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Mein Vater war anders: Kindheitserinnerungen
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eBook159 Seiten2 Stunden

Mein Vater war anders: Kindheitserinnerungen

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Über dieses E-Book

Wie wächst man als Kind ohne Vater und Mutter in Deutschland Mitte des letzten Jahrhunderts auf? Hannah Hohmann schildert in eindrucksvollen Bildern ihre Erinnerungen aus der Kindheit, die Höhen und Tiefen einer fünfköpfigen Familie ohne Eltern sowie ihre tagtäglichen Anstrengungen, selbstbestimmt den Alltag zu meistern. Dabei schildert sie neben den schönen Erinnerungen, die sie vor allem an ihre auf verschiedenen Italienreisen erlebten Eindrücke knüpft, auch die Widrigkeiten der Tochter eines Mannes, der seine Veranlagung wann immer möglich auslebte und neben seiner Familie immer mehr seinen jungen Geliebten zugetan war. Die tiefe Auseinandersetzung sowohl mit der eigenen Vergangenheit als auch den vielfältigen Themen, die es aufzuarbeiten gilt, lassen sich durch die hier vorliegende chronologische Schilderung der Erlebnisse nachvollziehen und machen neben den Kindheitsbetrachtungen das Buch zu einem sehr lesenswerten Zeitzeugnis.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum22. Dez. 2019
ISBN9783750218734
Mein Vater war anders: Kindheitserinnerungen

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    Buchvorschau

    Mein Vater war anders - Hannah Hohmann

    Meine andere Kindheit

    Eigentlich hätte ich ein »Thomas« werden sollen, aber ich wurde Hannah. Also doch nicht die Reinkarnation des ersten und wichtigsten Geliebten meines Vaters Papasan. Dieser erhielt seinen Namen in Südostasien, wo er im letzten Drittel seines Lebens lebte und wirkte. »Papasan« heißt sinngemäß »Herr Papa«, und ich werde ihn hier durchgängig so nennen.

    Ich bin im Januar 1950 in Heidelberg geboren. Meine Mutter war bei meiner Geburt 42 Jahre alt. Ich war das fünfte Kind, eine Totgeburt nicht mitgerechnet. Mutti hatte bei der Geburt der Schwesterzwillinge 1942 eine Schwangerschaftsvergiftung erlitten. Und es war von einer weiteren Schwangerschaft dringend abgeraten worden, weil ihre Gesundheit massiv bedroht gewesen wäre. Aber ich sollte zur Welt kommen.

    Bis zu meinem 60. Geburtstag war ich der Überzeugung, dass sich diese schöne Geschichte zugetragen hatte:

    Mutti hatte die dringende Empfehlung und auch die offizielle Genehmigung zu einer medizinisch begründeten Abtreibung erhalten. Im Wartezimmer in Heidelberg saß sie, der Eingriff sollte demnächst erfolgen. Sie ist aber vorher aufgestanden und einfach gegangen. Und hat ihren vier »Großen« ein Geschenk gekauft, jedem ein winziges aus Leder gefertigtes Tierchen. Das meines Bruders Wolfgang, immer Wiff genannt, war ein Häschen, braun und mit Steppnaht. Ich habe es gesehen. Und Mutti ist damals nach Hause gegangen und hat mich im Januar darauf zur Welt gebracht, ohne große Komplikationen, und ich war ein gesundes Kind. Überraschend nur, dass ich eben kein »Thomas« war.

    59 Jahre später, kurz nach dem Tod meines Bruders Wiff, fand meine Schwägerin Usha Unterlagen, aus denen hervorging, dass es damals anders gewesen war:

    Die Eltern hatten sich schweren Herzens wegen der Armut in der Nachkriegszeit und der medizinischen Vorgeschichte meiner Mutter zu einer Abtreibung entschlossen. Ein Heidelberger Gynäkologie-Professor überredete sie jedoch mit moralisch-ethischen Argumenten, die Schwangerschaft und Geburt trotz allem zu riskieren.

