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Der literarische Realitätenvermittler: Die Liegenschaften in Thomas Bernhards Roman Auslöschung
Der literarische Realitätenvermittler: Die Liegenschaften in Thomas Bernhards Roman Auslöschung
Der literarische Realitätenvermittler: Die Liegenschaften in Thomas Bernhards Roman Auslöschung
eBook500 Seiten4 Stunden

Der literarische Realitätenvermittler: Die Liegenschaften in Thomas Bernhards Roman Auslöschung

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Über dieses E-Book

Ich bin nicht eigentlich Schriftsteller, habe ich zu Gambetti gesagt, nur ein Vermittler von Literatur und zwar der deutschen, das ist alles. Eine Art literarischer Realitätenvermittler, habe ich zu Gambetti gesagt, ich vermittle literarische Liegenschaften sozusagen.
Thomas Bernhard. Auslöschung. Ein Zerfall, 1986

Diese Selbsteinschätzung des erzählenden Protagonisten Franz-Josef Murau erhellt aus seiner Tätigkeit in Rom: er ist der Deutschlehrer Gambettis, der diesem die deutsche Literatur nahezubringen versucht. So wird auf den ersten Seiten des Romans ein Kanon zu lesender Werke aufgestellt, die Gambetti auf das aufmerksamste und mit der in seinem Fall gebotenen Langsamkeit studieren soll. Im Verlauf des Romans wird diese Literaturliste ständig erweitert, um am Ende mit einer beträchtlichen Anzahl an Autoren und Werken die freien Regale dieser Bibliothek des bösen Geistes gefüllt zu haben. Der geistesgeschichtliche Horizont, den Murau in diesem Pandämonium absteckt, reicht von Montaigne bis zu Ingeborg Bachmann, von der Spätrenaissance bis in die Gegenwart.
Joachim Hoell begibt sich auf die literarische Reise nach diesen 'Liegenschaften' und veranschaulicht in dieser größten Monographie zu Bernhards letztem und umfangreichsten Roman Auslöschung, auf welche Weise Thomas Bernhard von Autoren wie Jean Paul, Novalis, Hebel, Goethe, Kafka, Musil, Broch, Bachmann, Kropotkin, Pavese, Sartre, Montaigne, Descartes, Pascal, Voltaire und Rousseau thematisch, weltanschaulich und ästhetisch geprägt wurde.
Die intertextuelle Analyse bildet somit einen neuen Schlüssel für das Werk des 1989 verstorbenen österreichischen Schriftstellers.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum19. Feb. 2014
ISBN9783844285857
Der literarische Realitätenvermittler: Die Liegenschaften in Thomas Bernhards Roman Auslöschung

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    Buchvorschau

    Der literarische Realitätenvermittler - Joachim Hoell

    Joachim Hoell

    Der literarische Realitätenvermittler.

    Die Liegenschaften in Thomas Bernhards Roman

    Auslöschung

    2014

    Über dieses Buch

    Ich bin nicht eigentlich Schriftsteller, habe ich zu Gambetti gesagt, nur ein Vermittler von Literatur und zwar der deutschen, das ist alles. Eine Art literarischer Realitätenvermittler, habe ich zu Gambetti gesagt, ich vermittle literarische Liegenschaften sozusagen.

    Thomas Bernhard. Auslöschung. Ein Zerfall, 1986

    Diese Selbsteinschätzung des erzählenden Protagonisten Franz-Josef Murau erhellt aus seiner Tätigkeit in Rom: er ist der Deutschlehrer Gambettis, der diesem die deutsche Literatur nahezubringen versucht. So wird auf den ersten Seiten des Romans ein Kanon zu lesender Werke aufgestellt, die Gambetti auf das aufmerksamste und mit der in seinem Fall gebotenen Langsamkeit studieren soll. Im Verlauf des Romans wird diese Literaturliste ständig erweitert, um am Ende mit einer beträchtlichen Anzahl an Autoren und Werken die freien Regale dieser Bibliothek des bösen Geistes gefüllt zu haben. Der geistesgeschichtliche Horizont, den Murau in diesem Pandämonium absteckt, reicht von Montaigne bis zu Ingeborg Bachmann, von der Spätrenaissance bis in die Gegenwart.

    Joachim Hoell begibt sich auf die literarische Reise nach diesen 'Liegenschaften' und veranschaulicht in dieser größten Monographie zu Bernhards letztem und umfangreichsten Roman

    Auslöschung

    , auf welche Weise Thomas Bernhard von Autoren wie Jean Paul, Novalis, Hebel, Goethe, Kafka, Musil, Broch, Bachmann, Kropotkin, Pavese, Sartre, Montaigne, Descartes, Pascal, Voltaire und Rousseau thematisch, weltanschaulich und ästhetisch geprägt wurde.

