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Mythenreiche Vorstellungswelt und ererbter Alptraum.: Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard
Mythenreiche Vorstellungswelt und ererbter Alptraum.: Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard
Mythenreiche Vorstellungswelt und ererbter Alptraum.: Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard
eBook725 Seiten7 Stunden

Mythenreiche Vorstellungswelt und ererbter Alptraum.: Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard

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Über dieses E-Book

Ingeborg Bachmann bekennt, daß sie durch die "mythenreiche Vorstel-lungswelt" ihrer ›Heimat‹ beherrscht sei, Thomas Bernhard bezeichnet die-se ›Heimat‹ als "ererbten Alptraum". Beide Autoren befassen sich in ihrem Werk mit zwei Mythen, die das österreichische Bewußtsein der Nachkriegs-zeit bestimmen: dem Mythos des Habsburgischen und dem Mythos vom Opfer Hitlerdeutschlands. Diese Hinwendung zu Österreich findet literarisch statt, denn ihre bevorzugten Autoren stammen aus Österreich und teilen mit ihnen die große geschichtliche Vergangenheit des Habsburger Reiches, aber auch die Phase des Nationalsozialismus.
Mit der literarischen Bearbeitung von Joseph Roths ›Trotta‹-Romanen und Jean Amérys ›Bewältigungsversuchen‹ in Bachmanns Simultan sowie Hans Leberts Roman Die Wolfshaut in Bernhards Frost beziehen sich beide auf zentrale Texte für ein österreichisches, aber auch für ein geschichtliches Bewußtsein.


Pressestimme:

… mit dem detaillierten Nachweis, daß Bernhards literarische Auseinander-setzung mit seiner österr. Heimat und ihrer Geschichte (bis zu 'Auslö-schung') als motivische und narrative Montage bzw. Demontage von Le-berts 'Wolfshaut' angelegt ist, hat der Verf. einen wichtigen Beitrag zur Bernhard-Forschung und zur Erforschung zentraler Paradigmen der österr. Nachkriegsliteratur vorgelegt.
Irmela von der Lühe, Germanistik, Bd. 42, 2001
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum18. Feb. 2014
ISBN9783844285390
Mythenreiche Vorstellungswelt und ererbter Alptraum.: Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard

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    Buchvorschau

    Mythenreiche Vorstellungswelt und ererbter Alptraum. - Joachim Hoell

    Über dieses Buch

    Ingeborg Bachmann bekennt, daß sie durch die »mythenreiche Vorstellungswelt« ihrer ›Heimat‹ beherrscht sei, Thomas Bernhard bezeichnet diese ›Heimat‹ als »ererbten Alptraum«. Beide Autoren befassen sich in ihrem Werk mit zwei Mythen, die das österreichische Bewußtsein der Nachkriegszeit bestimmen: dem Mythos des Habsburgischen und dem Mythos vom Opfer Hitlerdeutschlands. Diese Hinwendung zu Österreich findet literarisch statt, denn ihre bevorzugten Autoren stammen aus Österreich und teilen mit ihnen die große geschichtliche Vergangenheit des Habsburger Reiches, aber auch die Phase des Nationalsozialismus.

    Mit der literarischen Bearbeitung von Joseph Roths ›Trotta‹-Romanen und Jean Amérys ›Bewältigungsversuchen‹ in Bachmanns Simultan sowie Hans Leberts Roman Die Wolfshaut in Bernhards Frost beziehen sich beide auf zentrale Texte für ein österreichisches, aber auch für ein geschichtliches Bewußtsein.

    Die Originalausgabe dieses Buchs erschien 2000 in der VanBremem Verlagsbuchhandlung in Berlin. Für diese Ausgabe bei epubli wurde das Buch geringfügig überarbeitet und um ein aktives Inhaltsverzeichnis erweitert.

    Pressestimme:

    … mit dem detaillierten Nachweis, daß Bernhards literarische Auseinandersetzung mit seiner österr. Heimat und ihrer Geschichte (bis zu 'Auslöschung') als motivische und narrative Montage bzw. Demontage von Leberts 'Wolfshaut' angelegt ist, hat der Verf. einen wichtigen Beitrag zur Bernhard-Forschung und zur Erforschung zentraler Paradigmen der österr. Nachkriegsliteratur vorgelegt.

    Irmela von der Lühe, Germanistik, Bd. 42, 2001

    Über den Autor

    Joachim Hoell, geboren 1966, lebt als Autor in Berlin. Nach Studium und Promotion in Germanistik und Lateinamerikanistik zahlreiche Artikel und Bücher, u.a. Biografien über Thomas Bernhard (dtv 2000, Hörbuch gelesen von Hermann Beil, Tacheles 2006), Ingeborg Bachmann (dtv 2001, Hörbuch gelesen von Sophie Rois, Random House Audio 2006) und Oskar Lafontaine (Lehrach 2004), Mitherausgeber der Gesammelten Schriften von Philipp Mainländer (Olms 1996-1999) und zahlreiche Romanbearbeitungen fürs Hörbuch wie Hörbuchregie, von Autoren wie Louis Begley, Harry Belafonte, T.C. Boyle, Charles Dickens, John Grisham, Richard Ford, Robert Harris, Stephen Hawking, Terézia Mora, Melinda Nadj Abonji, Hanns-Josef Ortheil, Rüdiger Safranski, Frank Schirrmacher, Richard Sennett und Martin Suter. Lehraufträge zu moderner Literatur und Hörbuch an zahlreichen Universitäten. Konzeption und Moderation literarisch-musikalischer Programme, u.a. im Residenzschloss Ludwigsburg.

    … mehr auf www.joachimhoell.de

    Bei epubli von Joachim Hoell erhältlich:

    Der literarische Realitätenvermittler. Die Liegenschaften in Thomas Bernhards Roman Auslöschung. Berlin 1995, 2. Auflage epubli Berlin 2014

    Mythenreiche Vorstellungswelt und ererbter Alptraum. Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard. Berlin 2000, 2. Auflage 2001, 3. Auflage epubli Berlin 2014

    Thomas Bernhard. Ein Portrait. München 2000, 2. Auflage 2003, 3. Auflage epubli Berlin 2014

    Ingeborg Bachmann. Ein Portrait. München 2001, 2. Auflage 2004, 3. Auflage epubli Berlin 2014

    Provokation und Politik. Oskar Lafontaine. Braunschweig 2004, 2. Auflage epubli Berlin 2014

    Mythenreiche Vorstellungswelt und ererbter Alptraum.

    Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard

    © 2014 Joachim Hoell

    published by: epubli GmbH

    Berlin www.epubli.de

    ISBN 978-3-8442-8539-0

    Die Wichtigkeit von Traditionen. Es genügt nicht, irgendwo nicht hinzugehören, wir sollten auch möglichst genau wissen, wohin wir nicht gehören.

    Imre Kertész

    I      Einleitung

    Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard befassen sich in ihrem Werk mit zwei Mythen, die das österreichische Bewußtsein der Nachkriegszeit bestimmen: dem Mythos des Habsburgischen und dem Mythos vom Opfer Hitlerdeutschlands. Bachmann bekennt in dem frühen Text Biographisches, daß sie noch immer durch die »mythenreiche Vorstellungswelt« (Bachmann 4, 302) ihrer ›Heimat‹ beherrscht sei, Bernhard bezeichnet diese ›Heimat‹ in Auslöschung als »ererbten Alptraum« (Bernhard, A 482). Die aggressive Abrechnung Bernhards mit der auf dem Opfermythos beharrenden österreichischen Gesellschaft und die liebevolle Hinwendung Bachmanns zu einer untergegangenen Welt sind die zwei Pole ihrer literarischen Auseinandersetzung mit Österreich. Umgekehrt wendet sich Bernhard in seinem Œuvre in die Habsburger Zeit zurück, während Bachmann die nationalsozialistische Zeit und ihre Verdrängung ins Zentrum ihrer Arbeit rückt.

