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Königreich der Pferde: Paesano
Königreich der Pferde: Paesano
Königreich der Pferde: Paesano
eBook692 Seiten9 Stunden

Königreich der Pferde: Paesano

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Über dieses E-Book

Gawinth Islaandar ist der erstgeborene Sohn des Grafen von Thule und er ist Inuit. Ein schlimmeres Schicksal und ein kürzeres Leben kann niemanden beschieden sein, denn die Gesetze des Grünen Landes und seiner Priesterherr-scher verlangen, dass jedes als Inuit geborene Kind unmit-telbar nach seiner Geburt den Hunden zum Fraß vorgewor-fen werden muss. Gawinths Mutter verweigert den Gehor-sam und Gawinth wird den Vikingern des Sigurd überge-ben, damit er unter ihnen aufwachsen soll. Wie alle Söhne Islaands wird Gawinth zum Krieger erzogen, doch er bleibt ein Außenseiter in der Gesellschaft der Vikinger. Doch eines Tages taucht ein Händler und Seefahrer aus Punien in Reykjavik auf und nimmt Gawinth mit. Sie segeln ins Grüne Land, denn es gibt dort nicht mehr Inuitsöhne der-selben Mutter und auch Gawinths vier Halbbrüder landen auf dem Schiff des Puniers. Zusammen segeln sie vor dem Nordwind nach Süden und entwickeln sich zu einer ver-schworenen Gemeinschaft, den Paesano.
Zur selben Zeit, weit weg im Nordosten, an der Grenze zu Asien wird ein junges Mädchen von einer längst tot ge-glaubten Kriegerlegende aus der Gewalt der Hexe Sungaeta befreit. Ihr Name ist Moira na Perm und ihr Name bedeutet Schicksal. Der uralte Krieger erzieht und formt aus Moira eine exzellente Kämpferin und weißt ihr, ehe er diese Welt verlässt eine Aufgabe zu. Sie soll nach Westen gehen, wo sie auf das Königreich der Pferde und auf die Evokati tref-fen wird. Dort, so heißt es, soll sich das Schicksal erfüllen. Moira nimmt die Aufgabe an. Zusammen mit ihren beiden Steppenhengsten und in Begleitung ihres Totemtieres, eines riesigen Tigers aus der Taiga am Amur durchquert sie die Länder im Osten Europas um in das Reich Tedesco und zu den Evokati, den Auserwählten der Pferde zu gelangen.

Altersempfehlung des Autors: Nicht unter 16 Jahren
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum26. Nov. 2016
ISBN9783741870422
Königreich der Pferde: Paesano

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    Buchvorschau

    Königreich der Pferde - Rudolf Jedele

    Paesano

    Titel Seite

    Das Böse

    Nordwind

    Südwind

    Moira

    Harpyas Schrei

    Rudolf Jedele

    Königreich der Pferde

    Band 1 - Paesano

    Königreich der Pferde

    Band 1 - Paesano

    Rudolf Jedele

    Impressum

    Texte: © Copyright by Rudolf Jedele

    Umschlag:© Copyright by Rudolf Jedele

    Titelbild:© Copyright by G. Gödel-Meyer

    Verlag:HCC Projektdienstleistungen UG 

    (haftungsbeschränkt)

    Parkstraße 53

    87439 Kempten

    Deutschland

    Druck:epubli ein Service der

    neopubli GmbH, Berlin

    ISBN 978-3-****-***-*

    Printed in Germany

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Autorenvorstellung

    Geboren wurde ich 1948 im Schwabenland und dort war ich viele Jahre meines Lebens damit beschäftigt, für andere Menschen Häuser zu bauen, wobei mein Part in der Gestaltung der Technik in einem Gebäude war. Schon aus diesem Grund war ich stets mit den Themen Energieverbrauch und Umweltschutz besonders eng verbunden.

    Darüber hinaus begann ich über die Reiterei und die dadurch entstandene große Nähe zur Natur, schon vor langer Zeit damit, immer mehr Gedanken an das zu verschwenden, was wir unserer Erde antun und damit auch, wie es sein könnte, wenn wir den Kollaps herbei geführt haben.

    Wohin gehen die Menschen, wenn ein wie auch immer gearteter Super GAU oder ein vernichtender Krieg unser gewohntes Milieu zerstört?

    Mein Bedürfnis ist es aber nicht trübsinnig und mit hoch erhobenem Zeigefinger zu belehren, sondern einfach durch – möglichst spannende - Unterhaltung das Nachdenken etwas anzuregen.

    Das Böse

    Die Höhle war zu tief, als dass einer der durchdringenden Schreie an die Oberfläche der Erde gelangen konnte. Gellende Schreie, schreckliche Schreie von wilder Intensität. Schreie, welche ein seltsames Wesen in nahezu regelmäßigen Abständen ausstieß. Kein auf der Erde lebendes Ohr wäre in der Lage gewesen, den Diskant dieser Stimme, die Tonlage der Schreie zu ertragen. Wen immer die Schallwellen eines dieser Schreie erreicht hätten, das betroffene Lebewesen hätte augenblicklich und unwiderruflich nicht nur sein Gehör, sondern auch seinen Verstand verloren.

    Die Höhle war ein Gefängnis.

    Das Wesen war mit schweren Bändern aus einem seltsam glänzenden Material an den Felsen einer vom Höhlenboden bis nahezu unter die Decke reichenden Säule aus massivem Granit gefesselt.

    Wer immer dieses Werk vollbracht hatte, musste genau gewusst haben, worauf es ankam. Er - oder sie - war ohne Zweifel darüber informiert gewesen, von welcher Art das Wesen war, das hier seit endlosen Jahreszeiten einer ungewissen Zukunft entgegen schrie. Die Fesseln waren aus einem Metall geschmiedet, wie man es auf dieser Erde eigentlich nicht findet. Ein glühender Komet, so erzählten die Legenden, war auf diese Welt gestürzt, mit ihm war das Metall gekommen. Seit einige wenige Menschen herausgefunden hatten, von welcher Art dieses Metall war, galt es als das Wertvollste, das ein Mensch besitzen konnte.

    Es gab niemand, der das Wesen betrachten konnte, doch hätte es jemanden gegeben, dann wäre rasch klar geworden, dass dieses an den Stein gefesselte Wesen ebenso wenig von der Erde stammen konnte, wie das Metall, von dem es festgehalten wurde.

    Der Körperform nach handelte es sich um eine scheinbar nackte Frau mit schlanker Taille, einem ausladenden Becken, vollen Brüsten und langen Beinen. Es war der Körper einer attraktiven Frau und darüber hinaus einer, die als Mutter starker und gesunder Kinder bestens geeignet zu sein schien. Doch es war eben nicht nur einfach eine Frau, die da schreiend in den Bändern hing. Zumindest keine, die einer der zahlreichen, auf der Erde lebenden Arten und Rassen zugeordnet werden konnte. Am Fels war vielmehr ein Wesen angekettet, welches nur aus den schlimmsten Alpträumen eines kranken Gehirns entstanden sein konnte und irgendwann – hoffentlich erst in dieser Höhle - Gestalt angenommen hatte.

    An jenen Stellen, wo die Gliedmaßen endeten, wo sich an einem menschlichen Lebewesen Hände und Füße befinden, entsprangen diesem Wesen die wuchtigen Klauen eines Greifs mit unglaublich scharfen Krallen. Krallen von solch entsetzlicher Härte und Stärke, dass sie mühelos in der Lage waren, selbst Eisen zu zerfetzen. Kein Panzer, keine von Menschenhand geschmiedete Waffe mochte diesen Krallen gewachsen sein.