    Die intertextuelle Analyse bildet somit einen neuen Schlüssel für das Werk des 1989 verstorbenen österreichischen Schriftstellers.

    Die Originalausgabe dieses Buchs erschien 1995 in der VanBremem Verlagsbuchhandlung in Berlin. Für diese Ausgabe bei epubli wurde das Buch geringfügig überarbeitet und um ein aktives Inhaltsverzeichnis erweitert.

    Pressestimme:

    Realitätenvermittler (österreichisch für Grundstücksmakler) handeln mit Liegenschaften und spielen in Bernhards Leben und Werk eine nicht unwichtige Rolle. Franz-Josef Murau, die Hauptfigur der Auslöschung, bezeichnet sich selbst als einen literarischen Realitätenvermittler. Von dieser Selbsteinschätzung ausgehend, macht der Verf. den Begriff der literarischen Liegenschaft literaturwissenschaftlich fruchtbar. So entsteht eine Topologie im doppelten Sinn des Begriffs. Denn es werden nicht nur die intertextuellen Bezugnahmen, sondern auch ihre Bedeutung als Konstituenten der Figur Muraus und der dargestellten Welt rekonstruiert. Die Arbeit behandelt also im Kontext der zum Teil nur über Autorennamen zitierten, deutsch- und fremdsprachigen Literatur (wobei die Goethezeit und die Moderne sowie autobiographische bzw. philosophische Literatur abgedeckt werden) die zentralen (aber auch schon hinlänglich bekannten) Topoi des Romans wie Kindheit, Krankheit, Politik und Utopie, Romantik sowie das Selbstverständnis des Geistesmenschen in seinem Versuch der autobiographischen Selbstvergewisserung im Akt der Auslöschung. Den Wert der Arbeit macht die solide und umfassende Aufarbeitung dieser topologischen Felder aus.

    Germanistik, Oliver Jahraus, Band 40, 1999

    Über den Autor

    Joachim Hoell, geboren 1966, lebt als Autor in Berlin. Nach Studium und Promotion in Germanistik und Lateinamerikanistik zahlreiche Artikel und Bücher, u.a. Biografien über Thomas Bernhard (dtv 2000, Hörbuch gelesen von Hermann Beil, Tacheles 2006), Ingeborg Bachmann (dtv 2001, Hörbuch gelesen von Sophie Rois, Random House Audio 2006) und Oskar Lafontaine (Lehrach 2004), Mitherausgeber der Gesammelten Schriften von Philipp Mainländer (Olms 1996-1999) und zahlreiche Romanbearbeitungen fürs Hörbuch wie Hörbuchregie, von Autoren wie Louis Begley, Harry Belafonte, T.C. Boyle, Charles Dickens, John Grisham, Richard Ford, Robert Harris, Stephen Hawking, Terézia Mora, Melinda Nadj Abonji, Hanns-Josef Ortheil, Rüdiger Safranski, Frank Schirrmacher, Richard Sennett und Martin Suter. Lehraufträge zu moderner Literatur und Hörbuch an zahlreichen Universitäten. Konzeption und Moderation literarisch-musikalischer Programme, u.a. im Residenzschloss Ludwigsburg.

    … mehr auf www.joachimhoell.de

    Bei epubli von Joachim Hoell erhältlich:

    Der literarische Realitätenvermittler. Die Liegenschaften in Thomas Bernhards Roman Auslöschung. Berlin 1995, 2. Auflage epubli Berlin 2014

    Mythenreiche Vorstellungswelt und ererbter Alptraum. Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard. Berlin 2000, 2. Auflage 2001, 3. Auflage epubli Berlin 2014

    Thomas Bernhard. Ein Portrait. München 2000, 2. Auflage 2003, 3. Auflage epubli Berlin 2014

    Ingeborg Bachmann. Ein Portrait. München 2001, 2. Auflage 2004, 3. Auflage epubli Berlin 2014

    Provokation und Politik. Oskar Lafontaine. Braunschweig 2004, 2. Auflage epubli Berlin 2014

    Der literarische Realitätenvermittler.

