerscheinung mit einer Bilderbuchkarriere: 1976 Oberbürgermeister von Saarbrücken, 1985 Ministerpräsident des Saarlandes, 1990 Kanzlerkandidat, 1995 SPD-Parteivorsitzender, 1998 Bundesfinanzminister. Im März 1999 tritt er überraschend von allen Ämtern zurück.

Mit der Frechheit und Energie des Kindes aus kleinen Verhältnissen katapultiert sich Oskar Lafontaine nach oben, mit politischem Instinkt und ausgeprägtem Machtwillen etabliert er sich schnell an der Spitze. Mehrere Jahrzehnte lang gehen von ihm starke Impulse auf die deutsche Politik aus: Intellektueller Vordenker und Vorreiter, politisches Talent und Temperament, selbstgerechter Macher und Machthaber, streitlustiger Querdenker und Querschläger – Provokation und Politik sind für ihn kein Widerspruch, sondern seine Kraftquelle.

Für Überraschungen kann Oskar Lafontaine immer wieder gut sein: Schon oft hat niemand mit ihm gerechnet.




Pressestimmen:

Joachim Hoells klassich-gediegene Biografie entlarvt die Zerrbilder, die die Medien immer wieder von Lafontaine zeichnen. (Süddeutsche Zeitung)

Der Literaturwissenschaftler Hoell hat ein sachkundiges und leicht lesbares Buch verfasst. (Freitag)

Der Autor beschreibt Lafontaine als präsent, instinktsicher und wach, polemisierend, provozierend und polarisierend. Er breitet seine guten Phasen – den Aufstieg im Saarland und die kurze Zeit als SPD-Vorsitzender – aus, verschweigt aber auch schwache Momente – "Pensions-Affäre", "Rotlicht-Skandal" – nicht und lässt Einblicke in sein Privatleben ohne den Anschein eines Schlüssellochblicks zu. (Das Palament)
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum19. Feb. 2014
ISBN9783844285840
Provokation und Politik. Oskar Lafontaine: Eine Biografie

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    Buchvorschau

    Provokation und Politik. Oskar Lafontaine - Joachim Hoell

    Über dieses Buch

    Oskar Lafontaine, 1943 in Saarlouis geboren, politische Ausnahmeerscheinung mit einer Bilderbuchkarriere: 1976 Oberbürgermeister von Saarbrücken, 1985 Ministerpräsident des Saarlandes, 1990 Kanzlerkandidat, 1995 SPD-Parteivorsitzender, 1998 Bundesfinanzminister. Im März 1999 tritt er überraschend von allen Ämtern zurück.

    Mit der Frechheit und Energie des Kindes aus kleinen Verhältnissen katapultiert sich Oskar Lafontaine nach oben, mit politischem Instinkt und ausgeprägtem Machtwillen etabliert er sich schnell an der Spitze. Mehrere Jahrzehnte lang gehen von ihm starke Impulse auf die deutsche Politik aus: Intellektueller Vordenker und Vorreiter, politisches Talent und Temperament, selbstgerechter Macher und Machthaber, streitlustiger Querdenker und Querschläger – Provokation und Politik sind für ihn kein Widerspruch, sondern seine Kraftquelle.

    Für Überraschungen kann Oskar Lafontaine immer wieder gut sein: Schon oft hat niemand mit ihm gerechnet.

    Die Originalausgabe dieses Buchs erschien 2004 im Verlag Dirk Lehrach in Braunschweig.

    Für diese Ausgabe bei e-publi wurde das Buch geringfügig überarbeitet und um ein aktives Inhaltsverzeichnis erweitert.

    Pressestimmen:

    Joachim Hoells klassich-gediegene Biografie entlarvt die Zerrbilder, die die Medien immer wieder von Lafontaine zeichnen.

    Süddeutsche Zeitung, 14.03.2005

    Der Literaturwissenschaftler Hoell hat ein sachkundiges und leicht lesbares Buch verfasst.

    Freitag, 17.09.2004

    Der Autor beschreibt Lafontaine als präsent, instinktsicher und wach, polemisierend, provozierend und polarisierend. Er breitet seine guten Phasen – den Aufstieg im Saarland und die kurze Zeit als SPD-Vorsitzender – aus, verschweigt aber auch schwache Momente – »Pensions-Affäre«, »Rotlicht-Skandal« – nicht und lässt Einblicke in sein Privatleben ohne den Anschein eines Schlüssellochblicks zu.