    Das Spannungsverhältnis zu der gemeinsamen ›Heimat‹ Österreich illustrieren in Bernhards Auslöschung die Figuren Franz-Josef Murau und Maria, hinter denen sich Bernhard und Bachmann verbergen. Das Leben der beiden Exilanten in Rom wie die Kunst sind Fluchtpunkte, die die Gegenwelt zu Österreich darstellen. Die künstlerischen Anstrengungen des Literaten und der Dichterin wenden sich zurück in die ›Heimat‹. Murau versucht in der Schrift Auslöschung seinen ›Herkunftskomplex‹ in Gestalt der auf ihm lastenden österreichischen Nachkriegsgeschichte zu überwinden, Marias ›sogenanntes böhmisches Gedicht‹ – ein Hinweis auf Bachmanns Böhmen liegt am Meer – zeigt die Verbundenheit zur ›Heimat‹ in den Grenzen des Habsburger Reiches. Die Gespräche der beiden Figuren und ihre Biographien sind geschichtlich aufgeladen: Maria sucht in dem Wort ›Heimat‹ Zuflucht, Murau quittiert diese Sehnsucht mit einem Lachen.

    Der Diskurs über ›Heimat‹ in der imaginierten Begegnung wirft die Frage nach dem Verhältnis der Autoren zu Österreich auf. Beide setzen sich in ihrem Werk intensiv mit der Nachkriegszeit in Österreich auseinander. Als femme des lettres und homme des lettres leisten sie diese Arbeit literarisch, in der Kunst und durch die Kunst. In jedem Text Bachmanns und Bernhards schimmert ein Palimpsest anderer Texte durch, die explizit oder implizit genannt werden. Ihre Hinwendung zu Österreich findet literarisch statt, denn ihre bevorzugten Autoren stammen aus Österreich und teilen mit ihnen die große geschichtliche Vergangenheit des Habsburger Reiches, aber auch die Phase des Nationalsozialismus. Mit der literarischen Bearbeitung von Joseph Roths ›Trotta‹-Romanen und Jean Amérys ›Bewältigungsversuchen‹ in Simultan sowie Hans Leberts Roman Die Wolfshaut in Frost beziehen sich Bachmann und Bernhard auf zentrale Texte für ein österreichisches, aber auch für ein geschichtliches Bewußtsein.

    Bernhards Romandebüt Frost aus dem Jahre 1963 schlägt die Klaviatur aus Themen, Motiven und Sprache an, die bestimmend bleiben sollte in seinem Prosawerk. Der Roman wird der ›Antiheimatliteratur‹ zugerechnet, der die Zerstörung der zwei österreichischen Mythen auf die Fahne geschrieben wird. Das Genre begründet Leberts Wolfshaut aus dem Jahre 1960, in dem erstmals die österreichische Provinz und ihre postfaschistische Bevölkerung beschrieben werden. Obwohl Bernhard die Wolfshaut nirgends erwähnt hat, lassen sich mit besonderem Blick auf beide Arbeiten eine Fülle von Parallelen aufzeigen, die deutlich machen, daß Bernhard in Frost Leberts Roman thematisch und motivisch fortschreibt. Im kurz danach entstandenen Fragment Der Italiener greift er den in Leberts Wolfshaut im Zentrum stehenden Mordstoff auf und gestaltet den ersten Versuch einer literarischen Vergangenheitsbewältigung. Der Italiener enthält bereits das Wolfsegg-Sujet, das über die Verfilmung bis hin zur Auslöschung führt. Die in Leberts Roman gestaltete Anti-Österreich-Thematik markiert in Bernhards Bearbeitung den Beginn seines Prosaschaffens und führt auf sein Hauptwerk Auslöschung zu.

    Im Jahre des Erscheinens von Frost und der Niederschrift von Der Italiener beginnt Ingeborg Bachmann die Arbeit am »Todesarten«-Projekt. Innerhalb der großangelegten Sittengeschichte der österreichischen Nachkriegsgesellschaft werden nur Malina und die Simultan-Erzählungen vollendet. Drei Wege zum See als die abschließende und resümierende Erzählung in Simultan ist der zuletzt verfaßte und zu Lebzeiten publizierte Text Bachmanns, in welchem sie sich deutlich in ihre ›Heimat‹ zurückwendet. In der Fortschreibung der ›Trotta‹-Romane Roths und der ›Bewältigungsversuche‹ Amérys verknüpft sie in Simultan zwei Autoren, deren Werk eng mit den beiden österreichischen Mythen verbunden ist. Roth gilt als der große Beschwörer der k.u.k.-Zeit, Améry verarbeitet seine Erfahrungen unter der Nazidiktatur.

    Da die Werke beider Autoren durch ihre thematische und räumliche Geschlossenheit gekennzeichnet sind – Bachmanns Todesarten greifen ausdrücklich auf Balzacs Modell der Comédie humaine zurück, Bernhards Prosawerk kann als ein einziger langer Text gelesen werden – vermag die konzentrierte Untersuchung eines einzigen Textes Aufschluß über die polare Spannung von ›mythenreicher Vorstellungswelt‹ und ›ererbtem Alptraum‹ in ihren Œuvres zu geben.

    Das Streitgespräch zwischen Murau und Maria im Roman Auslöschung ist der Einstieg in den Vergleich von Bachmann und Bernhard. Am Anfang dieser Arbeit steht eine Beschreibung dieser fiktionalen Zusammenkunft, der biographischen Hintergründe und der Dialektik von Auslöschung und Utopie in Roman und Gedicht. Ein Abriß der Studien zum ›Haus Österreich‹, das im ›Habsburgischen Mythos‹ und der ›Antiheimatliteratur‹ seine Eckpfeiler hat, legt den Rahmen für die Darstellung des in Frost, Italiener und Simultan zum Ausdruck gebrachten Geschichtsbewußtseins von Bernhard und Bachmann fest.

    Bachmanns Erzählzyklus Simultan wird als Fortschreibung von Roths ›Trotta‹-Romanen und Amérys ›Bewältigungsversuchen‹ ausgelegt, Bernhards Roman Frost und das Fragment Der Italiener vor dem Hintergrund von Leberts Wolfshaut gedeutet. Die entfaltete Struktur legt eine Ordnung von Begriffen und Relationen frei, in der die beiden Autoren und ihre Behandlung der genannten Mythen eng miteinander verbunden sind.

    Am Ende der Untersuchung werden die in den einzelnen Kapiteln erarbeiteten Zusammenhänge und Begriffe aufeinander bezogen, verglichen, kritisch erörtert und einer Deutung unterworfen.

    1.      Auslöschung und Utopie. Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard

    Die Bachmann ist verbrannt.