    Die Liegenschaften in Thomas Bernhards

    Roman Auslöschung

    Joachim Hoell

    © 2014 Joachim Hoell

    published by: epubli GmbH

    Berlin www.epubli.de

    ISBN 978-3-8442-8585-7

    I.      Einleitung

    Aber wir sind eingeschlossen in eine fortwährend alles zitierende Welt, in ein fortwährendes Zitieren, das die Welt ist ... (Thomas Bernhard

    Verstörung)

    Die Nachricht vom Tod seiner Eltern und seines Bruders führt für den Österreicher Franz-Josef Murau zu einer Reflexion seines Lebens in Rom und seiner Kindheit in Wolfsegg. Der dem Leser vorliegende Bericht ist Muraus literarische Bewältigung seines Herkunftskomplex[es] (A 201), der Auslöschung, die bis auf die Einschübe eines ungenannten Herausgebers identisch mit der

    Auslöschung

    ¹ ist. Obwohl Murau der Verfasser der Schrift ist, behauptet er, daß er nie ein Schriftsteller habe sein wollen, er wollte lediglich etwas aufschreiben, nur für mich (A 617):

    Ich bin nicht eigentlich Schriftsteller, habe ich zu Gambetti gesagt, nur ein Vermittler von Literatur und zwar der deutschen, das ist alles. Eine Art literarischer Realitätenvermittler, habe ich zu Gambetti gesagt, ich vermittle literarische Liegenschaften sozusagen. (A 615)

    Diese Selbsteinschätzung erhellt aus seiner Tätigkeit in Rom: er ist der Deutschlehrer Gambettis, der diesem die deutsche Literatur nahezubringen versucht. So wird auf den ersten zwei Seiten des Romans ein Kanon zu lesender Werke aufgestellt, die Gambetti auf das aufmerksamste und mit der in seinem Fall gebotenen Langsamkeit (A 7) studieren soll. Im Verlauf des Romans wird diese Literaturliste ständig erweitert, um am Ende mit einer beträchtlichen Anzahl an Autoren und Werken die freien Regale dieser "Bibliothek […] des bösen Geistes" (A 149) gefüllt zu haben. Der geistesgeschichtliche Horizont, den Murau in diesem Pandämonium absteckt, reicht von Montaigne bis zu Ingeborg Bachmann, von der Spätrenaissance bis in die Gegenwart.

    Dieses name-dropping scheint gewissermaßen die einzelnen Autoren und Werke einzuebnen, so daß in der Forschungsliteratur zur

    Auslöschung

    zumeist der Brückenschlag zwischen der bedeutungslosen Geste des Hofmeisters und der totalen Auslöschung Muraus konstatiert wird, der den Sinn der Lektüreempfehlungen für den Roman negiert.

    In dieser Arbeit soll entgegen dieser mittlerweile tief verwurzelten Meinung eine Recherche nach den von Murau vermittelten »Liegenschaften« durchgeführt werden; die Bedeutungen für die eigene Schrift des »literarischen Realitätenvermittlers« wie für Thomas Bernhards

    Auslöschung

    müssen dabei eruiert werden. Bernhard als realer Autor des vorliegenden Textes schiebt einen fiktiven Autor vor, um sein eigenes Ich hinter diesem verstecken zu können, ein Kunstgriff, der ihm ein gewaltiges Artikulationsfeld eröffnet. Wie Bernhard diese Möglichkeiten auszuschöpfen trachtet, soll im folgenden ersichtlich werden, denn die Lektüreerfahrungen Muraus sind auch die seinigen, allerdings mit dem qualitativen Unterschied, daß Bernhard diese »Realitäten« im Gegensatz zu Murau zu differenzieren weiß.

    Muraus Empfehlung an Gambetti, auch "Amras von Thomas Bernhard" (A 7) zu studieren, ist ein deutliches Signal, daß Bernhard diese frühe Erzählung aus dem Jahre 1964 in Bezug zur

    Auslöschung

    setzt, um den Kreis zu seinen literarischen Anfängen zu schließen. Darüber hinaus weist der Umstand, daß die

    Auslöschung

    die zuletzt veröffentlichte und die umfangreichste Prosaschrift Bernhards ist, in der seine bevorzugten Literaten und Philosophen vereinigt werden, darauf hin, die

    Auslöschung

    könnte sein literarisches Vermächtnis darstellen, sein opus summum, in dem er Bilanz zieht.

    Die möglichen Bedeutungsfelder dieser »Liegenschaften« sollen im Hauptteil gezeigt werden. Einerseits unter dem Aspekt, daß es Bernhards wichtigste Autoren sind, die ihn thematisch, weltanschaulich und ästhetisch geprägt haben, andererseits, daß es die die Auslöschung konstituierenden Autoren sind, die der fiktive Autor Murau einbringt. Dieser auf zwei Ebenen geführte Dialog mit den sogenannten Prätexten bedarf eines theoretischen Instrumentariums, das im Kapitel »Intertextualität« erarbeitet werden wird. Zuvor soll eine »Zeitliche Einordnung« der

    Auslöschung

    in Bernhards Werkgeschichte die intertextuellen Bezüge innerhalb des eigenen Schaffens umreißen und ein Überblick zur Geschichte des »Realitätenvermittlers« die Konnotationen dieses Berufs in Bernhards Werk darstellen.