    Das Palament, 20.09.2004

    Über den Autor

    Joachim Hoell, geboren 1966, lebt als Autor in Berlin. Nach Studium und Promotion in Germanistik und Lateinamerikanistik zahlreiche Artikel und Bücher, u.a. Biografien über Thomas Bernhard (dtv 2000, Hörbuch gelesen von Hermann Beil, Tacheles 2006), Ingeborg Bachmann (dtv 2001, Hörbuch gelesen von Sophie Rois, Random House Audio 2006) und Oskar Lafontaine (Lehrach 2004), Mitherausgeber der Gesammelten Schriften von Philipp Mainländer (Olms 1996-1999) und zahlreiche Romanbearbeitungen fürs Hörbuch wie Hörbuchregie, von Autoren wie Louis Begley, Harry Belafonte, T.C. Boyle, Charles Dickens, John Grisham, Richard Ford, Robert Harris, Stephen Hawking, Terézia Mora, Melinda Nadj Abonji, Hanns-Josef Ortheil, Rüdiger Safranski, Frank Schirrmacher, Richard Sennett und Martin Suter. Lehraufträge zu moderner Literatur und Hörbuch an zahlreichen Universitäten. Konzeption und Moderation literarisch-musikalischer Programme, u.a. im Residenzschloss Ludwigsburg.

    … mehr auf www.joachimhoell.de

    Bei epubli von Joachim Hoell erhältlich:

    Der literarische Realitätenvermittler. Die Liegenschaften in Thomas Bernhards Roman Auslöschung. Berlin 1995, 2. Auflage epubli Berlin 2014

    Mythenreiche Vorstellungswelt und ererbter Alptraum. Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard. Berlin 2000, 2. Auflage 2001, 3. Auflage epubli Berlin 2014

    Thomas Bernhard. Ein Portrait. München 2000, 2. Auflage 2003, 3. Auflage epubli Berlin 2014

    Ingeborg Bachmann. Ein Portrait. München 2001, 2. Auflage 2004, 3. Auflage epubli Berlin 2014

    Provokation und Politik. Oskar Lafontaine. Braunschweig 2004, 2. Auflage epubli Berlin 2014

    Provokation und Politik.

    Oskar Lafontaine. Eine Biografie

    © 2014 Joachim Hoell

    published by: epubli GmbH

    Berlin www.epubli.de

    ISBN 978-3-8442-8584-0

    Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Bretten mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.

    Nur wer sicher ist, dass er daran nicht zerbricht, wenn die Welt, von seinem Standpunkt aus gesehen, zu dumm oder zu gemein ist für das, was er ihr bieten will, dass er all dem gegenüber: ›dennoch!‹ zu sagen vermag, nur der hat den Beruf zur Politik.

    Max Weber, Politik als Beruf, 1919

    1   Frech wie Oskar. Kindheit (1943–1953)

    Niemand hat mit ihm gerechnet. Erwartet wird ein ungewöhnlich großer und übergewichtiger Säugling. Eine schwierige Geburt, soviel ist dem Arzt klar. Katharina Lafontaine erhält für die Entbindung im Krankenhaus eine Sondergenehmigung, denn in Kriegszeiten wird normalerweise zu Hause entbunden. Als die Wehen zehn Tage zu früh einsetzen, macht sie sich mit einem Bekannten spät abends nach Saarlouis ins Krankenhaus auf. In dieser Nacht im September 1943 ist Bombenalarm, und die Krankenhäuser sind angehalten, sich nur um Notfälle zu kümmern: »Wir dürfen jetzt niemanden aufnehmen. Wir müssen Betten für eventuelle Opfer der Fliegerangriffe bereithalten«, erklärt die Nachtschwester an der Pforte. Dank der Bescheinigung des behandelnden Chefarztes wird Katharina Lafontaine sofort in den Kreißsaal geschickt.

    Oskar kommt als Zweiter. Zunächst wird die Mutter von ihrem ersten Sohn Hans entbunden. Für alle völlig unerwartet folgt mit einer Viertelstunde Abstand ein zweites Kind. Es ist der 16. September 1943, ein Donnerstag, als Oskar Lafontaine um 6.45 Uhr in der St. Elisabeth-Klinik in Saarlouis das Licht der Welt erblickt. Hans und Oskar schreien um die Wette, beim nächsten Bombenalarm werden sie direkt vom Kreißsaal in den Luftschutzkeller des Krankenhauses gebracht.