    Aus den Schultern wuchs ein schlanker und schön geformter Hals empor, doch auf diesem Hals saß ein Schädel, dessen Anblick für ein menschliches Auge unerträglich sein musste. Es war der Schädel eines riesigen Raubvogels, eines Aasfressers mit einem gewaltigen, scharfen Schnabel und mit Augen, die von der Größe des Handtellers eines Menschen waren. Wenn diese Augen geöffnet wurden, glühten sie in einem wild leuchtenden Orangeton. In der Mitte dieser Augen zeigten sich gelb schillernde, senkrecht stehende Pupillen, die sich sowohl zu schmalen Schlitzen zusammenziehen, als auch zu annähernd das ganze Auge füllende, runden Strahlern ausdehnen konnten. Das Licht, welches aus diesen Augen strahlte, war ebenso kein Licht von dieser Welt. Der Feind allen Lebens manifestierte sich in diesem Licht, denn schwarz wie geschmolzenes Pech breiteten sich die Zwillingsbahnen aus und auf was immer sie trafen, sie brachten allem Leben den Tod. Die tödlich schwarze Leuchtkraft dieser riesigen und furchtbaren Augen war derart groß, dass sich die armdicken Bahnen selbst in der Finsternis der Höhle deutlich abzeichneten und sich durch die Nacht bohrten, wie mörderische schwarze Lanzen in deren Zentrum ein brodelnder orangefarbener Kern waberte. Wenn diese Augen innerhalb einer bestimmten Reichweite auf einen lebenden Gegenstand trafen, begann dieser in Flammen aufzugehen oder einfach weg zu schmelzen.

    Das Wesen war Harpya. Dies war ihr Name und nur was mit der Erde verwachsen war, konnte von Harpyas Blicken nicht zerstört werden.

    Wenn das Wesen seinen Schädel in den Nacken legte und den stark gekrümmten Schnabel eines riesigen Raubvogels zu einem weiteren, durchdringenden und das Trommelfell zerfetzenden Schrei öffnete, tauchte eine dicke, rot und violett schillernde Zunge auf. Sie schnellte über die Ränder der unglaublich scharf und bösartig wirkenden Zähne und wurde fast eine Armlänge weit in die Dunkelheit hinaus gestoßen. Von dieser Zunge tropfte rauchender Geifer, der auf den Stein des Höhlenbodens hinunter troff und dort schäumend und qualmend den harten Felsen aufzulösen begann. Nur so war es zu erklären, dass sich in einem Dreiviertelkreis um die Füße des Wesens eine tiefe Rinne zog, die fast ganz mit zähem und stinkendem Schleim gefüllt war, der aus dem sich zersetzenden Stein und dem Speichel des Wesens entstanden war.

    Der Körper des Wesens – in der Finsternis der Höhle war das kaum zu erkennen – war über und über mit kurzem, dünnen Gefieder von undefinierbarer Farbe bedeckt. Dieses Gefieder aber war nicht aus einem Material entstanden, das verfaulen und verrotten konnte, wie es für ein natürliches Gefieder normal gewesen wäre. Jede einzelne der dünnen Federn stellte eine schreckliche Waffe dar, die von dem Wesen nach Gutdünken eingesetzt werden konnte. Mehrere der Federn steckten wie angewachsen in den gut und gern fünfzig oder mehr Fuß von der Steinsäule entfernt in den Felswänden der Höhle während andere sich in den wie angeordnet im Halbkreis auf dem Boden liegenden Knochenhaufen wiederfanden.

    Der Namen des Wesens war Harpya und ein Satan musste es gewesen sein, der sie in seinem boshaften Hirn gezeugt und in diese Welt gebracht hatte.

    Das Schrecklichste an Harpya waren jedoch die Wunden auf ihrem Rücken.

    Direkt neben den Schulterblättern war die Haut zerfetzt worden und das rohe, blutige Fleisch bildete eiternde und schwärende Stellen. Aus diesen tiefen, von Maden wimmelnden Wunden waren einst die Schwingen einer Dämonin gewachsen und wer immer es gewesen war, der Harpya gefangen nahm, er – oder sie - hatte diese Schwingen abgetrennt. Sie lagen gut zwei Dutzend Schritte von der gefangenen Dämonin entfernt auf dem Boden. Auch diese Teile einer einstmals eine mordend durch das Land ziehenden Dämonin lebten immer noch. Vielleicht tausend Jahre waren seit Harpyas Gefangennahme vergangen, doch die Wunden würden sich niemals schließen und die Schwingen warteten nur auf den Augenblick, da sie wieder an ihren ursprünglichen und angestammten Platz zurückkehren konnten. Harpyas Körper verzichtete nicht freiwillig auf diesen wesentlichen Teil seiner ursprünglichen Gestalt. Dann aber, wenn dies geschah, mochte der Menschheit selbst der grausamste Tod wie eine göttliche Gnade erscheinen.

    In der Höhle herrschte ein grauenerregender Gestank.

    Der Gestank von Verwesendem und Verwestem, der ätzend scharfe Gestank nach Vogelkot und einer ganzen Reihe anderer, undefinierbarer Gerüche lag in einer solchen Schärfe und Dichte in der Luft, dass die Geruchsorgane eines, die Luft atmenden Wesens, schon beim ersten Einatmen verätzt worden wären.

    Über dem Wesen gab es eine kleine Nase im Fels und von dieser tropfte mit der Regelmäßigkeit eines mechanischen Werkes Wasser herunter. Die einzelnen Wassertropfen fielen dem Wesen auf den nach vorne hängenden Schädel und zerplatzten, rannen als kleine Bäche an den Schläfen des hässlichen Geierkopfes herab, benetzten die Schultern und Oberarme des Wesens, um dann irgendwo zwischen den Kielen des seltsamen Gefieders zu verschwinden.

    Der Rhythmus des herabfallenden Wassers war absolut gleichmäßig und stellte in der Regel das einzige Geräusch in der Höhle dar. Nur dann, wenn das Wesen den Kopf hob, die Augen öffnete und die schwarzen Lichtbahnen durch die Höhle schweifen ließ, wenn es nach einem Rundumblick den Kopf in den Nacken legte und einen seiner schrecklichen Schreie ausstieß, nur dann wurde der Rhythmus des fallenden Wassers unterbrochen.

    Das Wesen war vor langen Jahrhunderten von einem anderen Lebewesen gefangen genommen, in die Höhle gebracht und an den Felsen geschmiedet worden. Ob dieses andere Lebewesen mehr Mensch gewesen war als Harpya, war ein Geheimnis, das vielleicht niemals enthüllt werden konnte.

    Harpya verkörperte das Böse in dieser Welt.

    Der Name des Helden, der dieses Böse in Fesseln geschlagen hatte, war in Vergessenheit geraten. Ebenso hatten die Menschen vergessen, woher er stammte, ob er Mann oder Frau gewesen war, welches seine Sprache war und ob er selbst tatsächlich das Gute verkörpert hatte. Der Held war aus einem fernen Land gekommen und wieder in den Weiten der Welt verschwunden, sobald er sein Werk getan hatte.

    Die Höhle lag im Gestein einer kleinen Insel und diese Insel lag mitten in den menschenfressenden Fluten eines ungebärdigen, wilden und eiskalten Meeres. Die Insel zu erreichen erforderte größtes seemännisches Können, denn nur an wenigen Tagen eines Jahres zeigte sich das Meer von einer Art, die es vorstellbar machte, ein von Menschenhand gebautes Gefährt seinen Wogen anzuvertrauen. Die Insel selbst, kaum mehr als ein Eiland, wurde den größten Teil des Jahres von einer mehr als mannshohen Schicht aus Schnee und Eis bedeckt. Nur die riesigen weißen Bären des hohen Nordens betrachteten diese Insel als einen Teil ihrer Heimat. Die weißen Bären und eine Handvoll derer, die sich selbst Menschen – Inuit – nannten.

    Es hatte eine Zeit gegeben, da war Harpya frei gewesen und in der Lage überall hinzugehen, wonach ihr der Sinn stand. Harpya hatte diese Freiheit weidlich genutzt.