    1.      Zeitliche Einordnung der Auslöschung

    Da in dieser Arbeit einerseits die Lektüreerfahrungen Bernhards und andererseits dessen eigenes Werk komparatistisch zur

    Auslöschung

    betrachtet werden, soll eine chronologische Bestimmung innerhalb der Werkgeschichte den Standort des Romans klarstellen.

    Die

    Auslöschung

    ist in den Jahren 1981/82 begonnen worden, wie Kommentare Bernhards vermuten ließen und mittlerweile von seinem Nachlaßverwalter bestätigt wurde. Damit scheint die exakte Einordnung des Romans in die Werkgeschichte eindeutig, denn größere Eingriffe soll Bernhard vor der Veröffentlichung im Jahre 1986 nicht vorgenommen haben.² Warum Bernhard das Manuskript solange unter Verschluß hielt – Horaz’ empfiehlt, aus ästhetischen Gründen, die Blätter des Konzepts sollen in den Pult gelegt werden und dort bis zum neunten Jahr verschlossen liegenbleiben³ -, ist ungeklärt. Eine biographische Spekulation über die Hintergründe, ein inhaltlicher Vergleich zu den 1982 erschienenen Texten

    Beton

    und

    Ein Kind

    und eine thematische Einordnung des Romans in die Werkgeschichte sollen der Betrachtung der »Liegenschaften« im Hauptteil hilfreich zur Seite stehen.

    Biographische Situation

    Die

    Auslöschung. Ein Zerfall

    weist im Titel auf den destruierenden Gestus des Verfassers hin, der auch seinen eigenen Schwanengesang anstimmt, weil ihm sein nahes Ende bevorsteht. Bernhards Krankheitszustand verschlechterte sich seit Ende der siebziger Jahre zunehmend⁴, und dieser existentielle Überlebenskampf spiegelt sich in seinen literarischen Bemühungen des letzten Dezenniums wider. Bernhard rückt seit

    Ja

    (1978) seine eigene Todeskrankheit ins Zentrum seiner Schriften, die latent in

    Wittgensteins Neffe (1982)

    ,

    Beton

    (1982),

    Der Untergeher

    (1983),

    Holzfällen. Eine Erregung

    (1984),

    Der Theatermacher

    (1985) und

    Heldenplatz

    (1988) durchscheint; in

    Auslöschung

    werden in einer tour de force alle Hindernisse umgestoßen, entzweigeschlagen, ausgelöscht.

    Die

    Auslöschung

    scheint als Bernhards literarisches Testament konzipiert zu sein, das die Kardinalthemen wie Kindheit, Austrofaschismus, Katholizismus, Anarchie und Poetikreflexion vereinigt und in einer voluminösen Haßarie⁵ Bilanz zieht. Ästhetische Kommentare, z.B. zur Kunst der Übertreibung, runden den Eindruck ab, Bernhard habe die Veröffentlichung des Romans zurückgestellt, um mit diesem einen Schlußpunkt zu setzen. Die ungeheure Produktivität Bernhards seit

    Korrektur

    (1975) versiegt 1986 nach dem Erscheinen der

    Auslöschung

    , es entstehen noch die Auftragswerke fürs Theater und die bereits 1959 verfaßten Prosaskizzen

    In der Höhe. Rettungsversuch. Unsinn

    werden 1989 veröffentlicht.

    Auslöschung – Beton und Ein Kind

    In

    Beton

    sind die Österreichbeschimpfungen Rudolfs vergleichbar mit denen Muraus und dessen Schwester erinnert, bis hin zur Beschenkung des katholischen Liebhabers, an Muraus Mutter. Die Wirkungslosigkeit der Literatur, der verheißungsvolle Süden, die Verschenkung eines Erbes und die Identität des Erzähler-Ich, das durch Brechung eines Herausgebers der Verfasser der vorliegenden Schrift ist, sind allesamt Variationen der

    Auslöschung

    .

    Für das frühe Datum sprechen auch Korrelationen zu dem letzten Band der autobiographischen Tetralogie

    Ein Kind

    . Die in der

    Auslöschung

    stattfindende Abrechnung mit der Kindheit gleicht in der Schilderung einzelner Episoden, z.B. den Beschimpfungen und Züchtigungen durch die Mutter (A 88/98), der Abtreibung des ungeliebten Kindes (A 290f.) und der Friedhofsbesuche (A 450f.) diesem Kindheits-Werk, wobei die allegro-Töne in

    Ein Kind

    den adagio molto-Tönen in der

    Auslöschung

    gegenüberstehen; aber es handelt sich eben um die neue Fassung von Onkel Georgs verschollener Antiautobiografie (A 198).