    Die Mutter befindet sich noch in Narkose und ahnt nichts von der Zwillingsgeburt. Bei den Voruntersuchungen hatte der Gynäkologe nur die Herztöne von Hans gehört. Da sich Oskar auf dem Rücken in der Steißlage befand, konnte der Arzt mit dem damals gebräuchlichen Hörrohr nur den Herzschlag des einen Kindes vernehmen. Die Frage der Mutter, ob es sich bei dem mächtigen Bauchumfang nicht um Zwillinge handeln könne, verneinte der Arzt daher kategorisch. Doch stellte er ihr den Nachweis aus, auf dem rot unterstrichen ist: »Patientin ist unbedingt aufzunehmen«. Die Geburt im Krankenhaus verläuft ohne Komplikationen, beide Jungen sind gesund und wohlauf. Die zweieiigen Zwillinge unterscheiden sich bereits, Hans ist ein wenig größer, Oskar dafür ein wenig schwerer.

    Die Vorbereitungen der Mutter hatten sich auf nur ein Kind konzentriert. Sie gerät in Bedrängnis, weil sie nun alles in doppelter Ausführung benötigt: Kinderwagen, Wäsche, Windeln und Nahrung. Im Angesicht des fortgeschrittenen Krieges keine leichte Aufgabe, das meiste gibt es nur über Bezugsschein. Für eine Frau, deren Mann sich an der Front befindet, ist die Situation mit zwei Säuglingen nicht einfach.

    Der Ehemann und Vater Hans Lafontaine kommt auf Sonderurlaub nach Hause. Er hatte sich auf den planmäßigen Geburtstermin eingestellt und wäre pünktlich gewesen, doch so trifft er einige Tage verspätet bei Frau und Kindern ein. Da er in fünf Tagen an die Front nach Nordfrankreich zurückkehren muss, findet bereits am nächsten Tag, dem 26. September, die Taufe in der Pfarrkirche St. Maximin in Pachten statt. Auf die doppelte Kinderzahl reagiert er pragmatisch. Er und seine Frau hatten sich bereits zuvor auf den Doppelnamen Hans–Oskar geeinigt, falls es ein Junge wird. Hans, weil der Sohn den Namen des Vaters tragen sollte, Oskar, weil der im Krieg gefallene Bruder der Mutter so hieß. Aus dem Doppelnamen macht der Vater kurzerhand zwei Namen, der Erstgeborene wird Hans, der Zweitgeborene Oskar.

    Kennen gelernt haben sich Hans Lafontaine und Katharina Ferner bereits 1932. Der 16-jährige Bäckerlehrling ist bei Verwandten ihrer Familie angestellt, in der Bäckerei Kraus in Schwarzenholz, wenige Kilometer entfernt von Saarlouis. Katharina ist ein Jahr älter und arbeitet als Kindergärtnerin im nahen Pachten. Nach der ersten Begegnung in der Bäckerei sind die beiden bald ein Paar.

    Katharina Ferner, das vierte von fünf Kindern, wird am 22. Mai 1915 in Pachten an der Saar geboren. Die Mutter Barbara, geborene Schmidt, und der Vater Nikolaus stammen beide aus Pachten, seit 1936 ein Stadtteil von Dillingen. Das 20 000 Einwohner zählende Dillingen gehört in den Verwaltungsbezirk Saarlouis und ist bekannt durch die Dillinger Hütte, in der Nikolaus Ferner als Maschinist arbeitet. Käthchen oder auch Käthe, wie sie in der Familie heißt, besucht acht Jahre lang die Volksschule in Pachten, die sie mit einem hervorragenden Zeugnis abschließt. Der Lehrer und der Pfarrer setzen sich vergebens dafür ein, sie auf ein Gymnasium zu schicken. Das schmale Gehalt des Vaters als Hüttenarbeiter reicht nicht aus, er muss eine Familie mit fünf Kindern ernähren. Katharina besucht daraufhin eine Kinderpflegerinnenschule in Saarbrücken und verdient bereits mit 16 Jahren ihr erstes Geld als Aushilfskindergärtnerin. Wegen eines langwierigen Gallenblasenleidens gibt sie den Beruf auf. Nach ihrer Genesung steht sie der Mutter bei der Pflege des schwerkranken Vaters zur Seite, der 1938 im Alter von 64 Jahren stirbt. In dieser Zeit hilft sie in der Bäckerei der Verwandten aus, in der sie Hans Lafontaine begegnet. Sie lässt sich umschulen, belegt Kurse in Schreibmaschine und Stenografie. Ihre erste Anstellung als Sekretärin findet sie in der Dillinger Hütte im Mai 1939, wenige Monate vor Ausbruch des Krieges.

