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Die Rache des Kryonos: Die Chronik des Zweiten Kryonischen Krieges
Die Rache des Kryonos: Die Chronik des Zweiten Kryonischen Krieges
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eBook1.482 Seiten21 Stunden

Die Rache des Kryonos: Die Chronik des Zweiten Kryonischen Krieges

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Über dieses E-Book

Thorgren von Hedau, als Unterhändler des seenländischen Königs unterwegs in das Land Lysidien, wird bei einer Rast von dem Geist seines Urahnen Nigall aufgefordert, die Seherin Branwyn in den Schwarzen Sümpfen aufzusuchen. Dieses Treffen steht im Zusammenhang mit Ereignissen, die sich lange vor Thorgrens Geburt zugetragen haben, in seinen Tagen aber wieder an Bedeutung gewinnen. Auf dem Weg in die Schwarzen Sümpfe schließen sich ihm weitere Weggenossen an. Ohne es zu ahnen, dienen sie alle einem gemeinsamen Schicksal.
Während sich diese Gemeinschaft auf ihrem Ritt in die Sümpfe befindet, braut sich über den Völkern von Erdos Unheil zusammen. Das mythische Wesen Kryonos will sich an den Bewohnern dieser Welt rächen, weil sie ihm einst das Achôn-Tharén, die Quelle seiner Macht, das erst kürzlich wieder zu ihm zurückgekehrt ist, gestohlen hatten. Und die Namurer (Grünländer), Seenländer, Elfen, Felsgnome und Lysidier rüsten zum Krieg.
Mit der Hilfe der Seherin Branwyn und des Magiers Melbart erfährt Thorgren unglaubliche Dinge über seine Vergangenheit. Zu seinem Unwillen, einst aber aus freien Stücken, hat er sich zusammen mit seinen jetzigen Weggefährten die Pflicht auferlegt, Kryonos endgültig das Achôn-Tharén zu entreißen. Gemeinsam machen sie sich auf zum Verlorenen Berg, in dem Kryonos haust. Bald begreift die Gemeinschaft, dass der Krieg zwischen Kryonos und den Erdanern nur gewonnen werden kann, wenn sie erfolgreich ist.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum10. Nov. 2018
ISBN9783742716620
Die Rache des Kryonos: Die Chronik des Zweiten Kryonischen Krieges

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    Buchvorschau

    Die Rache des Kryonos - Harald Höpner

    1. Ein überirdisches Verlies

    Ein Raum, so grenzenlos und unbeschreiblich, dass er sich jeder Vorstellungskraft eines weltlichen Wesens widersetzte. Lichtspiele von überirdischer Schönheit, so weit das Auge eines Betrachters hätte schauen können, und eine überwältigende Farbenpracht durchfluteten diesen immateriellen Ozean. Sie entstanden, wuchsen ins Unermessliche, schrumpften, verblassten und wurden von neuen Lichterscheinungen durcheinandergewirbelt. Vielfarbige Blitze von ungeheurer Intensität, manche unmittelbar sichtbar, andere verborgen innerhalb der Leuchterscheinungen und doch in ihrer Wirkung erkennbar, wenn sie eine der bunten Leuchtblasen wie eine irdische Gewitterwolke in ihrer ganzen Ausdehnung für wenige Augenblicke aufleuchten ließen, waren die Nervenbahnen zwischen den wabernden Lichtgebilden, ihre Erzeuger und ihr Untergang. Es waren Lichtspiele kosmischen Ausmaßes.

    Und doch war dieses gewaltige Lichtermeer gefangen in einer Kugel, deren Hülle von keinem Wesen und keinem irdischen Körper durchdrungen werden konnte und außerhalb der Kugel kaum erahnen ließ, was in ihrem Inneren vor sich ging. Diese Kugel war ein überirdisches Verlies, geschaffen in einer Dimension, die sich jeglicher kosmischen Erscheinung entzog. Da sie sich in keinem sichtbaren und messbaren Teil der irdischen Schöpfung befand, gab es keinen Anhaltspunkt, der Rückschlüsse auf die tatsächliche Ausdehnung dieser Kugel erlaubte. Jeder Versuch einer solchen Abschätzung wäre sinnlos gewesen.

    Innerhalb dieser energetischen Kugel fand jedoch kein Entstehen und Vergehen im herkömmlichen irdischen Sinne statt, alle Veränderungen waren lediglich Ausströmungen und Formgebungen des in ihr gefangenen Wesens, und so existierte in ihr auch keine Zeit.