    Für eine Überarbeitung kurz vor Erscheinen spräche lediglich die politische Dimension der

    Auslöschung

    , die zu der in dieser Zeit heftig diskutierten Waldheim-Kontroverse paßte, welche schon in

    Alte Meister

    (1985) von Reger erwähnt wird (s. AM 213ff.), aber in der

    Auslöschung

    einen der Angelegenheit und dem Zeitpunkt angemesseneren, bitteren Ton anschlägt; dies mag jedoch eine Bernhardsche Prophezeiung gewesen sein.

    Die Wendemarke

    In Bernhards Prosa der 60er Jahre ist der Dualismus zwischen einem Künstler und einem (Natur-)Wissenschaftler gegeben, die Protagonisten der 70er Jahre (bis

    Beton

    , 1982) sind ausnahmslos Wissenschaftler, in den letzten Romanen,

    Der Untergeher

    (1983),

    Holzfällen

    (1984) und

    Alte Meister

    (1985) sind es Künstler.⁷ Die

    Auslöschung

    steht an der Schwelle der Werkentwicklung, denn der Protagonist Murau bezeichnet sich nicht nur als Geistesmensch (A 47/149) und als Verstandesmensch (A 288), sondern wird in seiner Tätigkeit als Lehrer, Schriftsteller und Verfasser von Aufsätzen über Leos Janácek (A 20), Pascal, Bohuslav Martinu, Marias Gedichten (A 517) als Wissenschaftler (A 406) und Künstler ausgewiesen. Zudem ist er der einzige Protagonist in Bernhards Prosa, der sich explizit mit Literatur beschäftigt – und zwar als Autor und als Kritiker.

    Dieser Absolutheitsanspruch Muraus unterscheidet ihn von den Künstlergestalten in

    Untergeher

    ,

    Holzfällen

    und

    Alte Meister

    , die mit Humor und Komik gegen ihre Umwelt vorgehen, um letzten Endes so die Existenz auszuhalten (A 612).

    2. Realitätenvermittler

    Die Poësie ist das ächt absolut Reelle. (Novalis)

    Der des Österreichischen nicht mächtige Leser vermeint in dem Begriff des Realitätenvermittlers einen in Bernhards Werk üblichen Neologismus zu erkennen.⁹ Der Fremdwörter-Duden jedoch führt den Begriff der Realität als das österreichische Synonym für Grundstück und weist den Begriff des Realitätenvermittlers als Grundstücksmakler aus.¹⁰

    Deswegen bleibt der Sinn des Wortes Realität, welches seinem lateinischen Ursprung nach Wirklichkeit, Gegebenheit und Tatsache bedeutet, trotzdem bestehen. Daß dem Wort »Realitäten« auch dieser Sinngehalt im Bernhardschen Gebrauch zukommt, wird im folgenden ersichtlich werden.

    Ein drittes Bedeutungsfeld ergibt sich aus der Philosophie. Im Kontext zu Muraus »literarischer Realitätenvermittlung« wird klar, daß Bernhard unmittelbar an die Philosophie der romantisch-idealistischen Epoche anknüpft. Die Einsicht, daß der absoluten Erkenntnis in der Philosophie Grenzen gesetzt sind, leitet zu einer Verabsolutierung der Kunst. Wo die Philosophie aufhört, muß die Poesie anfangen¹¹, fordert Friedrich Schlegel und Novalis formt die ausführlichste Begründung der Kunst als Realität aus, z.B.: Die Kunst ist das Selbstbewußtsein des Universums (Novalis 2, 647), Alle dichterische Natur ist Natur […]. Sie ist allein Realität (Novalis 3, 693) oder Die Poësie ist das ächt absolut Reelle. […] Je poëtischer, je wahrer (Novalis 2, 647).

    Dieser in die Romantik zurückweisende Begriff des »literarischen Realitätenvermittlers« wird in der Untersuchung der »Liegenschaften« noch vertieft werden; Autoren wie Jean Paul, Musil, Kafka, Pavese und Bachmann haben ihr Leben wie ihr Schreiben in einen kompatiblen Realitätsbegriff zu fassen versucht, und variieren den romantischen Gedanken einer Universalpoesie.

    Bernhard wählt eine Vokabel, die in ihrer dialektalen, ihrer etymologischen wie in ihrer philosophischen Bedeutung verstanden werden kann und muß.