    Thomas Bernhard ist sein Leben lang erstickt.¹

    Elfriede Jelinek

    Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard haben sich in den sechziger Jahren kennengelernt. In Bernhards nachrufartiger Skizze In Rom, die 1978 in der Sammlung Der Stimmenimitator erscheint, spricht er von Bachmann »als dem ersten Gast in meinem noch völlig leeren Hause« (Bernhard, St 167) – das wäre also 1965 gewesen. Dokumentiert sind spätere Treffen. Hilde Spiel berichtet von einem Schriftstellerempfang in der Wiener Hofburg im Jahre 1969, bei welchem Bernhard neben Bachmann gesessen habe.² Im Jahre 1972 hatte Bachmann die Absicht, sich in der Nähe von Bernhard ein Haus über den Realitätenvermittler Hennetmair zu kaufen. Bernhard vereitelte diesen Plan in letzter Minute, indem er das für Bachmann ausgewählte Objekt selbst erwarb.³

    Die Beziehung zwischen den Schriftstellern schlug sich literarisch nieder: Im Jahre 1969 verfaßt Bachmann die Skizze Thomas Bernhard: Ein Versuch, in der sie das Neue an seinen Texten lobt, für das noch keine Zeit gekommen sei. »Es ist nicht brauchbar, noch nicht brauchbar, integrierbar auch nicht, es steht ja alles darin.« (Bachmann 4, 363) Bernhard antwortet kurz nach der Erstpublikation dieses Entwurfes in der Gesamtausgabe 1978 mit dem kurzen Text In Rom, in welchem er sie als »intelligenteste und bedeutendste Dichterin, die unser Land in diesem Jahrhundert hervorgebracht hat« (Bachmann, St 167), bezeichnet. Die literarische Wertschätzung der zwei bedeutendsten österreichischen Nachkriegsautoren ist damit belegt, das persönliche Verhältnis war anscheinend ein wenig kompliziert, vielleicht aus Angst vor zu großer Nähe, vielleicht aus Angst vor der künstlerischen Größe des anderen.

    Zehn Jahre nach Bachmanns Tod schreibt Bernhard Auslöschung. Ein Zerfall. Der Roman liegt als literarisches Testament einige Jahre im Tresor, um 1986 als längster und letzter Prosatext veröffentlicht zu werden – und um die eher unauffällige Verbindung Bachmann-Bernhard unversehens bedeutungsvoll werden zu lassen. Die Figur der Maria in Auslöschung wird bereits in den Rezensionen als Portrait der Bachmann erkannt, ebenso wie Marias gepriesenes böhmisches Gedicht als Bachmanns Böhmen liegt am Meer gedeutet wird. Daß Bernhard ausgerechnet in seinem Hauptwerk – als welches sich die Auslöschung mittlerweile, wohl auch von Bernhard intendiert, etabliert hat – diese überraschend positive Frauenfigur schafft, läßt eine tragende Bedeutung der Maria/Bachmann vermuten. Die Forschung hat die Fährte aufgenommen und verschiedene Erklärungsmuster für diese Reverenz gegeben: Als »überhöhte, verklärte Weiblichkeit«⁴ bezeichnet Mireille Tabah die Figur der Maria, »ein Zusammenhang im Denken« und »eine Differenz im Schreiben«⁵ zwischen Bachmann und Bernhard wird von Holger Gehle konstatiert, und Bettina Bannasch liest Muraus Gelächter über Marias Heimatbegriff als Kritik an Bachmanns idealisiertem Österreichbild in Drei Wege zum See.⁶ An dieser Stelle sollen Böhmen liegt am Meer und Auslöschung als dialektisches Prinzip von Auslöschung und Utopie dargestellt werden; Bernhard schreibt die geistige ›Heimat‹ des Bachmannschen Gedichtes auf diese Weise in seinen Roman ein.⁷

    Thomas Bernhard wählt in Auslöschung wie immer einen Ich-Erzähler als Alter ego: den achtundvierzigjährigen Österreicher Murau, wohnhaft in Rom und dort als Deutschlehrer tätig. Ausgangspunkt ist die Auslöschung von Muraus Familie bei einem Autounfall, und der programmatische Titel seiner Lebensbeichte lautet entsprechend Auslöschung. Er komponiert allerdings nicht nur die Totenmesse seiner Familie, sondern auch die seiner gehaßten ›Heimat‹ Österreich und die Europas und der ganzen Welt gleich mit. Am Ende teilt ein ungenannter Herausgeber den Tod Muraus mit.

    Was hat Ingeborg Bachmann alias Maria in diesem Österreich-Nekrolog zu suchen? Sie verkörpert die Gegenwelt des Grauens. Sie lebt wie Murau in der ›ewigen Stadt‹, sie hat wie Murau ein gespanntes Verhältnis zu dem kleinen Alpenland, sie diskutiert wie Murau leidenschaftlich über Literatur und lebt wie er für die Dichtkunst. Denn die lichte Seite des Romans spielt im Süden, in klassischen Hoheitsgewässern der Musen. Ach, die Kunst! Um die geht es auch. Murau hat sich nämlich »der Literatur verschrieben« (Bernhard, A 609) und ist Verfasser der Auslöschung, obwohl er behauptet: »Ich bin nicht eigentlich Schriftsteller, nur ein Vermittler von Literatur, und zwar der deutschen, das ist alles. Eine Art literarischer Realitätenvermittler, ich vermittle literarische Liegenschaften« (Bernhard, A 615). Die phantastische Berufung erfährt nach und nach an Bedeutung. Murau unterrichtet seinen italienischen Schüler eigentlich in deutscher Sprache, doziert aber lieber über deutschsprachige Literatur. Gleich zu Anfang des Romans trägt er dem Adlatus – und damit dem Leser – mehrere Klassiker der Weltliteratur zum Studium auf. Im Verlauf des Berichts erweitert er diese Literaturliste ständig, bis er am Ende mit einer imposanten Anzahl an Autoren und Werken die freien Regale dieser »Bibliothek des bösen Geistes« (Bernhard, A 149) gefüllt hat. Der geistesgeschichtliche Horizont, den er in diesem Pandämonium absteckt, reicht von Montaigne bis zu Bachmann, von der Spätrenaissance bis in die Gegenwart. Die zitierte Literatur stellt nicht nur Muraus ›Liegenschaften‹, sondern auch Bernhards präferierte Autoren dar.

    So verweist auch die Biographie von Muraus Freundin Maria unzweideutig auf das Vorbild Bachmann. Sie kommt aus Klagenfurt, »der kleinen südösterreichischen lächerlichen Provinzstadt, in der Musil geboren worden ist«, dann sei es ihr gelungen, »nach Rom auszubrechen« (Bernhard, A 232f.), wo sie nahe der Via Condotti wohnt. Ferner finden das Gedicht Böhmen liegt am Meer, der Bachmannsche Opernenthusiasmus, ihre Dissertation über Heidegger und die Übersetzungen, die sie von Ungaretti-Gedichten gemacht hat, Erwähnung. Ingeborg Bachmann ist als Maria die einzige Frau, mit welcher Murau einen Kontakt pflegt, darüber hinaus wird ihr Werk von Murau reflektiert und des weiteren setzt sich Bernhard mit ihrer Ästhetik auseinander.