    Sie war es gewesen, die diese Welt in Atem gehalten hatte und immer und überall für Spannung sorgte. Es gab keinen Regierungssitz und keinen Fürstenhof auf der Welt, an dem sie nicht wieder und immer wieder aufgetaucht wäre, um allein mit ihrer Anwesenheit die Atmosphäre bei Hofe zu vergiften. Wenn Harpya auftauchte, brachte sie Neid und Missgunst, Hass und Streit, Mord und Totschlag, heimliche Intrigen und brutale, öffentliche Gewaltakte mit sich und niemand vermochte sich vor Harpyas Einfluss zu schützen oder sich diesem zu entziehen. Von der armseligsten Hütte bis zum vornehmsten Palast, kein Haus und kein Heim waren vor ihr sicher.

    Harpya, so hatten die Menschen das Gefühl, war allgegenwärtig, denn wenn sie an einem Platz für den Moment genug Unfrieden gestiftet hatte, breitete sie ihre gewaltigen Schwingen aus, erhob sich in die Luft und sauste davon, um nur Augenblicke später an einem anderen Platz aufzutauchen, an dem es sich lohnen mochte, das Böse zu schüren und stark zu machen.

    Harpya war die Dämonin des Bösen und sie hatte ein riesiges Betätigungsgebiet.

    Das Land war aufgeteilt. Zahllose kleine Grafschaften und Fürstentümer bildeten eigene Herrschaftsbereiche, die sich untereinander bekriegten und bekämpften. Oft stammten die Herrscher aus demselben Familienschoß und waren eng verwandt. Sie waren Vettern und Basen, auch Brüder und Schwestern und dennoch bekämpften sie einander mit wilder Wut und ohne jedes Erbarmen, denn Harpya war da und sorgte dafür, dass die Boshaftigkeit immer genügend Nahrung fand. Nur wenn stets und ständig irgendwo im Land gekämpft und getötet wurde, fühlte Harpya sich wohl, denn nur dann wurde ihr Blutdurst annähernd gestillt.

    Harpyas gesamte, ihr noch verbliebene Lebenskraft hing an den Erinnerungen an eine Vergangenheit, in welcher sie die Welt mit ihrer Boshaftigkeit beherrscht hatte. Aus diesen Erinnerungen schöpfte die Dämonin ihre Kraft, ihnen verdankte das Wesen, dass seine Brust sich unablässig weiter hob und senkte, dass die Lungen funktionierten und das Herz schlug. Von diesen Erinnerungen wurde der brennende Hass auf alles menschliche Leben auf dieser Welt wach gehalten. In diesen Erinnerungen war der brennende Wunsch verborgen, eines Tages die Fesseln zu zerbrechen und aus der Höhle hinaus in die Welt der Menschen zurück zu kehren.

    Harpya wäre bereit gewesen, alles dafür zu tun, wozu ein Dämon in der Lage ist, hätte sie damit ihre Freiheit wieder gewonnen. Doch die Fesseln an ihren Hand- und Fußgelenken, die stählernen Bänder an Hals und Taille, die Ketten, mittels derer ihre Fesseln am Stein der Höhle befestigt waren, widerstanden allen Versuchen Harpyas, als handelte es sich um die Bemühungen eines kleinen Kindes.

    Wenn der Frust zu groß wurde, wenn sie einmal mehr ihre Ohnmacht hatte eingestehen müssen, dann warf Harpya ihren bizarren Geierschädel in den Nacken und stieß ihre höllischen Schreie aus und jeder dieser Schreie sollte die Menschen erreichen und sie daran erinnern, dass das Böse nicht von dieser Welt verbannt war, sondern nur in einem trügerisch sicheren Gewahrsam gefangen gehalten wurde.

    Doch Harpya war nicht immer allein.

    Es gab Zeiten, da näherte sich ein lebendes Wesen der Höhle und schlüpfte durch den bestens verborgenen und für menschliche Augen absolut unauffindbaren Eingang in die Heimstatt des Bösen und dann geschah etwas, das jeder Vorstellung Hohn spricht. Harpya wurde in einem heftigen und zügellosen Akt von einem kleinen, menschenähnlichen Wesen zu einer ekelhaften Vereinigung gezwungen und wenn dieses Wesen die Höhle wieder verließ, war Harpya schwanger.

    Kurze Zeit später kehrte das Wesen zurück und entfernte die Leibesfrucht durch uralte Magie und geheimnisvolle Chirurgie aus Harpyas Körper und verschwand erneut, um sich lange Zeit nicht mehr wieder zu zeigen.

    Es gab Inuit, die beobachtet hatten, wie sich dieses kleine Wesen dem Berg mit der Höhle näherte und dann plötzlich wie vom Erdboden verschluckt verschwunden war. Keiner dieser Menschen war alt geworden, doch der eine oder andere hatte noch lange genug gelebt, um seine Beobachtungen weiterzugeben.

    So war im Laufe der Zeit eine Sage entstanden.

    Die Sage von einem unermesslichen Schatz im Schoße des Berges?

    Nein, die Sage vom Schoß des Bösen….

    Nordwind

    Die beiden Männer saßen in einem gar nicht einmal so kleinen Zelt, dessen Außenhaut aus zwei Lagen schwerem Filz bestand, einer sogenannten Jurte. Obwohl der Filz schwer und dick war, bot er nur den notwendigsten Schutz vor dem, was die Natur denen abverlangte, die in diesem Teil der Welt lebten.

    Die Zeit der endlosen Nacht war zwar vorüber, doch immer noch waren die Tage nicht lang genug, um ohne eine Specksteinlampe oder eine Fackel die notwendigsten Handgriffe zum Überleben erledigen zu können. Am Himmel hingen mächtige schwarze Wolken und unter diesen Wolken fegte ein eisiger Sturm über das Land, das in einem Zwielicht aus weißen und grauen Farbschattierungen sämtliche Konturen verloren zu haben schien. Einzig die überall wild wuchernden Büsche reckten ihre blattlosen, dürren Ruten wie schwarze Spinnenfinger in die Luft und boten auf diese Weise den Blicken der hier lebenden Wesen ab und an einen Platz, an dem sie sich fangen und ein wenig ausruhen konnten.

    Der Sturm war so stark, dass es selbst einem kräftigen Menschen nicht möglich gewesen wäre, gegen seine Richtung anzugehen und er war kalt. Eisig kalt. Goss man aus einem Behälter Wasser aus, so wurde aus diesem hartes Eis, noch ehe es den Boden erreicht hatte. Der Sturm und die Kälte waren die Feinde allen Lebens. Am meisten aber litten die wenigen Menschen dieses Landes unter den brutalen Bedingungen des Nordens. Der Sturm und die Kälte raubten den Menschen die Seele, so sagten die Eingeborenen und deshalb verließen sie ihre Behausungen niemals während der dunklen, kalten und stürmischen Jahreszeit.

    Die Männer hatten ein eisernes Kohlebecken mit der Glut schwelender Knochen zwischen sich geschoben. Das Kohlebecken war die einzige Wärmequelle im Zelt und deshalb war es im Innern der Filzkuppel auch ziemlich kalt. Kalt genug jedenfalls, dass der Atem der beiden wie Dampfwolken aus Nasen und Mündern quoll, kalt genug, dass die knappen Wasservorräte und das wenige an Fleisch, das sie noch besaßen steinhart gefroren war und kalt genug, dass sich keiner der beiden mehr daran erinnern konnte, wann sie sich zum letzten Mal warm und wohl gefühlt hatten. Doch immerhin besaßen sie ein Kohlebecken und sie hatten Knochen genug gefunden, um Glut zu bekommen. Glut und etwas Wärme, zugleich aber auch einen beißenden und stinkenden Qualm, der einem die Augen tränen ließ und das Gefühl vermittelte, man müsste jeden Augenblick ersticken.