    Der Realitätenvermittler in Bernhards Prosa

    Meine Grundstücke sind meine Themen. […] Die Welt ist, wie Sie wissen, eine Möglichkeitswelt, meine Grundstücke sind Möglichkeitsgrundstücke, wie die Philosophien Möglichkeitsphilosophien sind. (Bernhard Er

    98

    )¹²

    Im Sinne des österreichischen Sprachgebrauchs, also als Grundstücksmakler, trat der Realitätenvermittler schon in mehreren Schriften vor der

    Auslöschung

    in Erscheinung.

    In

    Verstörung

    (1967) statten Vater und Sohn einem gewissen Bloch, Realitätenbürobesitzer (V 22), einen Besuch ab. Dieser Jude Bloch lebe seinem Geschäftsvergnügen, pflege jedoch mit dem Vater des Erzählers eine Freundschaft, die »ihr Philosophisches in sich hat« (V 22). Bloch ist Besitzer einer Bibliothek, in welcher man »vergleichende politische Wissenschaften, angewandte Naturgeschichte, Literaturgeschichte« betreibe, wobei die Künste [...] die meiste Zeit zu kurz [kämen], aber Blochs Frau zuliebe öffne man sich auch ihnen zeitweilig. (V23) Die philosophischen Werke, die Bloch dem Vater ausleiht, sind Bücher von Kant, Marx, Nietzsche, Pascal und Diderot. Die Begründung für diese Auswahl gibt der Vater seinem Sohn, dem Erzähler, nach Verlassen des Blochschen Hauses:

    Er wende sich jetzt mehr und mehr den französischen Schriftstellern zu und von den deutschen ab. Im Grunde aber habe er nie ein echtes Bedürfnis nach einer unwissenschaftlichen, nach der poetischen Literatur gehabt, und diese seine Eigenschaft verstärke sich offensichtlich. Für die sogenannte Schöne Literatur sei er in dem Grade, in welchem er sich Klarheit und Folgerichtigkeit verschaffen könne, immer weniger aufgeschlossen, er schaue sie als eine in jedem Fall peinliche, ja in großen Zügen lächerliche Verfälschung der Natur an. (V 26)

    Dies erscheint wie eine Selbsteinordnung Thomas Bernhards, der sich in der zweiten Phase seiner Prosa dem (natur-)wissenschaftlichen Ideal zuwandte, um in der dritten Phase sich wieder der Schönen Literatur und den Künsten zuzuwenden.

    Dieser philosophische Makler handelt nicht nur mit Grundstücken, sondern auch mit Büchern, die sich der Vater des Studenten ausleiht. Bloch ist zwar primär Vermittler von Liegenschaften, sekundär jedoch Vermittler von Literatur und von Büchern und weist in dieser Doppelfunktion schon auf den literarischen Realitätenvermittler Franz-Josef Murau hin.

    In der Erzählung

    Der Wetterfleck

    (1969) spekuliert der Anwalt Enderer darüber, ob der bei ihm eintretende Klient Realitätenvermittler, Liegenschaftskäufer sei, da diese Leute [...] solche Wetterflecke in solcher Körperhaltung [tragen] und [...] derartige Gesichter (Er 138) haben. Der Verdacht des Anwalts ist, daß er Realitätenvermittler [sei], einer von diesen Männern, die in ihren Wetterflecken herumgehen und wie die Ärmsten der Armen ausschauen, und doch den ganzen Liegenschaftsmarkt der inneren Alpen beherrschen (Er 138f.), wobei Enderer dann erfährt, daß es sich bei Humer um den Besitzer des Bestattungswäschegeschäft[es] (Er 142) handle. Dieser stürzt sich nach dem Gespräch in der Anwaltskanzlei aus einem Dachbodenfenster seines Hauses (Er 168), weil er von seinem Sohn und dessen Frau genötigt wurde, im eigenen Haus ständig umzuziehen und letztlich völlig isoliert im Dachgeschoß verkümmere, was ihn umbringe (Er 167).

    Humer, dessen Name die Assoziation an den schottischen Philosophen David Hume evoziert, ähnlich wie Bloch in

    Verstörung

    natürlich an den gleichnamigen deutschen Philosophen erinnert, scheint lediglich auf diese namentliche Korrespondenz zu einem geistigen Vermittler reduziert worden zu sein; schließlich ist er auch nicht der vermeintliche Realitätenvermittler.