    Hinter den beiden Romanfiguren verbergen sich, wenn auch notwendigerweise gebrochen, die Autoren Bachmann und Bernhard. Tatsächlich sind die beiden Österreicher nie in Rom zusammengetroffen, dafür in Wien. Bei dem Festbankett in der Hofburg saß Bernhard »am Prominententisch in nächster Nähe des Staatsoberhauptes, neben Ingeborg Bachmann, die sich in einem Pagenkostüm, mit schwarzen Kniehosen und Cherubino-Wams, eingefunden hatte, und Christine Lavant, die in ihrem üblichen Bauerndrillich mit Kopftuch gekommen war.«⁸ Dieses »opernhaften Aufzuges« sollte sich Bernhard in der Auslöschung erinnern: Maria tritt in einem (Alp-)Traum Muraus in einem Hochgebirgstal auf, bekleidet in »schwarzer Samthose […], die mit großen Seidenmaschen unterhalb ihrer Knie befestigt war, dazu eine kardinalrote Jacke mit türkisfarbenem Kragen« (Bernhard, A 215). Der Anlaß dieses Treffens mit Murau und zwei römischen Freunden ist der Vergleich ihren eigenen Gedichte mit der Philosophie Schopenhauers. Dieses Traum-Unterfangen gestaltet sich jedoch zum Horrortrip, denn der Wirt des Gasthauses entreißt ihnen die Bücher und beschimpft sie als Gesindel, das ausgerottet gehöre; im dichten Schneetreiben flüchten sie aus dem Tal, und der literarisch-philosophische Vergleich scheitert. Muraus Traum zeigt Parallelen zum Traumkapitel in Malina, indem die Figurenkonstellation von weiblichem Ich, dem Fremden in seinem »schwarzen siderischen Mantel« (Bachmann 3, 194) und der destruktiven Vater-Figur an Maria, Eisenberg, mit seinem »langen schwarzen Mantel« (Bernhard, A 226), und den destruktiven Wirt in Auslöschung erinnert.⁹ Bernhard setzt sich in dem wichtigsten Traum seines Œuvres mit dem zentralen Traumkapitel in Bachmanns Werk auseinander, womit Muraus, die Bachmann-Legende der ›gefallenen Lyrikerin‹ fortspinnende Bemerkung durch den Autor Bernhard in Frage gestellt wird: »Prosa Schreiben sei übrigens immer ihr Traum gewesen, alle ihre Versuche in dieser Richtung aber seien gescheitert, sie hat immer gleich aufgegeben und wenn nicht, eingesehen, daß sie kein Kunstwerk geschaffen, sondern nur eine staunenswerte Arbeit zustande gebracht habe, so sie selbst.« (Bernhard, A 230)

    Die Freundschaft zwischen den Figuren ist vor allem literarischer Natur, Murau bespricht mit Maria, »der Unbestechlichen«, das Projekt der ›Auslöschung‹, und der Titel »ist von Maria, die mich ja auch einmal einen Auslöscher genannt hat. Ich bin ihr Auslöscher, hat sie behauptet. Und das, was ich zu Papier bringe, ist das Ausgelöschte« (Bernhard, A 542). Die an Kafka erinnernde Verbrennung der Manuskripte »in ihrem Ofen« – gemeinsam mit Maria – führt zum »Höhepunkt«, berichtet er. Ihre Titulierung Muraus als Auslöscher hat also seine Schrift initiiert, Maria hat seine prosaische Vernichtungsmaschine in Gang gesetzt. Sie wird das Manuskript »mit mir durchsprechen, es zerlegen, daraufhin werde ich es wegwerfen, wie alles von mir, was ich ihr jemals zum Lesen gegeben habe« (Bernhard, A 541). Maria ist seine schärfste Kritikerin, womit Bachmanns einzige Auseinandersetzung mit Bernhards Werk evoziert wird. In dem Versuch über Bernhard attestiert sie dessen Prosa »eine Radikalität, die im Denken liegt und bis zum Äußersten geht« (Bachmann 4, 361) und lobt an Bernhard »die gläserne Ruhe im Umgang mit einer zerbröckelnden Welt, […] das Zwingende, das Unausweichliche und die Härte […] seiner Bücher über die letzten Dinge« (Bachmann 4, 362f.). Bernhard hat die kurze Lobeshymne gut studiert beim Entwurf der Auslöschung.

    Diese kritische Haltung gegenüber dem Schreiben, den (Un)Möglichkeiten von Literatur und Sprache, führt geradewegs in die zentralen Themenkomplexe von Bachmann und Bernhard. Mit Rückbezug auf Hofmannsthals Chandos-Brief formuliert Bachmann 1959 in ihrer ersten Frankfurter Vorlesung zur Poetik, daß »das Vertrauensverhältnis zwischen Ich und Sprache und Ding schwer erschüttert« (Bachmann 4, 188) sei. Dieses Verstummen des Lord Chandos findet sich bei den unzähligen Studienschreibern in Bernhards Werk wieder, wie auch Bachmanns Figuren von den »Stürze[n] ins Schweigen« (Bachmann 4, 188) bedroht sind. Diese Skepsis gehe über Hofmannsthals erstes Dokument einer profunden Sprach-Verzweiflung hinaus, denn die Fragwürdigkeit der dichterischen Existenz stehe nun der Unsicherheit der gesamten Verhältnisse gegenüber, so Bachmann. Die geschichtliche Situation kann nicht außer acht gelassen werden: Kunst muß gesellschaftskritisch sein.

    Ein zentraler Gedanke des unvollendet gebliebenen Todesarten-Zyklus ist das Aufdecken des Gemetzels »innerhalb des Erlaubten und der Sitten […], denn die wirklichen Schauplätze, die inwendigen« (Bachmann 3, 342) werden von den äußeren überdeckt. Diese Verbrechen in der Gesellschaft gilt es aufzudecken, wie der 1971 veröffentlichte Roman Malina zeigt. In der Auslöschung wird deutlich, wie wichtig für Bernhard die gesellschaftspolitische Komponente im Vergleich zum Frühwerk geworden ist. Mißstände werden nun benannt und offen dargelegt, die in den sechziger Jahren lediglich als Metaphern für ein finsteres Weltbild dienten. Der Roman ist eine konsequente Abrechnung mit politischem Unrecht, vor allem der unbewältigten Nazivergangenheit in Österreich. Es ist das politisch zornigste Prosastück des Moralisten Bernhard – eine Kriegserklärung an alle Ewiggestrigen.

    Das wütende Auslöschen Muraus ist seine Reaktion auf die Auslöschungsmechanismen der Gesellschaft. Obwohl die totale Auslöschung auch den Protagonisten ereilt, haben 651 Seiten Auslöschung Bestand. Dies ist die Pointe Bernhards, denn der Roman Auslöschung bleibt zurück und bewahrt das Ausgelöschte vor dem Vergessen. Das Reale muß ausgelöscht werden, das Kunstwerk bleibt bestehen. Die Aufforderung zur Erinnerung hat zum Ziel, Geschichte zu bewältigen. Dazu bedarf es unzerstörbarer Gegenkräfte, nämlich der Werke Großer Geister und Alter Meister. All’ die genannten literarischen Werke von höchstem Rang sensibilisieren und schärfen das Kulturgedächtnis des Lesers. Die Utopie der Kunst wird zur Kunst der Utopie.

    Diese Utopie in Auslöschung veranschaulicht der Vergleich zu Böhmen liegt am Meer. Murau bezeichnet es wiederholt als »das schönste und beste Gedicht, das jemals eine Dichterin in unserer Sprache geschrieben hat« (Bernhard, A 511). Seit Shakespeares Wintermärchen befindet sich im Reich der Kunst und der Phantasie Böhmen am Meer – als Wunsch einer märchenhaften Erfüllung des Unmöglichen. Diese Hoffnung wird im Gedicht jedoch erst – aus dem Moment der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit heraus – durch das Zugrundegehen eingelöst: »Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehen./ Zugrund – das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder./ Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf./ Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren.« (Bachmann 1, 167f.) Die geistige Heimkehr in das Land der Hoffnung, in das von Shakespeare »ans Meer begnadigte« Böhmen, ist erst durch die willentliche Selbstzerstörung des Ich möglich. Die Einsicht in die zerstörerischen Strukturen der Gesellschaft, »von Grund auf«, ermöglicht den Neuanfang als Aufbruch in eine neue Zeit.