    Dieses überirdische Verlies war von Geistwesen geschaffen worden, die sich die Luzengoi nannten, und die gleichzeitig als Wächter dessen dienten, der darin eingesperrt war. Die außergewöhnliche Art dieses Gefängnisses ließ keinen Zweifel daran, dass es ein ebenso außergewöhnlicher Gefangener war, der dort einsaß.

    Hinsichtlich dieses Gefangenen erfüllte das Verlies seinen Zweck bereits seit einigen hundert Jahren, genauer gesagt: eintausendfünfundachtzig Jahre erdanischer Zeitrechnung. Und jetzt nahte der Zeitpunkt, an dem er wieder freigelassen werden und auf den Planeten Erdos zurückkehren musste.

    Am Beginn dieser Zeitspanne war dieses Wesen auf jener Welt, wo es so viel Unheil angerichtet hatte, von den Luzengoi buchstäblich eingesammelt worden. So mächtig diese Wächter auch waren, auch sie mussten sich kosmischen Gesetzen beugen, und deshalb gab es für sie keine Möglichkeit, ihren Gefangenen, der den Namen Achôn-Tharén führte, länger festzuhalten, obwohl sie wussten, dass seine Freilassung erneut eine finstere Zeit über Erdos bringen würde.

    Die Luzengoi gehören zu den wenigen Intelligenzen, die wussten, wann und zu welchem Zweck das Achôn-Tharén geschaffen worden war, und wer sein Schöpfer war. Sie waren es nicht selbst. Das Achôn-Tharén war ein Teil der Schöpfung, von immenser Macht, weder gut noch böse, aber mit dem freien Willen ausgestattet, sich für eine Seite zu entscheiden. Gleichzeitig war es unfähig, selbständig zu handeln. Es war ein Diener und als solcher brauchte es einen Herrn. Diesen Herrn hatte es einst in Kryonos gefunden und war ihm seither untertan. Kryonos war ein Meister schwarzer Künste, und er verkörperte jegliches Gegenteil des Schönen in der Schöpfung. Er hatte sich auf Erdos eingenistet und war im Begriff, wieder einmal, muss man sagen, sich diese Welt zu unterwerfen, nachdem sein letzter Vorstoß vereitelt werden konnte. Wie der ursprüngliche Name des Achôn-Tharéns lautete, ist nicht überliefert, aber seinen jetzigen Namen hatte es von den Einwohnern von Erdos, den Erdanern, erhalten, den sie ihm nach der Art seines ersten Eintreffens auf ihrem Planeten gaben. Achôn-Tharén bedeutet in der Sprache ihrer Weisen Feuer der Götter.

    Jetzt noch kurz zurück zu den Luzengoi, deren Unbeschreiblichkeit dem ihrer Schöpfung, des überirdischen Verlieses, in nichts nachsteht, deshalb kann ihre Darstellung nur mit unzulänglichen Begriffen erfolgen.

    Von ihnen gibt es in der ganzen Schöpfung nur vier. So unbeschreiblich diese Wesen auch sind, so besitzen sie doch eine Gestalt. Wie so viele Lebensformen in der Schöpfung ist auch ihre menschlich. Die Luzengoi sind Lichtwesen von beeindruckendem, für Menschen geradezu unerträglichem Glanz, und je nachdem, wie derjenige beschaffen ist, dem sie sich zeigen, was nur selten vorkommt, empfindet ihr Gegenüber eine vollkommen liebevolle und gütige Ausstrahlung bis hin zu einer überwältigenden Furcht. Luzengoi sind unbestechliche Richter, die nach kosmischen Gesetzen urteilen.

    Eingehüllt in eine gleißende Aura lassen sie keine Einzelheiten ihrer Gestalt erkennen. Sie sind ungeschlechtlich, denn sie befinden sich in einer Seinsebene, in der Geschlechtlichkeit keine Rolle mehr spielt. Die Luzengoi haben Namen: Sie heißen Akzaloi, Alduhim, Adbenazai und Aihudir. Doch diese Namen bezeichnen mehr noch ihre Eigenschaften und Wesenszüge.

