Prometheus' Tod
Von Stefan Soeffky
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Über dieses E-Book
Stefan Soeffky
Stefan Soeffky, geboren 1979, studierte Philosophie, Germanistik und Anglistik. Zu seinen Einflüssen zählen Albert Camus, Friedrich Dürrenmatt, Franz Kafka, Charles Bukowski, John Irving und Robert Anton Wilson.
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Prometheus' Tod - Stefan Soeffky
Kapitel
1. Kapitel
Am 18. April 2002 kehrte ich aus einer vier Tage andauernden, tiefen Meditation zurück. Ich hatte die Bibliothek bereist, die die Geschichten aller Menschen enthält, die bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt geboren wurden. Es ist nicht wirklich eine Bibliothek, oder eine Chronik, es ist auch kein Netzwerk, wie manche Mystiker, die nicht klar sehen konnten, es beschrieben. Es ist vielmehr eine Art Strang aus Empfindungen, ähnlich einem Baumstamm, von nicht ganz realen Orten und Ereignissen klar abgegrenzt durch die Sicherheit menschlicher Erkenntnis. Der Erfinder dieser ehrlich gesagt vermeintlichen Sicherheit bin ich, der Erzähler eines unverschämten Witzes, der nicht enden will, so sehr auch die Götter im Olymp und sonst wo über ihn lachen.
Mein Name soll kein Geheimnis bleiben. Er lautet Prometheus. Und der Name des jungen Mannes, dessen Vergangenheit ich nach meinem Erwachen aufzuschreiben begann, war zu jenem Zeitpunkt auch kein Geheimnis mehr. Sein Name, den ich niemals ohne Amüsement zu denken vermag, ist Hannes Harlekin.
Hannes Harlekin wurde geboren als Kind des Schaustellers Paul Harlekin und der Physikstudentin Marion Harlekin, geborene Waldsänger. Hannes’ Mutter war eine äußerst lebhafte blonde Schönheit, deren grüne Augen stets alles sahen, was kommentiert werden kann. Von ihr lernte der ansonsten häufig schweigsame Paul Harlekin vieles zu kommentieren, von dem man erwartet hätte, dass es seiner Aufmerksamkeit völlig entging. Paul Harlekin war niemals in seinem Leben dumm gewesen, er galt nur als dumm - bis er seine Marion gefunden hatte, die ihn verhext zu haben schien. So zumindest sahen es viele der Schausteller, die Paul von Kindesbeinen an kannten.
Als Marion, im vierten Monat schwanger, ihr Physikstudium an den Nagel hing und ihren Eltern, Karl und Eva Waldsänger, ihren Verlobten vorstellte, reagierten diese höflich. Aber entzückt waren sie nicht gerade darüber, dass ihre Tochter große Teile ihres Lebens nicht in einem Atomkraftwerk, sondern lieber in einem Wohnwagen zubringen wollte. Als bei der Hochzeitsfeier drei Wochen später, für die man einen Achtpersonentisch reserviert hatte, Marion sagte, dass sie beim ersten Geburtstag ihres Kindes in etwa sechzehn Monaten eine größere Feier veranstalten wolle als jetzt bei ihrer Hochzeit, horchten die Waldsängers auf und rechneten kurz nach. Dann entstand eine flüchtige Verwirrung als Großvater Karls Zigarre auf die türkisfarbene Tischdecke fiel und er ein Kännchen Kaffee bemühte, besser gesagt es über dem Tisch leerte, um das Brandloch nicht allzu groß werden zu lassen, während seine Frau in einen plötzlichen Weinkrampf verfiel.
Großmutter Harlekin erschrak viel mehr über die versaute Tischdecke als über die freudige Nachricht und Großvater Harlekin verfiel in ein nicht enden wollendes Klopfen auf die Schulter seines Sohnes, das nur unterbrochen wurde durch Kneifen in seine Wange und diverse Zeitlupenkinnhaken, die Marion zu einem verliebten Schmunzeln brachten und Paul in Verlegenheit. Er wurde sogar zu beiden Seiten seines Schnurrbartes rot.
Als Hannes Harlekin dann im Sommer auf die Welt kam, war sein Großvater Willi Harlekin auf der Kirmes, um seinen nicht enden wollenden Monolog von freier Auswahl und Hauptgewinn zum Besten zu geben. Aber die übrigen Großeltern und Paul und Marion hießen den Jungen herzlich Willkommen. Das Gesicht des Kleinen wurde fotografiert und mit allen an- und abwesenden, lebenden und toten Verwandten verglichen. Ein Rätsel konnte jedoch nicht geklärt werden: von wem der Junge nur das tränenförmige Muttermal unter seinem rechten Auge geerbt hatte.
Hannes fühlte sich auf Anhieb wohl in seiner Familie. Er schrie verhältnismäßig wenig für einen Neugeborenen und als er gefüttert wurde, schworen Oma Eva und Oma Teresa, dass der kleine lächle, wogegen Bankdirektor und Opa Karl Waldsänger sofort Einspruch erhob: „Kleine Kinder lächeln frühestens ab dem dritten Lebensmonat. Hannes schmatzt nur."
Tochter Marion und Schwiegersohn Paul sahen all das als unwichtig an. Wichtig war ihnen nur, dass die so verschiedenen Großelternpaare bei allen Vorbehalten gegenüber einander und bei allen jeweils angeborenen oder mit der Zeit gewachsenen Schrullen wenigstens darüber einig waren, einen ganz vorzüglichen, weil gesunden Enkel zu haben.