    Auf der einen Seite des Kohlebeckens saß ein alter Mann, der in seiner Jugend ein beeindruckender Riese gewesen sein musste, das war immer noch zu sehen. Doch jetzt war sein Haar strähnig geworden, dünn und grau und er hatte gerade in diesem Winter mindestens ein Drittel seines Gewichtes verloren. Seine ehedem starken Zähne taugten nicht mehr viel und hatten begonnen auszufallen und damit konnte er seinen Körper auch nicht mehr mit ausreichend Nahrung versorgen und was er zu sich nahm, war schlecht gekaut. Wer ihn früher gesehen hatte, wenn er – mehr als sieben Fuß groß und mit unglaublich breiten Schultern – seine beiden Schwerter schwang oder mit seinem Freund und Begleiter Kampfübungen von atemberaubender Akrobatik absolvierte, konnte sich kaum mehr vorstellen, dass dies derselbe Mann war, der hier am Kohlebecken in einem alten Filzzelt kauerte. Er hatte einen uralten, von Motten zerfressenen Pelz um sich gewickelt und starrte trübe vor sich hin.

    Es war nicht nur der Pelz der unansehnlich und alt geworden war, die gesamte Kleidung des Mannes war zerschlissen und verbraucht und hätte eigentlich komplett ersetzt werden müssen. Das Leder seiner Leggins war speckig und dünn, sein Jagdhemd hatte längst sämtlich Fransen und Stickereien verloren, nur seine Waffen waren noch in gutem Zustand. Das lange Messer im Gürtel, die beiden Schwerter, die neben ihm am Boden lagen, sie steckten in gut geölten Scheiden und waren sicherlich bereit, jederzeit eingesetzt werden zu können.

    Der Mann war innerhalb dieses einen, letzten Winters alt geworden und hatte einfach begonnen zu zerfallen.

    Sein Begleiter war offenbar deutlich jünger und in einer viel besseren Verfassung, obwohl auch ihm Gewicht fehlte und obwohl auch mit seiner Kleidung und Ausrüstung nicht mehr viel Staat zu machen war. Sein Haar war pechschwarz und ohne auch nur eine graue Strähne darin. Seit Haut war immer noch glatt und gebräunt und seine Zähne weiß, stark und fest. Man konnte ihn auf allerhöchstens vierzig, keinesfalls aber auf mehr als fünfzig Jahre schätzen, während der andere, der Große, vielleicht schon auf die Hundert zuging.

    Der Jüngere trug ein nahezu identisches Jagdmesser am Gürtel, wie der alte Mann, doch darüber hinaus waren keine Waffen an ihm zu entdecken.

    Doch, halt, neben dem Eingang des Zeltes hingen nebeneinander mehrere wuchtige Bogen aus schwarzem Horn an ihren Haken und daneben jeweils zwei große Köcher voller Pfeile. Einer davon gehörte sicher dem alten Mann, ein anderer also dem jüngeren der beiden. Aber es hingen noch zwei weitere Bogen mit den dazu gehörenden Köchern dort und es war nicht festzustellen, wem diese Geräte gehörten. Neben den Bogen lehnten zwei unterschiedlich große, am stumpfen Ende gefiederte Speere an der Zeltwand und neben den Speeren zwei gut einen Arm lange Stöcke mit einem Knauf und einem Dorn am oberen Ende und einer Griffschlaufe am unteren.

    Zwei aufgerollte Seile aus geflochtenem Leder, die sich an einem Ende in drei, gut fünf Fuß lange Schwänze teilten und an denen drei runde, glatt polierte Steinkugeln befestigt waren, ergänzten das kleine Arsenal.

    Die auffälligsten Waffen an dieser Wand aber waren vier wundervolle Schwerter von etwas unterschiedlicher Größe. Schwerter, die zu Kriegern aus einem unendlich fernen Land und einer längst vergessenen Zeit gehören mussten. Zwei lange und zwei kurze Klingen. Wenn man die Schwerter aus ihren Scheiden nahm, konnte man sehen, dass sie nur einseitig geschliffen waren, aber auch, dass sie von überragender Schärfe sein mussten. Es waren dies die Klingen von Schwertkämpfern, die ihre Waffen zu gebrauchen wussten und für die der Schwertkampf mehr bedeutete, als die bloße Auseinandersetzung zum Zweck des Tötens.

    Kriegswaffen oder Jagdgeräte, wie immer man diese Utensilien sehen wollte. Die Schwerter waren sicherlich Kriegsgerät. Wo aber waren die Krieger, die mit diesen Waffen zu kämpfen wussten? Die dicke Staubschicht auf den schwarzen Scheiden ließ erkennen, dass sie sehr lange nicht mehr benutzt worden waren.

    Auch der jüngere Mann hatte einen großen Pelz um seine Schultern geschlungen und dieser Pelz befand sich – wie die Kleidung des Mannes - ebenfalls in einem gerade noch vertretbaren Zustand. Dennoch war dem Pelz anzusehen, dass er einstmals zu einem außergewöhnlichen Tier gehört haben musste. Ehedem hatte dieser, in silbergrauem Glanz schimmernde Pelz zu einem Tier gehört, wie es weit und breit auf diesem Teil der Welt nicht zu finden war. Einem mächtigen Tier von einer gewaltigen Größe. Einer Größe, die selbst der Größe der weißen Bären des ewigen Eises kaum nachstehen mochte.

    Es war still im Zelt. Sehr still. Das Heulen des Wintersturms war bei weitem das lauteste Geräusch das zu hören war und auch dieses Geräusch war durch den dicken Filz des Zelts gedämpft.

    „Du willst dich also tatsächlich davon machen, Bruder?"

    Der Jüngere hatte diese Frage gestellt, der Ältere antwortete. Allerdings nicht sofort. Erst nach geraumer Zeit hob er den Kopf, sah dem Freund und Ziehbruder, der ihm so gelassen gegenüber saß, mit triefenden Augen ins Gesicht und antwortete mit einem tiefen, immer noch dröhnenden Bass:

    „Was bleibt mir denn noch zu tun?

    Es ist alles längst getan, was ich tun musste und der Schmerz in meinen Eingeweiden tobt immer schlimmer. Ich mag aber nicht mehr leiden und deshalb ist es an der Zeit, dass ich gehe. Die Zeit so vieler guter Männer ist schon gekommen, so viele Freunde sind von uns gegangen, meine Frau hat mich schon vor unendlichen Jahren allein gelassen und reitet durch die sonnigen Steppen ihrer Jenseitswelt. Deine Frau ist ebenfalls in die tannengrünen Gefilde ihrer Geistheimat verschwunden und wartet dort seit endloser Zeit auf dich. 

    Was also hält mich noch auf dieser Welt?"

    „Ich?"

    „Du? Ja, dir zuliebe würde ich auch noch bleiben. Aber schau uns an. Ich bin innerhalb weniger Monde ein Greis geworden, den das Gift einer schlitzäugigen Hexe von innen heraus zerfrisst, während du immer noch in bestem Saft zu stehen scheinst. Ich wäre nur noch ein Ballast für dich, wenn ich bliebe und wer weiß, am Ende würde uns die Hexe doch noch finden und dann wärst auch du verloren. Muss das sein? Ich sage nein, das muss es nicht. Deshalb werde ich diese Welt verlassen und zusehen, dass ich meinen Clan und meine Freunde wieder finde und ich werde das Zelt errichten und dich erwarten. Meine Schwester hat mich schon gerufen und auch mein Vater hat schon ein paar Mal nach mir fragen lassen. Es ist an der Zeit, dass ich gehe. „Ich weiß ja, dass du Recht hast, Bruder. Auch ich sehne mich danach, diese Welt verlassen zu können und endlich meine Ruhe zu finden. Auch ich habe genug von all den Kämpfen, der ewigen Unrast, den unendlichen Wanderungen und der vielen Verluste, die wir erleiden mussten. Doch mir ist es scheinbar noch nicht vergönnt und so fällt es mir schwer, dass ich einen Weg ohne dich zu Ende gehen muss, wo du doch seit meinem ersten Schrei bei mir warst. Bruder, ich wünsche dir deshalb eine bessere letzte Reise, als du sie mit mir hattest. Gib mir noch einmal deine Hand und dann mach dich auf den Weg. Lass die Schmerzen und Qualen hinter dir und grüße mir unser Land.