    Als ich gesund auf der Welt war, trugen die Eltern eben diesem Arzt aus Dankbarkeit die Patenschaft an, denn er hatte sie ja zu diesem gewaltigen Schritt überredet. Zu dieser Patenschaft kam es allerdings nicht. Aber meine Taufe fand durch meinen Großvater väterlicherseits statt, den Pfarrer Opa Jonathan aus Kassel-Bettenhausen. Ich habe keine deutliche Erinnerung an ihn, nur ein paar Fotos zeigen ein Gesicht mit Spitzbart und einem tiefernsten Ausdruck. Der evangelische Geistliche hatte zehn Kinder, Papasan war das zweitjüngste. Es gab neun Söhne und eine Tochter – Tante Lena. Opa Jonathan beerdigte früh seine Frau – Wilhelmine – die Mutter der Zehn. Sie starb im Alter von 42 Jahren an Herzschwäche und die neue Oma Hedwig zog die noch recht kleinen Kinder groß. Im ersten und im zweiten Weltkrieg starben drei der Söhne, Opa Jonathan in Kassel im Jahr 1953. Drei Jahre vor seinem Tod war also meine Taufe.

    Papasan hatte nach dem Krieg den Peterhof in Ziegelhausen – einem Vorort von Heidelberg – als Pächter anvertraut bekommen. Mit seinem stets ausgeprägten Charisma hatte er das Vertrauen der Besitzerin – von allen nur die »Baronin« genannt – gewinnen können. Er, der Diplom-Ingenieur, hatte überzeugend dargelegt und bewiesen, dass er der ideale Bewirtschafter des großen Hofes sein würde.

    Die vier »Großen« – meine Geschwister – erzählten später ausführlich von armen, aber heiteren, harmonischen Kindheitszeiten: Zusammen spielen in der Natur, bestimmt auch im Haushalt und auf dem Obstgut mithelfen, bestimmten ihren Alltag. Die vier Kinder lebten unter großen äußerlichen Entbehrungen, aber in fröhlicher Gemeinschaft und jederzeit reich an Musik, Theater und Spielen.

    Irgendwann war vom Vater jedem Kind ein Verslein zugeschrieben worden. Sie konnten es bis in ihr Erwachsenen-Alter hinein auswendig hersagen. Und es hatte wundersamer Weise mit ihrem sich entfaltenden Wesen zu tun. Das von Schwester Eleni begann so: „Ich bin der kecke Löwenzahn, an jedem Fleckchen wachs ich an."

    Unsere Mutti hat die Familie damals mit Holzbirnen ernährt, und zwar in jeder denkbaren Zubereitungsart.

    Befreundet war die Familie, in die ich hineingeboren wurde, mit der Familie F. Diese wohnte in der »Mühle«. War der Vater Müller? Oder Seifensieder? Vielleicht ein Farbenhändler? Auf jeden Fall gab es zehn Kinder und auch dort große Nachkriegsarmut. Aber auch sie erlebten heitere Erfüllung durch Hausmusik, Gedichte und Theateraufführungen. Erste Kontakte mit der Anthroposophie und der gerade in Heidelberg entstehenden Waldorfschulgründung verbanden beide Familien.

    Und eine frische Liebe unseres Vaters zu Heiner. Und später zu Karl, beides Söhne der Familie F. Der jüngere wurde, damals etwa 16-jährig, zu meinem Paten ernannt. Jahrzehnte später wurde mir klar, warum ich diesen Patenonkel unsympathisch und immer auch ein wenig eklig fand. Ich versuchte später wiederholt, das zu erfassen und mit dem dann älter gewordenen Mann, der Lehrer geworden war, zu besprechen und aufzulösen. Das ist aber leider nicht geglückt.

    Meine Taufe aber war wohl ein gelungenes Fest. Eine begnadete Märchendichterin im Umfeld der Familie – eine Frau K. – hatte aus dem Märchen ‘Dornröschen’ ein Theaterstück geschrieben. Das Dornröschen im Körbchen war ich mit meinen wenigen Lebensmonaten. Und die guten Feen waren auch zugegen. Die Größen der beiden Familien mit zehn und fünf Kindern gaben das mühelos her. Die böse, 13. Fee, war auch dabei. Da war also schon einiges in die Wiege gelegt.