    Hans Lafontaine wird am 25. Mai 1916 in Überherrn geboren, ebenfalls im Landkreis Saarlouis gelegen. Er stammt aus einer Bergmannsfamilie, sein Vater arbeitet im Nachbardorf Kreuzwalde unter Tage. Hans und seine ältere Schwester werden durch den frühen Tod der Mutter Halbwaisen. Er besucht eine Handelsschule in Saarlouis und beginnt dann eine dreijährige Bäckerlehre. Nach der Gesellenprüfung arbeitet er in einer Bäckerei in Dillingen. Doch wie seine spätere Frau den Beruf als Kindergärtnerin nur kurz ausübt, so gibt auch Hans Lafontaine seinen erlernten Beruf bald auf. Schon 1936 muss er zeitweilig seine Heimat verlassen, zunächst zum Arbeitsdienst in Isny im Allgäu, später nimmt er eine Anstellung bei der Deutschen Reichsbahn an, wo er in einem Gleisbautrupp in Köthen/Anhalt arbeitet. Ihm war freigestellt worden, zum Militär oder zu dem Gleisbautrupp zu gehen. Er entscheidet sich für letzteres, weil er dort mehr Geld verdient. 1938 wird er als Soldat eingezogen, im September 1939 nimmt er als Infanterist am Polenfeldzug teil.

    Wie für Hans Lafontaine hat auch für Katharina Ferner der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs sofort Konsequenzen für das eigene Leben. Während er an der »Ostfront« kämpft, muss sie von der »Westfront« flüchten. Am 1. September 1939 wird die vollständige Evakuierung von Dillingen und Pachten angeordnet. Durch die Kleinstadt verläuft der so genannte Westwall, jenes 630 Kilometer lange Bollwerk aus Bunkern und Panzersperren, mit dem Adolf Hitler nach dem Überfall auf Polen sein Reich gegen Angriffe aus dem Westen schützen will. In Rucksäcke, Bündel und Koffer packt man das Nötigste, verlässt auf Fahrrädern, mit Handwagen, auf Kuh- und Pferdefuhrwerken oder auf Lastautos und in Eisenbahnen die Heimat, wie ein Chronist diese »erste Völkerwanderung« des Krieges schildert.

    Käthe Ferner findet mit ihrer Mutter und den Geschwistern Zuflucht im Harz. In Bad Sachsa arbeitet sie als Sekretärin bei Dynamit Nobel, einem der größten Rüstungsbetriebe im ›Dritten Reich‹. Als Hans Lafontaine im März 1940 seinen Fronturlaub in Bad Sachsa verbringt, heiraten die beiden. Der Krieg vereitelt nicht nur ein normales Eheleben zwischen Hans und Katharina, selbst die Heirat ist von den Fronteinsätzen bestimmt. Nach der standesamtlichen Trauung im März kann die kirchliche Hochzeit erst im September 1940 stattfinden.

    Katharina Lafontaine kehrt mit ihrer Familie im Herbst 1940 nach Dillingen/Pachten zurück. Nach der erfolgreichen Offensive gegen Frankreich wird das Gebiet am Westwall wieder besiedelt. Da das besetzte Frankreich von Deutschen mitverwaltet wird, kommandiert man sie ins französische St. Avold ab, 35 Kilometer von Pachten entfernt. Sie arbeitet dort auf dem Landratsamt und ist zuständig für Personalangelegenheiten. Fast drei Jahre pendelt sie zwischen Pachten und St. Avold, die Woche über wohnt sie in Frankreich, das Wochenende verbringt sie bei ihrer Familie, gelegentlich kommt ihr Mann auf Fronturlaub. Sie leben jetzt gemeinsam im Haus ihrer Eltern, in der Fischerstraße 39 in Pachten. Erst wenige Wochen vor der Niederkunft quittiert sie den Dienst auf dem Landratsamt.