    Der alte Mann nickte bedächtig und antwortete wieder erst nach einer langen Pause:

    „So soll es sein Bruder. Ich bitte dich aber noch um eines. Nimm meine Schwerter an dich und trage sie, bis du einen würdigen Platz findest, sie ebenfalls zu bestatten. Ich will nicht, dass sie in diesem verfluchten Land bleiben. Nimm auch meinen Dolch an dich, denn in ihm steckt immer noch ein Teil meiner Seele. Meinen Bogen aber verbrenne und wärme dich an seinem Feuer, vielleicht hilft dir dies, die Kälte zu überstehen. Bestelle den Wölfen meinen letzten Gruß, falls sie wieder kommen und nun soll es genug der Worte sein. Lass mich gehen."

    Der Alte reckte seine einstmals mächtige und nun seltsam dürr gewordene Pranke über das Kohlebecken und der Jüngere ergriff sie mit beiden Händen und hielt sie mit festem Druck lange fest. Dann sagte er leise:

    „Leb wohl, mein Bruder, die Sonne mag dich küssen, wenn du dein Ziel erreicht hast. „Leb wohl mein Bruder und hör nicht auf den Weg zum Leben zu suchen.

    Die Hand des alten Mannes entglitt den Fingern des Jüngeren, dann legte sich der Alte mit einem Seufzen zurück und schloss die Augen, um sie nie mehr zu öffnen.

    Der Jüngere starrte mit blinden Augen vor sich hin und kam sich unsäglich einsam und hilflos vor. Beinahe eintausend Jahre lang war er über die Erde gewandert und stets war sein Bruder an seiner Seite gewesen. Sie hatten wilde Schlachten geschlagen, ein mächtiges Reich zerstört und waren um die ganze Welt gezogen. Sie hatten Länder gesehen und Wunder, von deren Existenz nur wenige Menschen wussten und sie hatten Ereignisse überstanden, die ihnen auch dann niemand geglaubt hätte, wenn es lebende Zeugen dafür geben würde.

    Diese Zeiten waren vorbei, denn sein Bruder war von ihm gegangen, jetzt war er endgültig der letzte Überlebende der Grazalema und des Clans.

    Er hätte weinen wollen, doch wer hat jemals einen Krieger weinen sehen? Er hätte sich in seinem Bärenfell verkriechen wollen, doch selbst der Bär hatte ihn seit langem schon verlassen. Auch in die Erde konnte er sich nicht eingraben, denn diese war zu eisenhartem Stein gefroren und selbst mit den Schwertern seines toten Bruders wäre es ihm schwer gefallen, eine Grube auszuheben.

    Er starrte blicklos vor sich hin und war außerstande, einen Sinn für die Fortführung seines eigenen Lebens zu erkennen. Doch da, ganz so als stellte es eine Antwort auf seine unausgesprochenen Fragen dar, ertönte draußen ein Geräusch, das selbst im Sturmgeheul noch zu hören war. Der zweistimmige Gesang von Wölfen drang in das Zelt und mit einem Mal wusste der Mann, dass es für ihn noch nicht an der Zeit war, zu gehen.

    Er hatte noch eine Reihe von Aufgaben vor sich, die es zu erledigen galt.

    Die Jurte brannte lichterloh und in ihren steil in den kalten Himmel der Tundra aufsteigenden Rauch mischte sich der Geruch von brennendem und vergehendem Fleisch. Die Rauchsäule verfärbte sich zu einem öligen Schwarz und dann war der Mann sich plötzlich ganz sicher, dass die schwarzen Schlieren in der senkrecht aufsteigenden Säule die Form eines Mannes annahmen. Eines mächtigen Riesen, dessen gewaltiger Brustkorb von einem außerirdischen Lachen gedehnt wurde und aus dessen rauchgrauen Augen Blitze der überschäumenden Freude schossen.

    „So hast du den Weg also gefunden Bruder? Grüße mir die Heimat, lass sie wissen, dass auch mein Weg sein Ende finden wird und wir schon bald wieder gemeinsam jagen werden."

    Der Mann hatte einen großen Schlitten mit seinen Habseligkeiten bepackt und vor diesem Schlitten warteten vier starke Rentiere darauf, eine lange Reise zu beginnen.

    Vor zwei Tagen war der alte Mann in den Abendstunden gestorben. Eine Nacht lang hatte der Überlebende sich seiner Trauer hingegeben, dann, als am nächsten Morgen die blasse Sonne des bevorstehenden Frühjahrs sich ihren kurzen Weg entlang des östlichen Horizontes bahnte, als die seit Monden anhaltende Mittwinternacht eine erste wahrnehmbare Unterbrechung erfuhr, war der Mann aus der Lethargie seiner Trauer erwacht und hatte begonnen, seinen endgültigen Abschied vom Freund und Bruder vorzubereiten.

    Die vier Rentierbullen waren ihnen seit langer Zeit treue Weggefährten gewesen. Je zwei von ihnen hatten einen Schlitten gezogen, doch der Mann benötigte für sich allein nur noch einen Schlitten. Er packte seine Habe zusammen, seine Jagdwaffen und Felle und alles, was noch an Essensvorräten vorhanden war. Er packte den Schlitten sorgfältig und deckte die Last mit dem großen, silbergrauen Bärenfell ab, welches ihn auf all seinen Wegen begleitet hatte. Er hüllte sich in die zwar zerschlissene aber immer noch halbwegs warme Reisekleidung aus Rentierfellen, die ihm seine letzte Gefährtin, die mandeläugige Sorcha genäht hatte, dann legte er Feuer an der Außenhaut der Jurte und sah zu, wie die Rauchsäule aufstieg und sich mit den dichten und tiefhängenden Wolken der zu Ende gehenden Polarnacht vereinigte. In seiner Linken hielt er einen mannslangen, geraden Stab, der von zahllosen Kerben übersät war. Der Stab war aus dem Holz einer andalusischen Korkeiche geschnitten worden und seine Kerben sagten dem Wissenden, welche Zeit seit seiner Herstellung vergangen war.

    Der Mann mochte es selbst nicht so recht glauben, aber er wusste, dass er diesen Stab seit seinem Abschied von Al Andalus, immer sehr sorgfältig geführt hatte. Am frühen Morgen hatte er die Kerben wieder einmal gezählt und so wusste er, dass seit dem Tag, an dem er bei Cadiz den Drachen bestiegen hatte, welcher ihn zusammen mit einer kleinen Streitmacht zur nebligen Insel gebracht hatte, ganz genau achthundertsechsundneunzig Jahre vergangen waren. Damals war er vierundzwanzig Jahre alt gewesen und somit bestand kein Zweifel daran, dass sein aktuelles Lebensjahr das neunhundertundzwanzigste war. 

    Ein unfassbares Alter.

    Nur sein Bruder war ihm noch ein paar Jahre – sieben an der Zahl – voraus gewesen und wenn er nun zurückblickte, wusste er, dass es kein Segen gewesen war, so alt werden zu dürfen. Die Reihe der Menschen und anderer Lebewesen, die er auf seinem Weg durch die Jahrhunderte hatte zurücklassen müssen, war ungeheuer lang und voller schmerzlicher Erinnerungen.

    „Eigentlich ist mir nur der ewige Himmel geblieben. Nur er war mir treu, nur er hat mich auf all meinen Wegen begleitet und mich niemals verlassen."

    Während seine Blicke dem Rauch hinauf in den Himmel folgten, begann vor seinem inneren Auge die Zeit rückwärts zu laufen.

    Die Wölfe an seiner Seite hatten sich vierzehn Mal erneuert, seit sie im Tal der grauen Bären zum ersten Mal seinen Weg gekreuzt hatten.

    Shaitan, den wundervollen schwarzen Hengst von uraltem iberischen Blut hatte er bei seiner Abreise nach Anglialbion zurücklassen müssen und auch den prächtigen Vollblüter Dunbeath konnte er damals auf seine Reise nach Norden nicht mitnehmen.