    In einem nur teilweise veröffentlichten Kommentar aus dem Jahre 1973 bezeichnet Bachmann es als das Gedicht ihrer Heimkehr, »nicht einer geographischen, sondern einer geistigen Heimkehr.«¹⁰ Hans Höller zeigt in der Edition des Gedichts, daß die »Varianten des Entstehungsprozesses als literarische Arbeit an ihrem Begriff von ›Heimat‹«¹¹ verstanden werden können. Mit der im Böhmen-Sujet enthaltenen Mitteleuropa-Utopie greift die Dichterin das ihr biographisch vertraute Angrenzen an viele Sprachen und Länder auf. Die im Grenzbereich Kärntens zu Slowenien und Italien aufgewachsene Bachmann hat wiederholt die Idee vom ›Haus Österreich‹ in ihrem Werk formuliert, denn dieser Ausdruck »hat mir besser erklärt, was mich bindet, als alle Ausdrücke, die man mir anzubieten hatte. Ich muß gelebt haben in diesem Haus zu verschiedenen Zeiten, denn ich erinnre mich sofort, in den Gassen von Prag und im Hafen von Triest, ich träume auf böhmisch, auf windisch, auf bosnisch, ich war immer zu Hause in diesem Haus, […] ohne die geringste Lust, es noch einmal zu bewohnen, in seinen Besitz zu gelangen, einen Anspruch zu erheben« (Bachmann 3, 99). Diese Aussage des Ich in Malina veranschaulicht den Charakter von geistiger ›Heimat‹ als Gegensatz zu geographischer in ihrem Werk.¹² In der Interpretation der Fortschreibung von Roths ›Trotta-Romanen in Simultan wird diese kritisch-distanzierte Haltung gegenüber ›Heimat‹ verdeutlicht werden.

    Murau in Auslöschung quittiert jedoch gerade an Maria deren Sehnsucht nach ›Heimat‹ mit einem Lachen, weil »Maria immer wieder in diesem Wort Zuflucht suchte, sie sagte auch immer von dem Wort Heimat, es sei das verführerischste.« (Bernhard, A 235) Ob diese Ablehnung sich auf die geistige ›Heimat‹ im Gedicht bezieht, die als idealisierte Habsburger-Romantik verstanden werden könnte, auf das ähnlich utopisch aufgeladene ›Ungargassenland‹ in Malina, auf die in Drei Wege zum See unternommene Reise an den Ursprungsort¹³ oder auf andere Texte, verrät diese Passage nicht. Im Kontext dieser Erinnerung an Maria zählt Murau die Stationen in Bachmanns Biographie auf, die sie von Klagenfurt über Wien und Paris nach Rom führten, und daß nun der – allerdings unschlüssige – Wunsch der Remigration nach Wien bestehe, »das ihre Heimat sei« (Bernhard, A 235). Diese geographische Heimkehr Marias wird in Bernhards Roman jedoch nur als Überlegung angedeutet, denn die Dichterin Maria lebt weiterhin in Rom und nicht in Österreich.¹⁴ Da Erwägungen Bachmanns, nach Österreich zurückzukehren, bekannt sind – wie auch der geplante Hauskauf in der Nähe von Bernhards Obernathaler Refugium verdeutlicht –, kann dieser Diskurs sich auch auf persönliche Gespräche Bernhards mit Bachmann beziehen.

    Die Bewegung des Gedichtes, das eine Dialektik von Auslöschung und Utopie beschreibt, zeigt deutliche strukturale Parallelen zu Bernhards Auslöschung. Zunächst erstellt Murau das definitive österreichische Handbuch der Auslöschung: Städte, Landschaft, Menschen, Leben – alles fällt den Auslöschern zum Opfer. Der Grundgedanke dieser Schreckensliste ist, die »Welt zu studieren und sie in diesem Studium nach und nach aufzuschlüsseln und aufzulösen« (Bernhard, A 231). Dieses Zersetzen hat allerdings die »Struktur des Selbstmordes«¹⁵, wie Roland Barthes bemerkt, denn der Ort des Zersetzens kann nur im Zentrum liegen, aus dem man die Auflösung begleitet. Murau betreibt daher wissentlich auch seine »Selbstzersetzung und Selbstauslöschung« (Bernhard, A 296): Er geht zu den Gründen und geht daran zugrunde. Die Zerstörung der alten Ordnung bedeutet in beiden Texten zuerst die zergliedernde Analyse und anschließend die Selbstzersetzung, denn darauf kann erst etwas Neues errichtet werden: »Nach und nach müssen wir alles ablehnen, […] um ganz einfach an der allgemeinen Vernichtung, die wir im Auge haben, mitzuwirken, das Alte aufzulösen, um es am Ende ganz und gar auslöschen zu können für das Neue« (Bernhard, A 211). Dieses Neue kann Murau nicht klar bestimmen, »aber daß es sein muß, wissen wir« (Bernhard, A 212), und auch Bachmann meint, »es wird nicht kommen, und trotzdem glaube ich daran« (Bachmann, GuI 145). Beide haben keine konkrete Vorstellung einer anderen Welt, »Zerstören sei Schöpfung« (Bernhard, Er 118f.), denn im Anfang war die Anarchie.

    Literarisch wird ›das Neue‹ hingegen konkretisiert. Bachmann sah ihre Frage, wie wohl das Neue aussehen mag, bereits 1969 in Bernhards Prosa beantwortet: »Hier ist das Neue.« (Bachmann 4, 363) Der erste Schritt dorthin führt wiederum über die Auslöschung. Bernhard bezeichnete sich als »Geschichtenzerstörer« (Bernhard, DT 83), und auch Bachmann leistet eine »destruktiv-produktive Arbeit am Vorgefundenen […], die erzählt und im Erzählen die Strukturen des Erzählens zerstört«¹⁶. So wie die äußeren Gegebenheiten erst einmal erfaßt werden müssen, um neue Wege beschreiten zu können, muß auch das literarische Kunstwerk im Prozeß der Niederschrift überprüft werden. In Böhmen liegt am Meer reflektiert das Ich über das Gedicht – »grenzt hier ein Wort an mich, so laß ich’s grenzen« – und in Auslöschung räsoniert Murau unzählige Male über den zu schreibenden Bericht. Beide stöbern durch die ständige Reflexion von Sprache und Schreiben, ohne die »ein Drittes« (Bachmann 4, 186) nicht möglich ist, eine neue Ästhetik zwischen littérature engagée und littérature pure auf. Die Fürchterlichkeit ihrer Umwelt fordert die ständige Kritik und verbietet das Versteck im Elfenbeinturm. Beide bewahrten dabei konsequent ihre Unabhängigkeit und ließen sich niemals von einer Partei, von einer Institution oder gar vom Staat vereinnahmen. Das kontinuierliche Kreisen um das Verhältnis von Sprache und Ordnung blieb bestimmend für beider Werk. Bachmann zerlegt auch die patriarchalischen Macht- und Denkstrukturen und gilt als eine der Ikonen weiblicher Schreibweise, Bernhard entblößt in seinen scheiternden Geistespatriarchen ebenso Strukturen männlichen Allmachtdenkens.

    Die Hoffnung in beiden Texten gründet letztlich auf der Kunst. In Böhmen liegt am Meer ist es Shakespeare und »die Komödien, die lachen machen/ Und die zum Weinen sind.« (Bachmann 1, 167) In Auslöschung sind es die »literarischen Realitäten«, die an die Stelle tatsächlicher Realitäten treten; wie zum Beispiel Bachmanns Gedicht. Der Sonderweg von Bachmann und Bernhard besteht in der Verbindung von offenem Einmischen und idealistischem l’art pour l’art. Damit räumten sie der Literatur einen unabhängigen, erhöhten Platz ein, von welchem sie der Welt eindringliche und quälende Reize zu geben vermögen und gleichzeitig ein utopisches Reich der Kunst gründen. Der Begriff der literarischen Realitäten – zu denen Bachmanns Böhmen liegt am Meer gehört – verweist überdeutlich auf die Universalpoesie der Romantik. Nicht zufällig ist Bernhards geistiger Ahnherr Novalis, der die ausführlichste Begründung der Kunst als Realität ausformte: »Die Poësie ist das ächt absolut Reelle«¹⁷. Bachmann und Bernhard suchen nicht nur den Ausweg aus den Aporien der Kunst, sondern hoffen auch auf eine neue und menschlichere Gesellschaft. Dieser unerschütterliche Glaube beflügelt beide Autoren – entgegen ihrer immerwährenden Skepsis einer tatsächlichen Veränderung – zu schreiben, um zumindest im Bereich der Literatur die Utopie einer neuen Zeit zu ersehnen.