    Diese vier Wesen existierten bereits vor der jetzigen Schöpfung der Welt, und sie werden nach deren Wiederauflösung weiterbestehen. Sie sind – nach irdischen Vorstellungen – ohne Anfang und ohne Ende und haben das Entstehen und Vergehen unzähliger Welten erlebt. Die Luzengoi nur als unsterblich und ewig zu begreifen, hieße, ihr Dasein nicht zu verstehen. Ein Dasein, das zu verstehen kein irdisches Wesen in der Lage sein wird.

    So kurz die Dauer eines Schöpfungskreislaufes für die Luzengoi auch ist, in jedem einzelnen haben sie ihre Aufgaben. Sie kümmern sich um den Aufbau, um den Erhalt und schließlich um die Auflösung der Welten. Sie sind die Baumeister des Weltalls. Und sie lenken die Geschicke der Lebewesen in der Schöpfung. Doch es sind nicht ihre Schöpfungen. Die Luzengoi sind als Einzelwesen frei im Denken und Handeln, aber sie sind nicht unabhängig. Sie führen ihre Aufgaben unter den Anordnungen eines übergeordneten, noch unbegreiflicheren Wesens aus. An dieser Stelle jedoch wird die Realität vollkommen unfassbar, und es empfiehlt sich, zu den Luzengoi zurückzukehren.

    Eine der Aufgaben der Luzengoi war die sichere Aufbewahrung des Achôn-Tharéns über einen vorgegebenen Zeitraum. Es war nicht das erste Mal, doch wenn die folgenden, unvermeidbaren Ereignisse ein gutes Ende fänden, sollte es das letzte Mal sein.

    Dieses Mal war der Zeitraum auf eintausendfünfundachtzig Erdosjahre festgesetzt worden. Auch wenn das für seine Bewohner eine halbe Ewigkeit bedeutet hatte, so dauerte es für die Luzengoi nur ein Augenzwinkern – wenn sie lidgeschützte Augen hätten.

    Diese vier Hüter wussten, dass die Zeit der erneuten Freilassung des Achôn-Tharéns gekommen war. Sie hätten auch nichts dagegen unternehmen dürfen. Gleichmäßig verteilt standen sie außerhalb des Verlieses. Dieser Umstand lässt jedoch nicht auf die Größenverhältnisse schließen. Ihre Sinne durchdrangen den Raum und erfassten die Anwesenheit des Achôn-Tharéns. Hier war es gestaltlos. Es hatte seine feurige Kugelform verloren und seine feinstoffliche Ausdehnung erfüllte den ganzen Raum des Verlieses. In dieser Gestalt war ihm all seine Macht genommen, ohne dass es seiner Vernichtung anheimgefallen war, denn das hatte nicht geschehen dürfen.

    „Der Augenblick ist gekommen, hörten die Luzengoi die lautlos gesprochenen Worte Akzalois. „Das Achôn-Tharén muss erneut befreit werden. Die Zeit seiner Hut ist vorüber.

    „Ein unvermeidbarer Schritt zur Herstellung der alten Ordnung", bestätigte Aihudir.

    „Unvermeidbar, gewiss, aber wird er dieses Mal die Entscheidung bringen? Erwarten wir nicht, dass es der Endgültige sein wird", zweifelte Alduhim.

    „Darüber ein Urteil zu fällen, wäre verfrüht, sagte Adbenazai. „Und wäre ein Urteil möglich, hätte es dann überhaupt einen Sinn, weiterzumachen, wenn es abschlägig ausfiele? Nicht einmal wir können vorhersehen, wie es dieses Mal ausgehen wird.

    „Das ist wahr, gab Alduhim zu. „Aber die Vergangenheit lässt wenig Raum für Hoffnung.

    „Dieses Mal sind andere Mächte im Spiel. Viele Handlungen und Ereignisse beeinflussen die Zukunft. Wie es dieses Mal auch endet, die Folgen tragen nicht nur wir, aber die Auswirkungen für andere werden bedeutender sein, im Guten wie im Bösen."

    „Das ist wahr, meinte Adbenazai. „Und doch kann Zweifel kein Maß für unser Tun sein, darf es auch nicht.

    „So sei es dann. Lasst uns tun, was vorherbestimmt ist, entschied Akzaloi. „Stellen wir die Verbindung her.