    Eine Reise, die nur einem einzigen Zweck gedient hatte.

    Die Schwerter der Macht waren aus der Welt zu schaffen, denn ihre Macht war zu groß, um von Menschen beherrscht zu werden. Obwohl irgendwann eine Idee des Guten die Herstellung der Schwerter begünstigt hatte, waren sie in den Händen von Sterblichen zu Werkzeugen des Bösen verkommen.

    Shandra erinnerte sich an die Menschen, die ihn auf diesem Weg begleitet hatten.

    Jelena, die Reusin, die Gefährtin seines Bruders, die untrennbar mit ihnen verbunden gewesen war, zu ihnen gehört hatte wie die Haare zu einem Schädel, war nur knapp zweihundert Jahre alt geworden. Sie war eines natürlichen Todes gestorben, denn ihre Gene waren nicht auf eine ähnliche Langlebigkeit programmiert gewesen, wie die ihrer Gefährten.

    Seine geliebte Shakira war diejenige unter den Menschen gewesen, die - neben seinem nun ebenfalls von ihm gegangenen Bruder – am längsten an seiner Seite gewesen war. Mehr als sechshundert Jahre waren sie Seite an Seite über die Erde gewandert, ehe sie dem heimtückischen Fluch und dem tödlichen Gift einer von abgrundtiefem Hass getriebenen Schamanin zum Opfer gefallen war.

    Sorcha, die Frau aus Karakorum, die Enkelin der Schamanin Sungaeta war ebenso am Gift der Hexe gestorben, wie die vier Söhne und drei Töchter, die aus seinem Samen entstanden waren.

    Kithuri, Sorchas jüngere Schwester hatte ebenfalls sterben müssen und mit ihr die beiden Töchter und der Sohn, Kinder aus den Lenden seines Bruders. Auch sie waren dem Hass der Schamanin zum Opfer geworden.

    Natürlich waren das nicht alle Menschen und Tiere, die er hinter sich gelassen hatte, doch der Tod gerade dieser Menschen machte ihm besonders zu schaffen.

    Der Mann spürte ein trockenes Würgen in seiner Kehle und aus den Tiefen seines Ichs stieg der brennende Hass in unverminderter Schärfe auf, ganz so wie er ihn in all den Jahren seit Shakiras Tod immer empfunden hatte.

    „Sungaeta, die Zeit meiner Rache ist also gekommen. Jetzt, da auch mein Bruder mich verlassen hat, macht es keinen Sinn mehr, mich weiter zu verstecken. Ich werde mir zurück holen, was mein ist und ich werde die Rache vollstrecken, die ich dir am Totenfeuer Shakiras geschworen habe. Dreihundert Jahre habe ich gewartet, nun macht es keinen Sinn mehr, weiter zu warten."

    Der Mann hatte nie ergründen können, wodurch er sich den Hass und die Wut Sungaetas zugezogen haben mochte, doch ihre immerwährenden Angriffe auf ihn selbst und auf die Menschen, die ihm nahe standen, waren Fakt und nicht wegzudiskutieren.

    Ja, jetzt war er endgültig allein, frei und ungebunden. Jetzt konnte er seine Rache vollziehen und er schwor es vor sich selbst.

    „Beim ewigen Himmel, der mein Begleiter durch alle Abschnitte meines Lebens war, schwöre ich es. Ich, der ich einst Shandra el Guerrero war, werde dich, Sungaeta dorthin stoßen, wohin du einzig und allein gehörst. Die tiefste Schwärze des Vergessens soll über dich kommen und wenn ich meine Rache erfüllt habe, wird es sein, als hättest du niemals einen Fuß auf die Erde gesetzt. Ich werde dich auslöschen und mit dir jedwede Erinnerung in den Gedächtnissen von Menschen und Tieren, die dir begegnet sind. Dies wird meine Rache sein und ich schwöre, sie wird vollständiger sein, als alles was ich je im Leben getan habe."

    Langsam trat der Mann, der sich selbst Shandra el Guerrero genannt hatte, noch ein paar Schritte näher an die wabernde Flammenwand heran, die seinen toten Ziehbruder Rollo in dessen Geistheimat gebracht hatte und wärmte sich die bloßen Hände. Lange würden die Flammen nicht mehr anhalten, das wenige an Nahrung, das die Jurte zu bieten gehabt hatte, war nahezu aufgebraucht und wenn die letzte Flamme aufgezüngelt war, würde er das kleine Horn einer Antilope mit der noch warmen Asche füllen, das Horn gut verschließen und sich dann auf den Weg machen, um seine letzte Aufgabe zu beginnen.

    Der ewige Himmel sollte ihn begleiten und die Rentiere seine Lasten ziehen. Er hatte die Waffen von der Wand der Jurte genommen, auch den Bogen und die Pfeile seines Bruders, denn er brachte es nicht fertig, ein Gerät zu zerstören, das ihn und den Bruder so viele Jahrhunderte lang begleitet hatte. Er fragte sich zwar insgeheim, ob es jemals einen Menschen geben würde, dessen Kraft ausreichte, um diesen Bogen zu spannen und einen Pfeil von ihm abzuschießen, aber das waren Gedanken, über die sich andere den Kopf zerbrechen mochten, wenn es an der Zeit dazu war. Es waren die Waffen eines Helden und sie zu zerstören wäre ihm wie ein Sakrileg vorgekommen. So lag alles was er noch besaß gut verpackt auf dem Schlitten. Vier starke Rentiere würden ihn trotz seines beträchtlichen Gewichtes mühelos ziehen können. Der Krieger stellte seine Füße auf die Kufenenden des Schlittens und schnalzte mit der Zunge, ehe er einen gellenden Schrei ausstieß. Der Zeitpunkt war gekommen, der Schrei war das Signal für die Rentiere und mit einem mächtigen Ruck warfen sie sich in die Riemen, krachend lösten sich die festgefrorenen Kufen des Schlittens vom Schnee und dann waren sie unterwegs

    Nun ging es endgültig nach Süden. Die beiden starken Wölfe begleiteten ihn, sie mochten ihm den Rücken frei halten. Über mehr Hilfe verfügte er nicht, mehr würde er auch nicht brauchen.

    Shandra lenkte den Schlitten nach Südwesten und der ewige Himmel bestätigte ihm, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.

    Plötzlich und absolut ungewöhnlich für die Jahreszeit riss die graue Wolkendecke auf und die gewaltige Kuppel des stahlblauen Himmels wurde sichtbar. Es war nur ein kurzes Aufblitzen, nur ein jäher Augenblick, doch er genügte Shandra als Zeichen.

    Ein leises Lachen kam aus seiner Brust, er fühlte die Befriedigung in seiner Brust aufsteigen, er wusste, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.

    Die Tundra frisst zuerst die Seele der Menschen, ehe sie deren Körper verschlingt.

    Die Angehörigen des Rentiervolkes, mit denen Shandra sich in den letzten beiden Jahrhunderten mehr oder weniger regelmäßig getroffen hatten, verbreiteten diese These in all ihren Geschichten und Legenden.

    Im kurzen, heißen Sommer war die Tundra ein menschenfeindliches Ungeheuer aus bodenlosem Morast, aus alles verschlingenden Sümpfen und aus Flüssen und Strömen von geradezu ungeheuerlichen Ausmaßen. Myriaden von blutsaugenden Insekten, winzige Kriebelmücken aber auch Moskitos von der Größe eines kleinen Vogels bildeten den Hauptanteil des tierischen Lebens während dieser Zeit. Nur ein Narr hielt sich während des Sommers in der Tundra auf.