    Auch nach der Geburt der Zwillinge ist die Beziehung der Lafontaines den politischen Verhältnissen untergeordnet. Nach dem kurzen Heimatbesuch muss der Vater wieder an die Front, die Mutter bleibt mit den Neugeborenen zurück. Hans Lafontaine gehört nun zur deutschen Besatzungsmacht in Frankreich, Weihnachten 1943 kommt er von seinem Truppenstützpunkt in Nordfrankreich nach Hause. Da entstehen auch die wenigen Fotos, die die Familie Lafontaine zeigen. Jedes Elternteil hält einen der Zwillinge im Arm, der Vater trägt die Wehrmachtsuniform, die Mutter ein hochgeschlossenes Kleid. Ein Familienidyll, das später, von einer Werbeagentur für Wahlkampfbroschüren bearbeitet, den Vater auch einmal mit wegretuschierten Revers und Schulterklappen zeigt – dann sieht er wie ein Zivilist aus.

    Oskar Lafontaine beurteilt heute die politische Einstellung des Vaters als typisch für die Zeit: »Er war ein junger Mann, der sich keine abweichende Meinung gebildet hatte, aber auch kein erkennbarer Aktivist im Nationalsozialismus war. Er war ein ›braver Bürger‹, der sich der Obrigkeit gefügt hat.«

    Bei der letzten großen Offensive der deutschen Armee, dem Russlandfeldzug, ist Hans Lafontaine ebenfalls dabei. Weihnachten 1944 ist er dann noch einmal bei der Familie. Gegen Kriegsende gehört er als Unteroffizier einem Panzerbataillon an, das Berlin vor den nahenden sowjetischen Truppen verteidigen soll. Sein letztes Lebenszeichen ist ein Brief an seine Frau, datiert vom 23. März 1945: »Ich bin jetzt in Berlin. Es wird wohl mein letzter Einsatz sein. Bitte bleib in Pettstadt, bis ich dich holen komme.« Die Mutter ist mit den Söhnen seit Anfang Dezember 1944 ins bayerische Pettstadt, in der Nähe von Bamberg, gezogen. Dillingen wurde bereits am 1. Dezember zum zweiten Mal in diesem Krieg evakuiert und steht seitdem unter Artilleriebeschuss der US-Amerikaner.

    Der Westwall, von den Nazis markig »Siegfried-Linie« genannt, hatte nach der schnellen Besetzung Frankreichs zunächst an Bedeutung verloren. Dabei ist das von Kleve bis Basel reichende Bollwerk größtenteils nur NS-Propaganda, es wird stärker dargestellt, als es wirklich ist. Beim Vormarsch der alliierten Truppen Ende 1944 erweisen sich viele der Anlagen als zu schwach für die im Lauf des Krieges weiter entwickelten Geschosse. In den Schützengräben und Bunkern sterben Zehntausende Soldaten, aber auch Kinder und Greise des Volkssturms. Von Dezember 1944 bis März 1945 ist Pachten Kampfgebiet, das wie viele andere saarländische Städte und Dörfer von amerikanischen Bomberverbänden zerstört wird. Pachten ist zeitweise Niemandsland, das zwischen den Feuern liegt.

    Die Kapitulation Nazideutschlands am 8. Mai 1945 erleben Katharina Lafontaine, ihre Söhne Hans und Oskar, ihre Mutter Barbara und ihre Schwester Gretel in dem kleinen Dorf in Bayern, wo sie bei einer alleinstehenden Frau untergekommen sind. Weil Hans Lafontaine in seinem letzten Brief angekündigt hatte, sie in Pettstadt abzuholen, warten sie dort noch bis August. Dann kehren sie, in der Ungewissheit, was mit dem Vater geworden ist, nach Pachten zurück.

    Der Ort ist zu 60 Prozent zerstört. In der Fischerstraße ist ausgerechnet das Haus der Ferners als einziges völlig ausgebombt. Solang sie mit dem Wiederaufbau beschäftigt sind, finden sie bei Nachbarn ein provisorisches Quartier. Dass dort das Dach leckt, es ständig hereinregnet und man sich unter einem Regenschirm zu schützen versucht, bereitet zumindest den zweijährigen Kindern großes Vergnügen. Für die Mutter ist das nur eine von vielen Unannehmlichkeiten. Der Aufbau des Hauses geht nur langsam voran, erst einmal muss der Schutt beseitigt werden, und für weitere Instandsetzungsarbeiten mangelt es an Baumaterialien. Knappheit herrscht auch bei Lebensmitteln, die nur gegen Marken zu erhalten sind. Glücklicherweise besitzen sie einen großen Garten, in dem sie Obst und Gemüse anbauen. Katharina Lafontaine findet nach langer Suche eine Anstellung als Schreibkraft im Kaufhaus Woll in Saarlouis, zunächst nur halbtags, ab 1947 ganztags. Die Großmutter und die Tante Gretel kümmern sich derweil um Hans und Oskar.