    Die vier Luzengoi begannen, ihre Geisteskräfte zu einer Kraft zu verschmelzen. Wie sie einst das Verlies geschaffen hatten, so lösten sie es nun wieder auf. Allmählich zog sich die schwach glimmende Kugel innerhalb des Raumes zwischen ihnen zusammen, um sich in dessen Mitte in einem Punkt zu konzentrieren. Während das Gefängnis schrumpfte, nahm seine Helligkeit zu. Die Leuchterscheinung wurde deutlicher, immer stärker ihre Strahlung und schließlich war das Achôn-Tharén wieder zusammengefügt. Der Raum des Verlieses, dessen schimmernde Mauern die Wächter aus dem Achôn-Tharén selbst erschaffen hatten, verschwand. Bläulich pulsierend und eine unterschwellige Bedrohung ausstrahlend, schwebte es zwischen den Luzengoi, den vier Lichtgestalten, umgeben von der tiefen Schwärze der Unendlichkeit. Dann verblasste die blaue Kugel und in dem Maße, wie es wieder in die irdische Welt hinüberging, wurde sie in der Dimension der Luzengoi schwächer, bis sie schließlich daraus verschwunden war.

    In der vollendeten Schwärze, die das Achôn-Tharén umgab, blinkten plötzlich unzählige Lichtpunkte in unterschiedlichen Farben und Größen auf, bunte Nebel wurden sichtbar und seltsam geformte Spiralen. Der irdische Weltraum.

    Zwischen den Sternen und scheinbar aus dem Nichts entstand eine winzige blaue Kugel, und ohne lange an ihrem Platz zu verharren, setzte sie sich mit irrwitziger Geschwindigkeit in Bewegung. Sie kannte ihr Ziel, und nichts konnte jetzt noch verhindern, dass sie es erreichte. Geradlinig flog sie auf einen kleinen Verband von Himmelskörpern zu, bestehend aus zwei Sonnen, einem erdähnlichen Begleiter und dessen Mond. In wenigen Tagen würde sie Erdos erreichen. Des Achôn-Tharéns Herr hatte gerufen und sein Ruf war ein Befehl.

    2. Auftrag aus dem Jenseits

    Miesmutig folgte ein Reiter der endlosen Straße durch die Grauen Berge. Seit seinem frühen Aufbruch am Morgen dieses Tages hatte ihm ein wütendes Unwetter zugesetzt, es wollte einfach nicht von seiner Seite weichen. Jedes Mal, wenn es schwächer zu werden schien, war es nach kurzer Zeit umso heftiger über ihn hereingebrochen mit Sturm, Regen, Blitz und Donner. Die kurzen Unterbrechungen kamen dem Reiter wie ein Atemholen vor, bevor es sich dann umso unbändiger austobte. Fast schien es, als wollte ihn das Wetter zur Umkehr bewegen. Wäre sein Vorhaben nicht von so außerordentlicher Bedeutung gewesen, hätte er sich vielleicht sogar geschlagen gegeben, aber sein Auftrag erlaubte keinen Aufschub. Es war jetzt später Nachmittag, und wenn er diesen letzten Anstieg geschafft hatte, wartete ein sicherer Unterschlupf auf ihn.

    Vor zwei Tagen hatte er Thorafjord, die Hauptstadt des Seenlandes, mit einem geheimen Auftrag verlassen, und Pferd und Reiter hatten nur selten gerastet. Die wenigen Stunden der Nachtruhe hatten sie in einer der geheimen Vorratshöhlen zugebracht. Diese Höhlen lagen gut verborgen entlang des alten Heerweges, den er benutzte.

    Der Reiter war als Abgesandter seines Königs in einer Angelegenheit unterwegs, die, so hofften beide, mit einer Annäherung zwischen dem Seenland und Lysidien endete. Nur eine kleine Anzahl enger Vertrauter des Königs wusste von diesem Vorhaben. Kaum einer am Hofe des Herrschers wäre nicht dagegen gewesen, und manche hätten versucht, den Erfolg des Unternehmens zu vereiteln. Der letzte Krieg war noch in zu guter Erinnerung und die Abneigung gegen die Lysidier groß. Daher musste der Reiter heimlich die Stadt verlassen und, um kein Aufsehen zu erregen, allein. Es kam seinem Auftrag sehr entgegen, dass er am ersten Reisetag nur selten jemandem unterwegs begegnet war, und in seinem Waldläufermantel und unter dem breiten Hut wäre er kaum erkannt worden, falls tatsächlich ein Bekannter unter ihnen gewesen wäre. Kein einziges Mal hatte der Reiter angehalten, um mit irgendwem Worte zu wechseln. An diesem zweiten Tag schien er sogar der einzige Reisende in den Grauen Bergen zu sein.