    Vom Peterhof zog die Familie nicht direkt nach Hannover. In Bielefeld wurde 1951 zunächst Station gemacht. Es gab Arbeit für Papasan bei den Stadtwerken und die Familie wohnte in der Herforder Straße. Für Erinnerungen war ich allerdings noch zu klein.

    Aber nach einem knappen Jahr in Bielefeld ging es nach Hannover in die Heinrich-Heine-Straße. Und von dort gibt es auch Bilder. Es muss sehr eng gewesen sein für die siebenköpfige Familie. Eigentlich war eine 5-Zimmer-Wohnung von Bielefeld aus organisiert worden. In den Stunden, in denen der Hausrat nach Hannover gebracht wurde, zog jedoch eine andere Familie in die für uns vorgesehene Wohnung ein. Ohne Bürokratie, blitzschnell, wie es in der damaligen Zeit der Wohnungsnot bestimmt häufig einfach nur so gemacht wurde. In Hannover angekommen fanden meine Eltern und Geschwister nur noch eine 2-Zimmer-Wohnung vor und bezogen notgedrungen dieses Quartier, wenn auch recht eng für das »Siebengestirn«.

    Papasan und Mutti hatten in Heidelberg ja bereits die Anthroposophie kennengelernt und eine intensive Phase der Vertiefung in dieses Gedankengut hatte begonnen. Im platonischen Weltbild der Griechischen Antike spielten die sieben sichtbaren Planeten eine große Rolle, wie auch ihre Verbindung mit den Wochentagen, mit Pflanzen und Metallen. Was lag da näher, als die Mitglieder der Familie einzuteilen?

    Der »uralte, bleischwere Saturn«. So hat sich der Vater, mit dem Älterwerden kokettierend, oft genannt.

    Das Siebengestirn, das um die »Sonne«, Mutti, kreist!

    In ihrer unmittelbaren Nähe die kleine »jungfräuliche Venus«: Ich.

    »Mond« und »Merkur«, die Schwestern Anna-Maria und Eleni, ebenfalls nicht weit von der Sonne entfernt.

    Der »kriegerische Mars« war dem Wiff zugeschrieben und »Jupiter« – alt, wissend – dem ältesten Bruder Joachim, von allen nur Kim genannt.

    Für mich alles stimmig. Und am Weihnachtsbaum hingen sie dann, diese Symbole: Sonne vergoldet, Mond versilbert, Venus aus Kupfer, Merkur mit Quecksilbergehalt. Das sich entwickelnde Wesen der Familienmitglieder hatte für mich immer selbstverständlich mit den Planeteneigenschaften und deren materiellem Gehalt zu tun.

    Daneben gibt es noch weitere eigene Erinnerungen aus dieser Zeit:

    Ein Spaziergang mit Anna-Maria, bei dem mich ein Fahrradfahrer umfuhr. Es brannte höllisch zwischen den Beinen.

    Eine Stehlampe neben meinem Gitterbett, warmes, gemütliches Licht. Die Gespräche im Nebenraum und die häufig gespielte Hausmusik waren aber so spannend, dass ich wohl zigmal aus dem Bett kletterte und neugierig auftauchte. Dabei erinnere ich mich an die einzigen Schläge meiner Kinderzeit, auf den Po, durch Papasan. Danach bin ich wohl nicht mehr aufgestanden, nachdem ich zu Bett gebracht worden war.

    Zwei Hauseingänge weiter gab es den Fahrradladen, der hieß Esau, wo die älteren Brüder sich oft eine Pumpe ausborgten. Und zwei Straßen weiter war in einer Garage ein Lebensmittelgeschäft eingerichtet, in dem Fräulein Christawas herrschte. Irgendeine Süßigkeit bekam ich dort immer und liebte natürlich die Wege in dieses Geschäft.

    Neben den Trümmern, der Wohnraumknappheit und dem allgemeinen Mangel in der Nachkriegszeit herrschte sicher auch Geldmangel in der großen Familie, obwohl Papasan eine Anstellung beim TÜV hatte und in Hannover und Umgebung täglich in „Kessel kriechen" musste, was immer das bedeuten mochte.

    Die vier großen Geschwister hatten alle einen Platz in der kurz nach dem Kriegsende wiedereröffneten Waldorfschule am Maschsee bekommen. Es gibt diese Familien, die Schulen eine Zeit lang tragen. Meine Familie entwickelte sich zu einer diesen Familien. Mit einem jungen Lehrer zusammen gründete mein Vater eine Wandergruppe an dieser Schule.