    Die Erziehung der Kinder und die gleichzeitige Büroarbeit wäre für Katharina Lafontaine ohne die Hilfe von Mutter und Schwester nicht möglich gewesen. Als Hans’ und Oskars Großmutter 1947 stirbt, steht Tante Gretel allein ihrer Schwester tatkräftig zur Seite. Margarete Ferner, so ihr bürgerlicher Name, ist kinderlos und wird erst in den 60er Jahren einen Hüttenarbeiter heiraten. Bis dahin lebt sie im selben Haushalt und ist die gute Seele für alle. Sie hilft seit der Geburt von Oskar und Hans, wo sie nur kann. Ohne sie wäre das Leben noch viel schwieriger für die allein stehende Mutter. Für Oskar Lafontaine war Tante Gretel zwar keine Ersatzmutter, aber der Inbegriff eines hilfreichen und bodenständigen Menschen: »Tante Gretel war eine sehr praktische und kräftige Frau, verantwortlich für alle anfallenden Arbeiten. Um Schule und Erziehung, um das Geistige also, kümmerte sich meine Mutter allein. Sie war zuständig. Eine Ersatzmutter war Tante Gretel nicht.«

    Seit dem Frühjahr 1946 besuchen die Zwillinge den wieder eröffneten Kindergarten in Pachten, noch heute der Katholische Kindergarten St. Maximin in der Neustraße. Mit ihren gerade zweieinhalb Jahren gehören Hans und Oskar zu den jüngsten Kindern. Die Kindergärtnerin Tilla Kolling erinnert sich noch gut an die Lafontaine-Zwillinge. Sie haben immer die gleiche Kleidung getragen, die in einem für die Zeit auffallend guten Zustand gewesen sei. Auf mustergültig angezogene, geradezu adrette Kinder habe die Mutter besonderen Wert gelegt. Von ihrem Wesen her seien die zweieiigen Zwillinge allerdings schon vollkommen verschieden gewesen. Hans ruhig, schüchtern und passiv, Oskar dagegen lebhaft, temperamentvoll und aktiv. »Da brauchte nur ein größerer Junge in die Nähe zu kommen, dann stellte sich Oskar schützend vor seinen Bruder und legte den Arm um seinen Hals. ›Nur keine Angst‹, sagte er zu ihm, ›ich bin da, ich mach’ das schon.‹« Diese Rollenaufteilung zwischen Hans und Oskar sollte sich über die gesamte Jugend erhalten.

    Die Fischerstraße in Pachten ist ein besonderes Milieu, in das die Lafontaine-Zwillinge hineinwachsen. Die Bewohner, die »Fischergässler«, haben keinen guten Ruf. Neben einzelnen Bauern leben dort hauptsächlich Tagelöhner und Hüttenarbeiter, die der untersten sozialen Schicht angehören. Entsprechend kinderreiche Familien drängen sich in den kleinen Häusern. Die Bewohner haben dabei enge nachbarschaftliche und freundschaftliche Beziehungen zueinander und bilden gegenüber dem Rest des Ortes eine verschworene Gemeinschaft. Oskar Lafontaine hat heute noch die »geborgene Atmosphäre« der Fischerstraße in Erinnerung. Die Fischergässler sind gefürchtet, denn unter den Jungen des Dorfes gilt das Faustrecht. Schon früh ist Oskar einer der Rädelsführer, der sich auch gegenüber Älteren zu behaupten weiß. Seinen ängstlichen Bruder ist er immer zu schützen bereit, mit körperlicher Kraft kämpft der kleine, kugelige Oskar für seinen schmalen, schwächeren Bruder Hans gleich mit. Die Fischerstraße ist das erste Revier, in dem Oskar Lafontaine sich erfolgreich durchboxt.