Dass es vielleicht schwer werden würde für Hannes, daran glaubte in diesem Moment nur Marion, aber sie schwieg darüber. Sie wusste, dass ihre Eltern Paul niemals ganz akzeptieren konnten, denn jemand, der sein Zuhause, in dem weder eine Goethe- noch eine Nietzschegesamtausgabe zu finden ist, den ganzen Sommer über hinter sich lässt, musste für sie eine windige Person sein.
Die Vaterschaft wurde vorläufig als größte Leistung ihres Mannes angesehen, der nicht nur schwere körperliche Arbeit beim Aufbau von Geisterbahnen verrichten konnte, sondern es auch verstand, mit verschiedensten Menschen, seien es Betrunkene oder Kinder, am selben Tag auf die jeweils richtige Art umzugehen, wenn sie sich über ihre Gewinne an der Losbude freuten oder beschwerten.
Familie Harlekin besaß eine verspiegelte und pinkfarbene Losbude, eine Geisterbahn, die alle paar Jahre von Außen komplett umgebaut wurde, und einen Eisstand, von dem aus Teresa Harlekin Vanille- und Schokoladeneis unter die Leute brachte, das seit den zwanziger Jahren von ihrer Familie nach dem gleichen Rezept hergestellt wurde.
Zum ersten Mal nahm ich Hannes zur Kenntnis, als er mit viereinhalb Jahren vom Stand seiner Großmutter zu mir herübergelaufen kam und meine linke Hand ergriff. Der Eisstand war bereits fertig aufgebaut, aber der Geisterbahn fehlten noch einige Schreckgespenster, die an diesem Freitagnachmittag noch montiert werden mussten.
„Bringst du mich nach Hause?" fragte Hannes und schleckte an seinem Schokoladeneis. Das Vanilleeis fand er schon in diesem Alter ungenießbar, wie ich übrigens auch seit ich es 1936 zum ersten Mal probiert hatte.
„Wo bist du denn zu Hause?"
„Hinter der Geisterbahn, sagte Hannes. Die Geisterbahn war vom Eisstand nur durch die Harlekinsche Losbude getrennt, also begleitete ich Hannes sozusagen innerhalb seines Zuhauses ein paar Zimmer weiter. Als Teresa Harlekin von ihrem Stand aufschaute nahm sie natürlich Anstoß an mir und rief herüber: „Hannes, lass doch den Herren zufrieden!
„Manno, Oma! der bringt mich doch nur nach Hause!" rief Hannes zurück.
Natürlich waren sofort die Blicke der ganzen anwesenden Familie auf mich gerichtet. Willi und vor allem Paul waren alarmiert, aber warteten ab. Sie standen vor der Geisterbahn zusammen mit Wahrsagerin Marga, die den beiden gerade einen starken polnischen Kaffee gebracht hatte. Argwöhnisch wurde jeder meiner Schritte beobachtet, während ich Hannes oder er mich in einem großen Bogen auf die Geisterbahn zuführte. Eine der Figuren war übrigens ein äußerst muskulöser Teufel mit lang gezogenem Gesicht. Hannes hatte großen Respekt vor seinem glühenden Blick und ich bemerkte wie er mich etwas eilig weiter zog, bis der Dämon uns nicht mehr direkt angrinste, sondern nur noch den grauen Asphalt.
„Der sieht aus wie du", sagte Hannes so laut flüsternd, dass man es bis zu der Gruppe von Schaustellern, der wir uns näherten, hören konnte. Tja, der Teufel ist tatsächlich niemand anderer als ich, aber dass Hannes das so sah, überraschte mich schon, denn mein Gesicht ist eigentlich ganz und gar menschlich. Es wirkt wohl etwas streng, bedingt durch die immense Verantwortung, die ich trage, aber meine Augen sind stets voller Mitgefühl und glühen niemals so lüstern und grausam wie die des großen roten Teufels mit dem schwarzen Pelz an den Bocksbeinen, der scheinbar von der Geisterbahn herab springen wollte. Aber Hannes hatte die Ähnlichkeit gesehen, die mir selbst nicht auffallen wollte und leider erkannte mich so auch Marga.
Ich hasse es, Hexen und Magier zu treffen, die mich als den identifizieren, der ich bin. Die meisten von ihnen wissen nicht, dass ich sie vergiftet habe, dass ich ihnen an irgendeinem Punkt in ihrem Leben eine Existenz geschenkt habe, die an der Absurdität von Gottes Schöpfung verzweifeln muss. Die meisten von ihnen verstehen so gut wie überhaupt nichts, können so wenig zweifeln wie die meisten Menschen und führen dann ein Leben in permanentem Selbstbetrug. Sie nehmen zumeist alles für bare Münze, was nur alt genug ist. Durch ihr Unverständnis der verborgenen Kausalität nehmen sie an, alte Mythen seien näher am Ursprung als neuere. Auf ihren Glauben an diese Mythen, diese Lügen und Irrtümer, auf ihr vermeintliches Verständnis davon führen sie ihre paranormalen Fähigkeiten zurück, während diese immer nur auf den einen Moment in ihrem Leben zurückgehen, in denen ich sie die paradoxe Verbindung zwischen Seele und so genannter materieller oder objektiver Wirklichkeit habe ahnen lassen.
Marga hatte ich, als sie siebzehn Jahre alt war, kurz in meine Nähe geholt als sie auf Grund des schweren Krebsleidens ihrer frommen Mutter an Gottes vermeintlicher Güte zweifelte. In meiner Heimat, in der Psyche, in dem, was Nietzsche Hinterwelt nannte, zog sie sogleich die richtigen Hebel und erwachte mit dem Wissen, dass sie ihre Mutter geheilt hatte, die sich bald schon von ihrer Krankheit erholte.
Als Marga mich nun an diesem sonnigen Nachmittag in den frühen achtziger Jahren