    Auslöschung und Utopie sind wie ›mythenreiche Vorstellungswelt‹ und ›ererbter Alptraum‹ die Pole in Bachmanns und Bernhards Werk, welche die extreme Bewegung einer radikalen und unerbittlichen Literatur beschreiben. In ihrem ›Versuch‹ über Bernhard wie im dritten Kapitel in Malina hält Bachmann das Verbindende ihrer und Bernhards Literatur fest: ›Von letzten Dingen‹.

    2.      Habsburgischer Mythos und Antiheimat

    Charakteristika des ›Österreichischen‹ in der Literatur

    Die edelste Nation unter allen Nationen ist die Resignation.¹⁸

    Johann Nestroy

    ›Mythenreiche Vorstellungswelt‹ und ›ererbter Alptraum‹ sind die Pole im Werk Ingeborg Bachmanns und Thomas Bernhards, ›Habsburgischer Mythos‹ und ›Antiheimat‹ sind zwei Definitionen des ›Österreichischen‹ seit den sechziger Jahren.

    Claudio Magris prägt in der 1963 erschienenen Studie Der Habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur den Begriff. Er legt dar, wie sich mit Zerfall der Monarchie der ›Habsburgische Mythos‹ in der österreichischen Literatur herausbilde, indem die reale Monarchie ins Utopische überhöht werde. Nach dem Erscheinen der deutschen Übersetzung im Jahre 1966 entsteht für kurze Zeit eine Diskussion über das ›Österreichische‹ in der Literatur, wobei Magris’ literargeschichtliche Untersuchung vor allem bestätigend auf die österreichische Kulturpolitik der Zeit wirkt, sich der Tradition der k.u.k.-Zeit rückzuversichern. Die eigentliche Wirkung und Debatte setzt erst im Jahre 1979 durch Ulrich Greiners Pointierung von Magris’ Thesen in Der Tod des Nachsommers ein.

    Parallel mit dem Erscheinen von Magris’ Buch etabliert sich in den sechziger Jahren eine kritische Literatur, die sich der österreichischen Provinz zuwendet. Diese bald als ›Antiheimatliteratur‹ bezeichnete Gattung wird durch Die Wolfshaut Hans Leberts begründet, an den Autoren wie Elfriede Jelinek und Christoph Ransmayr noch im Jahre 1995 mit ihren Romanen Die Kinder der Toten und Morbus Kitahara anschließen. Seit den sechziger Jahren stehen sich die beiden Extreme von Verherrlichung und Destruktion der Tradition gegenüber.

    Die Begriffe ›Habsburgischer Mythos‹ und ›Antiheimat‹ sind zwar enge Prokrustesbetten, in die die Autoren hineingezwängt werden, jedoch sind beide Termini Ausdruck eines spezifisch österreichischen Bewußtseins, das die grundsätzliche Frage beantwortet, ob es überhaupt eine österreichische Literatur gibt. Erst in den Repliken auf Greiners These, daß die von Magris kritisierte Wirklichkeitsflucht und der Handlungsverzicht gerade konstitutiv für die österreichische Literatur von Stifter bis Bernhard sei, sind die Charakteristika des ›Österreichischen‹ eingehender untersucht worden. Robert Menasse hat in seinen ›Essays zum österreichischen Geist‹ den Begriff der ›Sozialpartnerschaftlichen Ästhetik‹ geprägt und die Diskussion in den neunziger Jahren neu entfacht.

    Die Darstellung der Charakteristika des ›Österreichischen‹ soll Bachmanns und Bernhards Verhältnis zu ihrer ›Heimat‹ – als ›Habsburgischer Mythos‹ oder ›Antiheimat‹ – innerhalb der seit den sechziger Jahren vertretenen Ansätze und Erkenntnisse situieren.

    Habsburgischer Mythos

    Genau genommen regierte Kaiser Franz Joseph bis zum Tode von Johann Strauß.

    Österreichisches Sprichwort

    Claudio Magris’ Abhandlung über den Habsburgischen Mythos ist das klassische Werk zur österreichischen Literatur. Die von Grillparzer bis Doderer reichende Definition des ›Österreichischen‹ aus der Perspektive der k.u.k.-Geschichte stellt noch heute die umfassendste Abhandlung zu einem Jahrhundert österreichischer Literatur dar. Auch wenn die Studie gerade mit dem Beginn des künstlerischen Schaffens von Bachmann und Bernhard endet, weisen ihre Werke auf die Prägung durch die glanzvolle Vergangenheit des Habsburger Reiches hin.

    Die Heraufkunft des ›Habsburgischen Mythos‹ sei eng verbunden mit der Regentschaft Kaiser Franz Josephs, in der sich eine »grandios-statische«¹⁹ Atmosphäre ausbildete. Sein Regierungsantritt im Jahre 1848, direkt nach Niederschlagung der Revolution, markiere den Beginn einer restaurativen Ära, die auch den Immobilismus und das Apolitische österreichischer Schriftsteller begünstigt habe: »[…] die regungslose Abwehrstellung gegen jede Bewegung, die wachsame und doch kurzsichtige Beobachtung all dessen, was ringsum brodelte, ein in seiner pedantischen Ohnmacht heroischer Wächterdienst zur Abwehr aller Übel«²⁰. Diese Handlungsunfähigkeit werde im ›Operettenstaat‹ des letzten Habsburgerkaisers allmählich zur »Flucht aus der politischen Wirklichkeit«²¹ bis hin zur »Auflösung der Wirklichkeit«²².

    Der ›Habsburgische Mythos‹, der sich durch ein Jahrhundert österreichische Literatur ziehe, finde seine deutlichste Ausprägung bei Autoren der Zwischenkriegszeit – Zweig, Werfel, Roth, Csokor, Kraus, Musil, Doderer –, die »keine äußerliche thematische Verwandtschaft auf der Grundlage äußerer Kriterien, wie gemeinsamer Motive und Inhalte ihrer Werke«, eint, sondern die sich vielmehr in »einen ganz bestimmten kulturellen Humus«²³ überträgt. Diese Gemeinsamkeit liege seit Grillparzer in dem Bemühen, für ein immer problematischer werdendes Staatsgefüge Existenzgründe zu finden und auf solche Weise von der konkreten Wahrnehmung der Wirklichkeit abzulenken. »Auch als boshafte Kritiker bleiben sie Gefangene dieser märchenhaften und schwärmerischen Verwandlung der Welt der Donaumonarchie, dieser suggestiven Verfremdung, die mehr als ein Jahrhundert eines der hervorstechendsten Merkmale […] der österreichischen Humanitas und darüber hinaus ein scharfes Machtinstrument und eine geistige Stütze des Habsburgerreiches war.«²⁴