    Der Winter erst machte die Tundra passierbar. Ein über Monate hinweg stetig und stark blasender Nordostwind buk Schnee und Eis zu einer festen Masse zusammen, die auch das Gewicht eines schweren Schlittens und die Tritte von Mensch und Tier tragen konnte. Der Winter sorgte so dafür, dass man die Sümpfe durchqueren konnte, ohne von den Moorhexen verschlungen zu werden. Allerdings war es alles andere als ein Vergnügen, die endlosen Weiten der Tundra vor Augen zu haben und nicht an der Erkenntnis zu verzagen, dass man selbst allenfalls ein Nichts angesichts dieser schieren Unendlichkeit darstellte.

    Die Kälte saugte den Menschen die Kraft aus den Knochen und raubte ihnen den Mut. Es war so kalt, dass selbst ausgespuckter Speichel als klirrender Eisbrocken zu Boden fiel. Die Kälte und der Wind sorgten zusammen dafür, dass die Schneedecke der Tundra nur dünn blieb und nur aus diesem Grund zog es Winter für Winter riesige Herden von Rentieren und Karibus aus den Steppen und Wäldern hinaus in die Tundra. Unter der harten, aber dünnen Schneeschicht fanden die Tiere auch im strengsten und tiefsten Winter Moose und Flechten genug, um satt zu werden und die lange Polarnacht zu überstehen.

    Der Mensch, welcher sich in dieser Jahreszeit daran machte, die Tundra zu durchstreifen, musste mehr mitbringen als nur den Glauben an sich selbst und an die eigene Unbesiegbarkeit. Kraft und schier unendliche Ausdauer waren ebenso charakteristisch für die Angehörigen der Rentiervölker, wie stoische Geduld, die man andernorts vielleicht eher als dumpfen Starrsinn bezeichnet haben würde.

    Ein Mensch in der Wintertundra musste in der Lage sein, bei ununterbrochener Finsternis unter einem wolkenverhangenen, bleigrauen und tiefhängenden Wolkenhimmel seine Richtung bestimmen zu können. Wer dazu nicht in der Lage war, den verschlang die Tundra ohne Gnade.

    Ein Mensch in der Wintertundra, musste damit zurechtkommen, dass die unnatürliche Weite auch unnatürlich still war. Das ununterbrochene Heulen des Nordostwindes stellte das alles beherrschende Geräusch dar. Ein Geräusch, das nur ganz selten unterbrochen wurde von dem Klappern der Geweihe umherziehender Karibu- und Rentierherden, von einem vereinzelt aufsteigenden Wolfsgesang oder vom Knacken brechender Eisschichten.

    Die Bilder der Wintertundra verwirrten den Geist, denn der Wind ließ immer wieder und wie aus dem Nichts Schneehosen aufsteigen, jagte sie entlang des Horizontes und ehe ein Auge diese Windgeister wirklich erfassen konnte, waren sie schon wieder verschwunden.

    All das zusammen ließ die Tundra zum Feind der Menschen werden.

    Zum Feind der Menschen jedenfalls, die nicht den Rentiervölkern angehörten.

    Shandra und Rollo hatten die Zeit genutzt, die sie gezwungener Maßen in dieser unwirtlichen Wildnis verbracht hatten. Sie hatten gelernt, die Tundra genauso zu akzeptieren, wie es ihnen die Nomaden der Rentiervölker vorlebten. Doch Rollo war gegangen, sein Weg in dieser Welt war zu Ende gewesen und Shandra war allein zurückgeblieben. Nur Geri und Freki, die beiden Wölfe, die ihn seit achteinhalb Jahrhunderten begleiteten, waren noch an seiner Seite, nur sie trugen dazu bei, Shandras Verstand zu erhalten, ihn vor dem Wahnsinn der Nacht, der Kälte und der Einsamkeit zu bewahren.

    Shandra überließ es den Rentieren vor seinem Schlitten, die Reisegeschwindigkeit zu bestimmen. Er sorgte nur dafür, dass sie in Bewegung blieben und den Schlitten in die von ihm gewünschte Himmelsrichtung schleppten.

    Am frühen Nachmittag des neunzehnten Reisetages erreichte er trotz seines durchschnittlich gemächlichen Tempos zum vierten Mal das Ufer des womöglich gewaltigsten Stroms, den ein Mensch je zu Gesicht bekommen haben mochte. Der Jenizzei mäanderte durch die Tundra wie eine gewaltige Schlange und sein Bett stellte auch jetzt, da der Strom immer noch von einer mehrere Klafter dicken Eisschicht gefangen gehalten wurde, eine unübersehbare Landmarke dar und zugleich ein Hindernis auf dem Weg, das überwunden werden wollte.

    Eine unendliche weiße Fläche, eine unfassbare Weite, scheinbar ohne jede Unebenheit erstreckte sich bis an den Horizont. Eine Ebene, die jedem Betrachter zu sagen schien:

    „Komm, trau dich und betritt mich. Dringe ein in mein Reich und erlebe, wie ich dich vernichte, ohne dass ich mich dazu auch nur im Geringsten rühren müsste."

    Neunzehn Tage waren vergangen, seit Rollo im Rauch des Feuers zu seinen Ahnen gegangen war. Neunzehn Tage auch, da sich zum ersten Mal ein rosaroter Streifen am östlichen Horizont des Himmels der Polarnacht gezeigt hatte und nun lag die Tag- und Nachtgleiche des Frühjahrs nicht mehr fern. Jeder Tag wurde durch ein wenig mehr Licht erhellt und die Lufttemperatur stieg ganz allmählich bis in den Bereich, da das Eis zu schmelzen beginnen würde.

    Shandra erkannte, dass die Zeit vorüber war, da er in gemütlichem Tempo durch die im Frost erstarrte Tundra bummeln und zugleich seinen Gedanken nachhängen konnte.

    Vier Tage, so schätzte er, müssten genügen, um den Jenizzei ein letztes Mal zu überqueren und danach sollte er in der Lage sein, in höchstens zehn Tagen den Anstieg zum Waldland, zur Taiga zu überwinden und den Saum des Urwaldes zu erreichen.

    Dort würde er seinen Schlitten entladen und all sein Hab und Gut zu vier Packlasten bündeln müssen, welches er den Rentieren auf den Rücken schnallte. In der Taiga war es unsinnig, sich mit einem Schlitten auf eine Reise zu begeben.

    Die Taiga stellte eine weitere Herausforderung für Geist und Körper eines Reisenden dar. Niemand vermochte das Alter der Bäume auch nur zu erahnen, die in diesem Gebiet wuchsen. Sicher war nur, dass das Alter dieses gewaltigen Urwalds nicht in Jahrhunderten sondern in Jahrtausenden zu bemessen war. Die Bäume ragten bis in den Himmel und das Unterholz war zumeist so dicht, dass ein Wanderer froh sein musste, wenn er zu Fuß und mit Packtieren durch kam.

    Shandra war mehrfach bis tief in die Taiga hinein vorgestoßen, doch dann hatte er immer wieder umkehren müssen, weil der Bannzauber der Hexe Sungaeta ihn dazu gezwungen hatte.

    Jetzt, da er am Ufer des Stroms stand, erzeugte der Gedanke an Sungaeta ein grimmiges Lächeln auf Shandras Gesicht. Ein Lächeln allerdings, das selbst unter wohlmeinendsten Umständen niemals als Ausdruck der Freundlichkeit zu deuten gewesen wäre.

    Rollo war gegangen und damit hatte der Bann der Hexe den größten Teil seiner Wirkung auf Shandra verloren.

    Während die Rentiere den schweren Schlitten in flottem Tempo über das Eis des Jenizzei zogen, hing Shandra seinen Gedanken nach.

    Sungaeta war vermutlich die mächtigste unter den zahlreichen Hexen der Rentiervölker. Sie war eine Schamanin, die in innigster Verbindung zu den Welten der Geister und Dämonen stand, so sagte man und sie war uralt. Vielleicht sogar älter als Shandra. Sie wusste von Ereignissen aus angeblich eigenem Erleben zu berichten, die schon weit in der Vergangenheit lagen, als Shandra geboren worden war und sie schien allwissend zu sein. Sie kannte unzählige Einzelheiten aus Shandras Leben. Sie wusste um seine Herkunft und sie wusste um den Verbleib von Shaktar und Sombra. Sie wusste um die Schlachten und Kriege mit den Anglialbions und um Shandras Siege.