    Noch heute liegt die Fischerstraße am Ortsrand von Pachten, daran schließen sich Wiesen an, die bis zur Saar reichen. Diese Saarwiesen sind für Oskar und Hans ein Paradies. Im Sommer sind sie oft überschwemmt, im Winter zugefroren – viele Möglichkeiten, zu jeder Jahreszeit ausgefallene und abenteuerliche Spielplätze zu finden. Da unmittelbar zwischen Fischerstraße und Saar der Westwall verlief, sind die verbliebenen Bunker für Oskar und die anderen Jungen ebenfalls ein beliebter Spielplatz: »Wir sind in den Bunkern herumgeklettert und haben Verstecken gespielt. Von einem dieser Bunker bin ich heruntergesprungen und habe mir den Fuß gebrochen.«

    Die Fischerstraße ist eine der alten Straßen des Ortes, in der heute in einem ehemaligen Bauernhaus das Museum Pachten untergebracht ist; unter dem Pachtener Boden liegen die Reste des römischen Vicus Contiomagus, eines regionalen Zentrums in gallorömischer Zeit.

    Geprägt ist die gesamte Gegend von den Hütten und Gruben der saarländischen Montanindustrie. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildet sich an der mittleren Saar wegen der riesigen Kohlevorkommen ein schwerindustrielles Zentrum heraus. Wie in fast jeder saarländischen Familie mindestens ein Mitglied im Steinkohlebergbau oder in der Stahlindustrie tätig ist, so sind auch beide Großväter von Oskar – Nikolaus Ferner in der Dillinger Hütte, Jean Lafontaine in der Grube Kreuzwalde – in diesen Industriezweigen beschäftigt. Die Dillinger Hütte, heute die größte Eisenhütte des Saarlandes mit 5500 Beschäftigten, liefert weltweit Bleche für Brücken, Meeresplattformen und Hochhäuser sowie Großrohre für Pipelines. Der Stahl für die Dachkonstruktion des Olympiastadions in Athen 2004 stammt von der Dillinger Hütte. Kohle und Stahl sind die zwei beherrschenden und identitätsstiftenden Lebenselemente des Saarlandes.

    Pachten liegt nur zehn Kilometer entfernt von der deutsch-französischen Grenze, die hier kulturell, sprachlich und wirtschaftlich immer durchlässig war. Oskars Familie hat ihre Wurzeln auf beiden Seiten. Der Legende nach ist 1648, im Zuge des Dreißigjährigen Krieges, ein französischer Hauptmann Lafontaine mit seinem Heer in Saarbrücken eingezogen. »Ich habe immer damit kokettiert, wenn ich im Rathausfestsaal war, dass ich nicht der erste Lafontaine hier in Saarbrücken bin«, bemerkt er heute dazu. Urkundlich lässt sich der deutsch-französische Stammbaum von Oskar Lafontaines Vorfahren bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen. Sein Großvater Jean Lafontaine kommt direkt von der Grenze, gebürtig im deutschen Überherrn, Bergmann in der Grube Kreuzwalde, das heutige Creutzwald im französischen Lothringen. Der Vorname Jean ist im Saarland verbreitet und wird wie »Schan« ausgesprochen. Hans und Oskar besuchen den Großvater väterlicherseits regelmäßig bis zu dessen Tod 1949, sie erhalten von ihm dann jeweils Geld – 5000 Franc –, das sie der Mutter für die Haushaltskasse geben. Auch mütterlicherseits reichen die Familienwurzeln nach Frankreich, die Großmutter Barbara Ferner lebte mit ihrer Familie eine Zeit lang im nahen Metz, sie soll zeitlebens auf Französisch gezählt und gebetet haben.

    Sein Geburtsort Saarlouis weist ebenfalls auf seinen französischen Ursprung hin – von Louis XIV., dem Sonnenkönig, 1680 als Festung gegen das Heilige Römische Reich Deutscher Nation gegründet. Saarlouis gehörte insgesamt 134 Jahre lang zu Frankreich. Das Saarland hat, wegen der Auseinandersetzungen um die Nutzung dieser Industrieregion, immer eine Sonderrolle zwischen Deutschland und Frankreich gespielt. Nach dem Ersten Weltkrieg wird es vom Deutschen Reich getrennt und unter das Mandat des Völkerbunds gestellt, im ›Dritten Reich‹ nach einer Volksabstimmung 1935 wieder Deutschland angegliedert und mit der Pfalz zum Gau Saarpfalz vereinigt, das sich von 1940–45 Westmark nennt. Da Saarlouis von den Nazis zu Saarlautern

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