    Der Realitätenvermittler Moritz aus

    Ja

    (1978) bedeutet anfangs für den Ich-Erzähler die erhoffte, Rettung (J 8), die dann indirekt durch dessen Vermittlung an die Perserin eintritt. Die Liegenschaften, die dem Schweizer und seiner Frau, der Perserin, von Moritz vermittelt werden, besiegeln das Schicksal des verlorene[n], letztenendes vernichtete[n] Mensch[en] (J 144f.) Der Erzähler verdankt der Perserin als Spiegel seiner selbst die Rettung: War es nicht mein eigener Zustand, den mir die Perserin jetzt so auf dem Baumstumpf sitzend, vorgeführt hatte?(J 134). Moritz’ doppelte Realitätenvermittlung, nämlich der Perserin das abstoßendste Grundstück (J 134) verkauft zu haben und dem Ich die Bekanntschaft mit ihr vermittelt zu haben,

    [welche] aus Hunderten und Aberhunderten von für mich lebensrettenden Gründen, welche in der Person der Perserin konzentriert für mich sichtbar und in hohem Maße sofort nützlich gewesen waren, [bestand] (J 76),

    ist seine Funktion. Das lebensbejahend konnotierte Ja des Romans, welches nach dem Suizid der Perserin einen bitteren Geschmack zurückläßt, ist ein solches lebensrettendes zumindest für den Erzähler. Dieser quälte sich mit Selbstmordgedanken (J 76), wird aber von der Perserin davor bewahrt, die ihr Ja auf die Frage , ob sie selbst sich eines Tages umbringen werde (J 148), einlöst und an seiner Stelle ihre Existenz auslöscht. Der Realitätenvermittler Moritz hat in

    Ja

    nicht nur die Rolle der Grundstücksvermittlung inne, sondern auch die der Existenzvermittlung.¹³

    In

    Beton

    (1982) ist die in Haß-Liebe des Erzählers geschilderte Schwester Elisabeth Inhaberin eines Realitätenvermittlungsgeschäft[es] (Be 16). Dies erwarb sie durch Heirat mit einem Realitätenvermittler, den sie nach Peru vertrieb, um das Geschäft zur Gänze an sich zu reißen (Be 16). Sie ist ein Geschäftsmensch (Be 16f.) und steht dem Bruder darin diametral gegenüber: Ich rede nie von Geld und habe es, sagte sie einmal, du redest nie von Philosophie und hast sie (Be 68).

    Die realitätenvermittelnde Schwester ist dies für den Bruder im engsten Sinne des Wortes, nämlich als Vermittlerin von Wirklichkeit, denn sie ist bei klarem Verstand, der ihr niemals abzusprechen gewesen ist (Be 52), und liebt ihn, weil [er] so phantastisch (Be 52) ist. Die immer wieder durch sie erhoffte Beruhigung tritt nicht direkt ein, jedoch motiviert sie ihn, nach Palma zu reisen, wo er der Anna Härdtl begegnet, die dann seine vorläufige Rettung bedeutet, denn [t]atsächlich richten wir uns an einem noch unglücklicheren Menschen sofort auf (Be 210).

    Das letzte Mal wird ein Realitätenvermittler in

    Der Untergeher

    (1983) genannt, wobei dies nur en passant, wenn das Philosophen-Ich über den etwaigen Verkauf seines Hauses räsoniert: Ohne Realitätenvermittler ist kein Verkauf möglich, und vor den Realitätenvermittlern graust es mich, dachte ich (U 189). Dies könnte eine werkinterne Anspielung Bernhards sein, der sich auf diese Weise von der zuvor geschaffenen Figur des Realitätenvermittlers Murau abwendet.

    Die Wiederkunft des Realitätenvermittlers als literarischer ist bereits antizipiert. Seine Bedeutung umfaßt jeweils mehr als die eines Grundstücksmaklers, die Vermittlung von Literatur-Realitäten (Bloch in

    Verstörung

    ), von Existenz-Realitäten (Moritz in

    Ja

    ), von Verstandes-Realitäten (Schwester in

    Beton

    ) belegt dies.

    Letztendlich repräsentiert Murau, wie jede dieser Figuren, den klassischen »Geistesmenschen« aus der Bernhardschen Literaturfabrik, den Josef Quack folgendermaßen charakterisiert:

    […] das Ideal des ‘Geistesmenschen’, ein wahrhaft unzeitgemäßer Begriff, eine fast rührend altmodische Vorstellung. […] Ein Geistesmensch ist nach Bernhard dadurch gekennzeichnet, daß er nicht in der normalen Geschäftigkeit des Alltags aufgeht, sondern sich ganz allgemein für künstlerische oder philosophische Dinge interessiert.¹⁴

    Daß dieser Geistesmensch nicht in der normalen Geschäftigkeit des Alltags aufgeht, ist zwar richtig, vermag hingegen nicht die politische Dimension seiner Beobachtungen schmälern, wie in dieser Arbeit noch deutlich werden wird, denn die so eindringlichen und quälenden Reize, die er dabei der Welt zu geben vermag, sind in höchstem Maße modern und aktuell. Eine Wendung Adornos rehabilitiert diesen Bernhardschen Typus, der sich immerhin gegen die ungeistigen Menschen und deren Verbrechen richtet: „Das Wort ‘geistiger Mensch’ mag abscheulich sein, aber daß es so etwas gibt, merkt man an dem Abscheulicheren, daß einer kein geistiger Mensch ist."¹⁵