    Sie wusste aber nichts über den Verbleib der magischen Klingen und das war es vermutlich gewesen, was sie zu Shandras erbitterter Feindin werden ließ.

    Als die vier Freunde auf ihrer Reise nach Süden das Land Sibirsk durchwanderten und eines Tages die Siedlung Karakorum erreichten, ein Städtchen mit ein paar hundert Einwohnern und zwei Dutzend Handelsposten verschiedener Pelzhändler aus aller Herren Länder, waren sie von Sungaeta bereits erwartet worden.

    Sungaeta war nicht nur Schamanin, sie war zugleich die Herrscherin über Karakorum und über die nördlichen Sippen der Rentiervölker. Ihr Ziel aber war es, die Herrschaft über alle Rentiervölker zu gewinnen und dazu wären die magischen Klingen –wenigstens eine von ihnen – mehr als nur gute Helfer gewesen.

    Die Freunde waren in Karakorum zunächst gut empfangen und im Hause der Schamanin untergebracht worden. Sungaeta hatte große Bankette veranstaltet, um ihre weitgereisten Gäste zu ehren und sie hatte Shandra ins Vertrauen gezogen und ihm ihre Pläne offenbart. Ohne jeden Zweifel war sie von der Ausstrahlung des Kriegers zutiefst beeindruckt gewesen und ließ nichts unversucht, um ihn an ihre Seite zu bringen.

    Sungaeta bewies Geduld und Einfühlungsvermögen und sie akzeptierte, dass Shandras Bindung an Shakira und seine Zusammengehörigkeit mit Rollo und Jelena von größerer Bedeutung waren als alles andere.

    Sie bewies aber auch taktisches Geschick, denn ohne dass es den Freunden bewusst geworden wäre, hatte sie einen Bannzauber gewoben und dafür Sorge getragen, dass keiner ihrer Gäste auch nur auf die Idee kam, Sibirsk wieder zu verlassen. So vergingen die Monde und die Jahre und dann kam, was kommen musste.

    Jelena begann zu altern und starb.

    Rollo trauerte zusammen mit Shandra und Shakira viele Jahre lang um die Gefährtin, doch dann begegnete er der jungen Kithuri und begann sich langsam über den Verlust der blonden Reusin hinweg zu trösten.

    Sungaeta beobachtete und versuchte immer wieder an das Geheimnis der magischen Klingen zu gelangen, doch was immer sie anstellte, sie biss auf Granit. Weder Rollo noch Shakira – von Shandra ganz zu schweigen – gaben ihr auch nur den kleinsten Hinweis über den Verbleib der Schwerter.

    Da begann Sungaeta ärgerlich zu werden.

    Eines Tages verschwanden die beiden wertvollsten Besitztümer Shandras spurlos aus dem Zelt der Freunde. Sowohl die kleine Rolle mit der magischen Haut als auch das Horn Olifant wurden am hellen Tag entwendet und tauchten nicht mehr auf.

    Dann begann es Shakira schlecht zu gehen.

    Zuerst war es nur eine einfache Erkältung, doch aus dieser wurde innerhalb kurzer Zeit ein echtes Siechtum und da die Haut verschwunden war, besaß Shandra keine Möglichkeit, seiner Gefährtin zu helfen.

    Sungaeta ließ keinen Zweifel daran, dass sie Shakira zwar hätte helfen können, aber sie war nicht bereit dies ohne Gegenleistung zu tun.

    „Geh und hole die magischen Klingen aus ihrem Verlies und übergib sie in meine Hände, dann mag deine Geliebte wieder gesund werden und noch viele Jahre an deiner Seite leben. Andernfalls …"

    Ein gelangweiltes Achselzucken ließ offen, was die Alternative zu Sungaetas Forderung sein mochte.

    Shakira starb innerhalb eines Jahres und Shandras Wut auf die Hexe war groß. So groß, dass er, nur um die Hexe zu ärgern, innerhalb weniger Monate eine andere Urenkelin Sungaetas in sein Bett holte. Sorcha war in vielen Dingen eine getreue Kopie Shakiras und ihr gelang, was Shakira nie gelungen war. Sie wurde von Shandra schwanger und gebar in sieben aufeinander folgenden Jahren sieben Kinder.

    Auch Kithuri wurde von Rollo zur Mutter gemacht und mit jedem Kind, welches die beiden jungen Frauen zur Welt brachte, wurde Shandras Weigerung zur Preisgabe seines Geheimnisses konsequenter.

    „Diese Schwerter dürfen niemals wieder in die Hände von Menschen gelangen, denn kein Mensch ist stark genug, der ungeheuren Macht der Klingen auf Dauer zu widerstehen. Eine der Klingen in deiner Hand wäre eine Bedrohung für dein Volk. Zwei der Klingen stellten bereits eine Bedrohung für die Menschheit dar und der Besitz aller Klingen würde diese Welt aus den Angeln heben. Nein, Sungaeta, du magst betteln oder drohen, du magst süß sein oder voller Wut, niemals werden wir dir die Klingen ausliefern. Nicht dir und auch nicht jemand anderem. Ich habe sie versiegelt und sie sollen bis ans Ende aller Zeit in dieser Versiegelung bleiben. Es ist dies die vernünftigste Lösung für alle."

    Sungaeta kochte vor Zorn. Ihre Wut, ihr Hass, aus grenzenloser Enttäuschung geboren sprengten alle Schranken der Vernunft. Eines Tages schickte sie Mörder aus und ließ Kithuri und ihre Kinder umbringen. Auch Sorcha und Shandras Nachkommen starben unter den Stichen und Hieben von Meuchelmördern, zugleich verhängte die Hexe einen wilden Fluch und Bannzauber über Shandra und Rollo. Sie ließ die beiden von ihren Schergen aus Karakorum hinaus in die Tundra jagen und verhängte den Bann über sie.

    In Rollos Eingeweiden begannen urplötzlich wilde Schmerzen zu toben, welche durch nichts und niemand zu lindern waren und Shandra verlor jeglichen Mut und Willen, sich woanders als in den Weiten der Tundra aufzuhalten.

    Rollos Sterben wurde zu einer schrecklichen Angelegenheit, denn die Kraft seines mächtigen Körpers machte es auch den Hexenkünsten Sungaetas nicht leicht. Sein Siechtum nahm kein Ende und Shandra saß wie willenlos, wie paralysiert dabei, beobachtete das Leiden des Freundes und fand nicht die Kraft, etwas dagegen zu unternehmen.

    Rollos Tod, sein Abschied in die Geistwelt des Clans der Grazalema hatte letztlich den Fluch gebrochen. Shandra war wie aus einem bösen Traum erwacht und plötzlich in der Lage, seine längst beschworene Rache anzugehen.

    Über all diesen Erinnerungen und Grübeleien verging Shandra die Reise wie im Flug.

    Er war noch zwei Reisetage vom Saum des Waldlandes entfernt, als über ihm der erste große Keil der Wildgänse am roten Abendhimmel auftauchte und das Ende des Winters ankündigte.

    Es begann zu tauen, das Wetter wurde von Tag zu Tag milder und der Schnee schmolz in rasender Geschwindigkeit, fast so schnell wie er im vergangenen Herbst gekommen war. Von den Flüssen und Strömen erklang Tag und Nacht das dröhnende Krachen des brechenden Eises und wenn die Eisschollen in der Strömung gegen einander geschmettert wurden, war das Ächzen und Knirschen bis zum Saum der Taiga hinauf zu hören. Die Tundra begann sich zu verändern und als sich Shandra am Rand der Taiga umwandte und auf seiner Spur zurück blickte, lag dort eine völlig andere Landschaft, als er sie in den letzten Tagen durchzogen hatte.

    Die vorherrschende Farbe war ein dreckiges Braun, durchbrochen von tosenden, lehmgelben

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