    Der Versuch, mich in den Waldorf-Kindergarten zu bringen, scheiterte jedoch schnell. Schreiend berichtete ich zu Hause von der leibhaftigen Hexe, die dort sei. Die gute Frau Hattermann hatte gerade die Waldorf-Kindergarten-Bewegung ins Leben gerufen. Ich hätte eine schöne Zeit bei ihr haben können. Aber sie hatte diese Schneidezähne mit einer größeren Lücke dazwischen. Und ich war vertraut mit den Grimmschen Märchen, die mir allabendlich erzählt wurden. Und in denen kamen diese Hexen reichlich vor. So musste das Experiment »Kindergarten« umgehend aufgegeben werden.

    Mein Lieblingsgericht damals war »Reimerlein«. Die Klassenlehrerin meines Bruders Wiff hatte diesen Namen – und Babyzwillingsmädchen. Eines ist noch vor dem vollendeten ersten Lebensjahr gestorben. Die Lehrerin hielt es damals für richtig, alle Kinder ihrer Klasse an dem aufgebahrten toten Kind entlang defilieren zu lassen. Das überlebende Mädchen wurde meiner Mutter zum Hüten anvertraut, da dessen Mutter ihre Lehrtätigkeit kaum unterbrach. Und das kleine Mädchen bekam gemuste gekochte Kartoffeln und Karotten zu essen. Diesen Brei mochte ich auch.

    Meine kindliche Phantasie war real: Die Nachbarsfamilie hatte ein Radio. Hinter der Stoffbespannung ertönte Musik, wunderschöne Musik. An sie war ich ja seinerzeit von der musizierenden Familie gewöhnt. Aber wie kam die Musik aus diesem Holzkasten? Ich blickte durch das Bespannungsgewebe und sah ganz, ganz sicher: Ein komplettes Orchester, Geigen, Celli, Bässe, Flöten. Und einen engagierten Dirigenten. In Bewegung. Natürlich. Alles war geklärt.

    Die Enge in der Heinrich-Heine-Straße hat wohl vor allem das Projekt »Häuschen« vorangetrieben. Um 1953 entstand eine Siedlung in der Tilsiter Straße in Hannover-Bothfeld, in der Reihenhäuser gebaut wurden, da die Wohnungsnot in der Nachkriegszeit wohl zahlreiche Projekte dieser Art begünstigt hat. Unser Endhaus war winzig klein, hatte aber wunderbarer Weise sieben Zimmer. Dieses Häuschen zu erstehen war an die Bedingung geknüpft, zwei jungen Handwerker-Lehrlingen ein Dach über dem Kopf zu geben. Günther war Maler und Heinz war Maurer. Beide waren etwa 16 Jahre alt, für mich damals uralt. Sie bewohnten zwei der vier Zimmer in der ersten Etage, und ich habe zwei einfache, aber irgendwie gutmütige junge Männer in Erinnerung, die mit uns an Muttis Esstisch saßen und wie ihre eigenen Schulkinder ebenfalls morgens »Doppelbrote« für ihren Lehrlings-Arbeitstag bekamen. Das Brot war ein »Angeschobenes«: Gersterbrot, und später habe ich dann herausgefunden, dass wohl Eden-Margarine darauf war. Was noch? Ich weiß es nicht. Nur, dass Butter und das einzige Honigbrötchen ausschließlich das Familienoberhaupt bekam. Papasan saß am Kopfende des großen Esstisches und führte philosophische Gespräche mit Kim, vielleicht auch mit Wiff. Der Rest schwieg. Jeder fand es in Ordnung so.

    Ich habe die berühmten glücklichsten Jahre meiner Kindheit auch wirklich als solche in Erinnerung, zumal die Stimmung in der Tilsiter Straße überhaupt sehr gut war. Nichts war schlimm daran, dass es bei uns zu Hause so ganz anders zuging als in den Nachbarschaftsfamilien.

    Im kleinen Wohnzimmer stand ein Flügel und nahm diesen Raum fast vollständig ein. Über Eck standen zwei

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