    Mit Zerfall des k.u.k.-Staates bilde sich immer stärker der ›Habsburgische Mythos‹ heraus, der die reale Monarchie ins Utopische überhöhe. »Die Themen und Motive der Erinnerung der Monarchie entstehen also nicht mit den modernen Autoren, sondern knüpfen an eine besondere Tradition an.«²⁵ Der Immobilismus bringe in der achtundsechzig Jahre währenden lähmenden Monarchie drei Grundmotive Habsburgischer Literatur hervor: Übernationalisierung, Bürokratentum und Hedonismus. »Das übernationale Ideal, das noch in der väterlich-strengen Anfangswendung der Proklamationen Franz Josefs ›An meine Völker‹ Ausdruck findet, war das ideologische Fundament der Donaumonarchie, ihre geistige und propagandistische Stütze im Kampfe gegen das moderne Erwachen der nationalen Kräfte, kurz, eine Waffe des habsburgischen Kampfes gegen die Geschichte.«²⁶ Eng verknüpft mit dem bürokratischen Thema sei Franz Joseph, und zwar in der »Verlagerung der bürokratischen Mentalität auf die Gefühls- und Gewohnheitsatmosphäre«²⁷. Joseph Roths Trotta-Figur in Radetzkymarsch sei die Verkörperung dieses Typus: »Der dieser Gestalt zugrunde liegende politische Immobilismus überträgt sich auf menschliche Nuancierungen: das reife Alter – das bevorzugte Lebensalter für die Personen der österreichischen Literatur –, die methodische und skrupellose Pedanterie, die fast religiöse Aufopferung der eigenen Person zugunsten der formalen Ordnung«²⁸. Sprichwörtlich fand das übermächtige Beamtentum des Habsburgerreiches Eingang in den Volksmund, »Zittre, du großes Österreich,/ vor deinen kleinen Beamten!«²⁹ und von Franz Joseph ist der Satz überliefert: »Ich brauche keine Gelehrten, nur gute Beamte.«³⁰ Drittes Grundmotiv sei »der Mythos der Walzers und der Lebensfreude, der überschäumenden Sinnenfreudigkeit und des leichtsinnigen Vergnügens; […] Mythos der schönen blauen Donau und des Wiener Bluts«³¹.

    Die erste große Dichterpersönlichkeit, die eine vollständige und einheitliche Synthese der habsburgischen Welt darstelle, sei Grillparzer, dessen Werk »den habsburgischen Mythos in seiner ganzen Vollendung und Tragik«³² verkörpere. In Adalbert Stifters Romantitel Der Nachsommer scheint bereits die Bezeichnung und das Gefühl des »alternden Menschen und der versinkenden Glut [auf]. ›Dieses herbstliche Lebensgefühl‹ kennzeichne in vielfacher Abwandlung die ganze österreichische Dichtung des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts«³³. Nestroys Theater sei ein Spiegel der gesamten habsburgischen Gesellschaft, »der Absolutismus tritt als ›Tyrannerl‹ auf, die Erhebung als ›Revolutionerl … und Freiherterl‹«³⁴.

    In der sogenannten Dekadenzliteratur der Jahrhundertwende nehme dieses habsburgische Bewußtsein zu, da der Vielvölkerstaat mit seinen diversen Sprachen, dem Verlust eines katholischen Weltbildes und der sich anbahnenden Auflösung einer festen Weltordnung den Verfall der Monarchie antizipiere. Selbst Karl Kraus, der Österreich als ›Versuchsstation für Weltuntergang‹ bezeichnete, sei – ex negativo – eingebunden in diesen Mythos: »Mit Karl Kraus scheint der Mythos der Donaumonarchie völlig zertrümmert zu werden. Freilich handelt es sich um eine radikale Entmythisierung und Überwindung, doch wird sie als Apokalypse und Katastrophe dargestellt. Vielleicht hat die habsburgische Welt in diesem Freund-Feind einen ihrer tragischsten, erhabensten Sprecher gefunden.«³⁵

    Die deutschsprachigen Autoren Prags wie Kafka, Rilke und Werfel offenbarten bereits die Krise der habsburgischen Kultur, da sie in diese Auflösungsstrukturen noch intensiver eingebunden seien. Roth und Musil seien die größten Beschwörer des habsburgischen Mythos in ihrem kurz nach dem Untergang der Monarchie entstandenen Werk. Der Mann ohne Eigenschaften zeige zwar die Auflösung der europäischen Ordnung und Kultur, doch besonders deutlich werde in diesem Roman »die Austriazität als geistige Konstante Musilscher Kunst und Persönlichkeit«³⁶, und im Werk Joseph Roths finde »die Nachkriegssaga ihre genaueste und erschütterndste Darstellung«³⁷.

    Der ›Habsburgische Mythos‹ überlebe »mit seinem doppeltem, zugleich in erschöpften Erinnerungen verharrenden und stets neuen künstlerischen Möglichkeiten aufgeschlossenen Aspekt, manchmal als drückende Last, dann wieder als fruchtbarer dichterischer Ausgangspunkt.«³⁸ ›Mythenreiche Vorstellungswelt‹ und ›ererbter Alptraum‹ sind auch die zwei Pole der Bachmannschen und Bernhardschen Rezeption der österreichischen Kultur und Literatur: der Doppeladler als Symbol zweier sich widerstrebender und dennoch sich ständig anregender Antinomien.

    Der Tod des Nachsommers

    Der Tag verging ungefähr wie der vorige, und so verflossen nach und nach mehrere.³⁹

    Adalbert Stifter

    Ulrich Greiner versucht in Der Tod des Nachsommers darzulegen, daß die von Magris kritisierte Wirklichkeitsflucht und der Handlungsverzicht gerade konstitutiv für die österreichische Literatur seien und daß seine These vom habsburgischen Mythos noch auf die Gegenwartsliteratur zutreffe.

    In vier Thesen pointiert er Magris’ Aussagen: Das Ende des Josephinismus leite eine bis zum Zusammenbruch der Monarchie anhaltende Phase der Entpolitisierung und der Resignation ein; Stifters ›Nachsommer‹ sei das Hohelied des schönen Nichthandelns, die Inkarnation österreichischer Literatur; diese Art von Wirklichkeitsverweigerung und Handlungsverzicht sei konstituierendes Merkmal der österreichischen Literatur, und die republikanisch-aufsässige Tradition der deutschen Literatur habe in der österreichischen Literatur so gut wie kein Äquivalent; daraus sei die politische Windstille des heutigen Österreich zu erklären als jene bohèmehafte, apolitische, artifizielle Literatur, die von Graz bis Wien Kennzeichen vieler österreichischer Autoren sei.⁴⁰

    Greiners Thesen stellen den eindimensionalen Versuch dar, dem Wesen der österreichischen Literatur auf die Spur zu kommen, wobei er die Schärfe seiner Thesen teilweise wieder zurücknimmt, wenn er den Eskapismus letztendlich positiv deutet: »Hindurchgegangen durch die Zweifel an der Sprache, hervorgegangen aus der Aussichtslosigkeit politischen Handelns, geprägt von dem melancholischen Bewußtsein vergangener Größe und bedeutungsloser Gegenwart baut sich diese Literatur ein Reich der Phantasie, wo Wirklichkeit und Unwirkliches ununterscheidbar ineinanderfließen, wo die Alltagslogik entmachtet und die blind technokratische Provenienz unterminiert wird. Diese Literatur scheint eher imstande als die sogenannte realistische, ein Gegenbild zu entwerfen, in dem unsere Wirklichkeit deutlicher zum Vorschein kommt als in jener bloßen Verdoppelung der Realität, der viele gesellschaftskritisch sich verstehende Autoren aufsitzen.«⁴¹

    Daß »ein behauptetes historisches Interesse vielfach zu wirkungsvollem Jonglieren mit den enthistorisierten Versatzstücken einer evasorischen Illusion pervertiert«⁴² werde, bemerkten Kritiker bereits im Erscheinungsjahr. Die Erwiderungen auf Greiners Untersuchung stellen die erste grundlegende Debatte über das ›Österreichische‹ dar.