    Muraus Bezeichnung »literarischer Realitätenvermittler« und »Geistesmensch« verrät bereits ein wichtiges Charakteristikum seiner Person, nämlich seiner Beschwörung der romantisch-idealistischen Epoche, als der schöpferische Geist über den bloßen Verstand dominierte. Dies verdeutlichen Muraus Invektiven gegen die Photographie als Teufelskunst unserer Zeit (A 243) und als das größte Unglück des zwanzigsten Jahrhunderts (A 30). Die kreative Phantasie des Künstlers wird gegen die einfache, realistische Abbildung der Photographie gesetzt. Gößling bezeichnet dies als als ein Symbol der großen Kontroverse, die im Neunzehnten Jahrhundert gewissermaßen zwischen dem ‘Geist’ und seinem abtrünnigen Sohn, dem ‘Verstand’, ausgefochten wurde¹⁶, als letzten Feldzug Muraus gegen den unausweichlichen Siegeszug des Positivismus, der metaphysisch-spekulatives Denken idealistischer und romantischer Herkunft verdrängte¹⁷.

    3. Intertextualität

    Der Begriff der »Intertextualität« bezeichnet die wechselseitigen Beziehungen zwischen Texten.

    Ein breiter Konsens, welchen Charakters diese Beziehungen sind, konnte in den unzähligen Studien, die in den letzten Jahren zu diesem Thema erschienen, allerdings nicht gefunden werden. Vielmehr hat sich die Intertextualität zu einem der schillerndsten Begriffe der Literaturtheorie entwickelt, der beinahe so viele kontrastierende Ansätze hervorbrachte wie Bestimmungsversuche darüber. Oftmals handelt es sich jedoch nur um Marginalien oder Aperçus globalerer Systeme, die vergröbert, zwei konträren Textauffassungen entspringen: ein völlig entgrenzter konkurriert mit einem enger gefaßten Textbegriff.

    In mehreren Publikationen der letzten zehn Jahre zeigt sich das Bemühen der Verfasser, in dieses Dunkel Licht zu bringen; erwähnenswert sind die Monographie von Gérald Genette

    Palimpsestes (1982)

    ¹⁸, und die aus Symposien hervorgegangenen Sammelbände

    Dialogizität (1982)

    ¹⁹ und

    Intertextualität (1985)

    ²⁰. Die Titel dieser Bände deuten bereits auf unterschiedliche Termini hin: Genette z.B. verwendet für den umfassenden Begriff der Intertextualität den der Transtextualität, der sich wiederum aus Intertextualität, Paratextualität, Metatextualität, Hypertextualität und Architextualität zusammensetzt²¹; die Aufsätze in

    Dialogizität

    berufen sich explizit auf Bachtins »Ästhetik des Wortes«²² und lehnen dabei den von Kristeva geprägten Begriff der Intertextualität als Verkürzung von Bachtins Dialogizität ab²³; in dem Band

    Intertextualität

    wird ein systematischer Überblick zum Thema gegeben, um die Theorie in ihrer umfassenden Dimension zu fassen. Der letztgenannte Reader wird wegen seiner thematischen Geschlossenheit und Systematik am häufigsten in dieser Arbeit konsultiert werden, da er für die Untersuchung der Murauschen »literarischen Realitätenvermittlung«, die eines theoretischen Gerüstes bedarf, am zweckdienlichsten ist.

    Der Komplexität der Theorien wegen wird im folgenden eine Auffächerung in die die

    Auslöschung

    tatsächlich tangierenden Punkte, die für den Vergleich im Hauptteil nützlich werden, vorgenommen: Erwähnung werden die Themenkreise, Formen, Markierung, Bezugsfelder, Skalierung und Autor-Autoreflexivität finden. Ein kurzer Überblick zur literartheoretischen Entstehung der Intertextualität soll den geschichtlichen Ort ihrer Begründer umreißen und somit eine Einführung in die grundsätzliche Problematik geben.

    Geschichte

    Jeder einzelne Text hat Vorgänger- und Folge-Texte, d.h. er repräsentiert einen Zwischen-Text in der Diachronie der poetischen Evolution.²⁴

    Julia Kristeva prägte den Terminus in den sechziger Jahren mit explizitem Rückgriff auf Michail Bachtins Begriff der »Dialogizität«. Bachtin kritisierte die Erstarrung der postrevolutionären Kulturpolitik in der

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