    Die Repliken

    Könnte es nicht umgekehrt sein: Die herrschende Meinung gibt nur vor, die Wahrheit über die österreichische Literatur zu verbreiten, während in Wahrheit die österreichische Literatur ein paar Wahrheiten über die herrschende Meinung bereithält?⁴³

    Gustav Ernst, Klaus Wagenbach

    Als direkte Erwiderung auf Greiners Tod des Nachsommers erscheint 1979 die Anthologie Rot ich Weiß Rot, in der insbesondere jüngere Autoren Österreichs vom Klischee der Stifter-Nachfolge und dem Verdacht des Apolitischen freigesprochen werden. In der Folge setzte eine regelrechte Verteidigungswelle gegen die apodiktischen Verkürzungen in Greiners Arbeit ein, die sich auch auf Magris’ Abhandlung beziehen.⁴⁴

    An Magris’ Studie wird die selektive Auswahl an Autoren bemängelt, die lediglich eine Episode und nicht einen hundert Jahre alten Entwicklungsstrang darstelle, da er seine Kritik hauptsächlich gegen das übertriebene Lob richtet, das von Schriftstellern der Zwischenkriegszeit den habsburgischen Herrschern entgegengebracht wurde. »Er mythologisiert nun seinerseits die Mythenschöpfer, indem er sie behandelt, als repräsentieren sie die Haupttendenzen der österreichischen Literatur.«⁴⁵ Wendelin Schmidt-Dengler überträgt diese Kritik auf Greiners Essay, dessen Auswahl an Autoren noch weniger repräsentativ sei: »Greiner meint, den Zustand der österreichischen Literatur zu bestimmen, und bestimmt bloß ihren Aggregatzustand zu einem bestimmten Zeitpunkt anhand einiger Proben.«⁴⁶

    Paul Michael Lützeler stellt vor allem Greiners These des ›Apolitischen‹ in Frage, da selbst die Werke der genannten Autoren von politischer Kritik zeugen. »Die Dramen Grillparzers und Hofmannsthals, Musils Mann ohne Eigenschaften, Brochs, Doderers, Roths und Canettis Romane, Kafkas Erzählungen weisen – reduziert man politisches Engagement nicht auf parteilich gebundene Propaganda – ihre Autoren als politisch wachsame Kritiker ihrer Zeit aus. Darüber hinaus haben Dichter von Hofmannsthal, Kraus, Broch, Polgar, Musil und Torberg bis zu Artmann und Turrini sich nicht gescheut, zu aktuellen politischen Ereignissen öffentlich Stellung zu nehmen«⁴⁷. Dieser wichtige Einwand gegen Greiners Text wird in den Untersuchungen zu Bachmann und Bernhard, aber auch zu Roth, Améry und Lebert deutlich werden.

    Selbst Magris muß sich von Greiner mißverstanden gefühlt haben, denn bereits in einem Essay des Jahres 1968 betonte er die Ambivalenz und revolutionäre Sprengkraft der Antinomie von Auslöschung und Utopie: »[…] daß eine revolutionäre und erneuernde Strömung durch den Hauptteil der österreichischen Literaturgeschichte läuft, die allzuoft als glänzender Untergang statt vielmehr in ihrer Dialektik von ›Finale und Auftakt‹ gesehen worden ist.«⁴⁸ 1978 konkretisiert er diesen Gedanken, indem er den Habsburger Erben als einen »Rebell gegen das eigene Erbe« bezeichnet, der »durch seinen Protest ein weiteres Glied ein und derselben Kette«⁴⁹ werde. Hilde Spiel hebt in ihrer Abhandlung zur österreichischen Literatur nach 1945 hervor, daß »Skeptizismus, Eigenbrötelei und ein austriazistischer Anarchismus«⁵⁰ zu den Eigenschaften österreichischer Autoren der Nachkriegszeit gehöre, die sich selbst nicht als ein einheitliches kulturelles Gebilde verstehen.

    Die Suche nach verbindenden Kriterien beweist die antinomische Spannung des ›Österreichischen‹, das immer wieder auf die Janusköpfigkeit von Traditionspflege und zerstörung zurückführt. Die Herausgeber des Sammelbandes Für und wider eine österreichische Literatur weisen in ihrer Vorbemerkung daraufhin, daß die Bestimmung über die Eigenart der österreichischen Literatur diese unterschiedlichen, heterogenen Aspekte berücksichtigen müsse: »Was immer der Ausgangs- und Fluchtpunkt dieser Versuche bildete: der ›habsburgische Mythos‹ oder der ›Tod des Nachsommers‹, Sprach- und Ideologieskepsis oder politische ›Windstille‹, ›soziale Handlungshemmung‹ oder Wirklichkeitsferne, Ordnung und Bürokratie oder ›Pathos der Immobilität‹, kulturelle Gemeinsamkeiten mit den slawischen und ungarischen Nachbarn oder das ständige, bis zur Obsession gesteigerte Abgrenzungsbedürfnis vom übermächtigen ›deutschen Wesen‹ – der Vorwurf apodiktischer Verkürzung und Verallgemeinerung ließ zurecht nicht lange auf sich warten.«⁵¹

    Die Literatur aus Österreich scheint sich jeder klaren Kategorisierung zu entziehen. In den unterschiedlichen Bestimmungsversuchen kristallisiert sich die geradezu banale Erkenntnis heraus, daß es eine österreichische Literatur gibt, solange es eine österreichische Geschichte gibt. Denn jedes literarische Werk, das aus dieser Wirklichkeit hervorgeht, reflektiert diese auf irgendeine Weise und ist durchsetzt von den Elementen der österreichischen Erfahrung.⁵²

    Eine Annäherung an den Kern dessen, was als ›österreichisch‹ bezeichnet werden kann, vermag daher der Vergleich zur deutschen Literatur zeigen, unter welche die österreichische von deutscher Seite zumeist automatisch subsumiert wird. Denn die österreichische Literatur ist ein unablösbarer Bestandteil der deutschen Literaturszene, die meisten Autoren verlegen ihre Bücher in Deutschland, und die deutsche Presse steuert die Kritik und Rezeption der Werke. Was spezifisch ›österreichisch‹ ist, läßt sich nur kontrastiv im Vergleich zu dem erfassen, was ›italienisch‹ oder ›deutsch‹ ist, nicht aber als absoluter Wert an sich.⁵³ Dabei muß beachtet werden, daß der besondere Ort eines literarischen Werkes nicht nur ein geographischer Platz auf der Karte, sondern eine soziale und soziologische Kategorie ist, und daß – nachdem der Begriff der Nationalliteratur im Schwinden begriffen ist – die Suche nach Identität nicht zur »Befriedigung eines nationalen Minderwertigkeitskomplexes«⁵⁴ wird.

    Deutsches und Österreichisches

    Engländer und Amerikaner sind durch die gleiche Sprache voneinander getrennt.

    Oscar Wilde

    In den Repliken auf Greiners Text ist Anfang der achtziger Jahre auf die notwendig erscheinende Differenzierung gegenüber der bundesdeutschen Literatur hingewiesen worden. Auf der Frankfurter Buchmesse 1995 ist Österreich Schwerpunktthema, und die Beziehung zu Deutschland wird detailliert untersucht. Durch die deutsche Wiedervereinigung haben sich nicht nur innerdeutsch Verhältnisse und Konstellationen verschoben, sondern auch in bezug auf die anderen deutschsprachigen Literaturen der Schweiz und Österreichs. Der Streit um die österreichische Literatur in der Tradition des habsburgischen Erbes weicht der Debatte um ›Deutsches‹ und ›Österreichisches‹.

    Zwischen der DDR und Österreich hatte ein stillschweigender Pakt bestanden, sich gegenüber der großen und mächtigen Bundesrepublik zu behaupten. Der quasikoloniale Status Deutschlands gegenüber Österreich hatte ihr Pendant

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