    Die Umstände seines Auftrages zwangen ihn zur Eile. Zwar hatten sich die Vorfälle an den nördlichen Grenzen des Seenlandes noch nicht als ernst erwiesen, aber die Lage drohte sich zu verschlechtern, seit immer öfter die dämonischen Bestien, nicht selten im Verband mit Uranen, gesichtet worden waren, die die Grenzen heimlich zu überschreiten versuchten. Vereinzelt waren sie von Felsgnomen unterstützt worden, was ungewöhnlich war, da Felsgnome und Uranen gemeinhin als verfeindet galten. Die Bestien wurden von den Felsgnomen sogar bis aufs Blut gehasst, hatte man bisher angenommen. Deshalb war diese Beobachtung umso besorgniserregender. Dass der seenländische König die Lysidier um Beistand gegen einen erstarkenden Feind bitten wollte, machte seinen Auftrag heikel.

    Der Reiter schonte sein Pferd nicht, aber es war ausdauernd und zäh. Das Tier hatte mit seinem Herrn schon manche Abenteuer und Gefahren bestanden, und dieses Mal schien es besonders zu spüren, dass es auf seine Kraft ankam.

    Der Regen nahm die Sicht, und nichts mehr an dem Mann und seiner Ausrüstung war trocken. Grelle Blitze zuckten vom Himmel und blendeten die Augen. Krachender Donner rollte durch die engen Gebirgsschluchten der Grauen Berge. Die Kälte ließ seine Gliedmaßen klamm und steif werden, obwohl es Sommer war.

    Erschöpft erreichten sie schließlich die Höhe des Aghor-Passes. Hier oben lag die sogenannte Große Depothöhle mit dem wichtigsten Vorratslager, das König Harald, der Großvater des jetzigen seenländischen Königs Harismund, auf dieser wichtigen Bergquerung anlegen ließ. Das Netz der Versorgungshöhlen stammte noch aus der Zeit des Lysidien-Krieges und hatte vielen Regimentern, die über den damals schwer zugänglichen Aghor-Pass zogen, gute Dienste geleistet. Sie wurden auch weiterhin von königlichen Heerscharen genutzt, aber mittlerweile war die Straße ausgebaut worden und bequemer zu bereisen.

    Vor Regen triefend, zog der Reiter sein Pferd in die Höhle. Hier waren sie vor feindlichen Augen sicher, auch wenn an diesem Tag die Gefahr einer Entdeckung gering war.

    Die Höhle bestand eigentlich aus zwei Kammern. Durch eine kleine Vorhöhle, die man unverändert gelassen hatte, konnte die Haupthöhle durch einen schmalen Spalt, der gerade einen Reiter und sein Pferd durchließ, erreicht werden. Hier war es gefahrlos möglich, ein Feuer zu entzünden, ohne dass es nachts von draußen zu sehen gewesen wäre. Schnaufend und dampfend ließ sich das Pferd in die große Höhle führen. Plötzlich fing es mit einem unruhigen Wiehern an, nervös zu tänzeln.

    „Ruhig Mondblesse!, sagte der Reiter und klopfte beruhigend den Hals des Tieres. „Was hast du denn? Niemand anderes als wir beiden ist hier.

    Der Mann sah sich um und versuchte, etwas Auffälliges zu entdecken, konnte aber in der Dunkelheit nichts erkennen oder hören. Er kannte sein Pferd aber und wusste, wie es reagierte, wenn irgendetwas nicht in Ordnung war. Jetzt spürte er es auch. In der Höhle war es dunkel und still – unnatürlich still, wie er fand, einmal abgesehen vom Schnaufen und Stampfen des Tieres. Kein Donnerhall, kein entferntes Aufflackern eines Blitzes erreichte die innere Höhle. Nicht einmal das leise Pitschen von Wassertropfen an der hinteren Felswand konnte er vernehmen, obwohl bei einem solchen Wetter immer Regen durch unentdeckte Felsspalten sickerte und irgendwo im Boden wieder verschwand.

    Der Mann ließ das Pferd los und ging langsam und leise in die Mitte der Höhle. Er fühlte weniger Furcht als erwartungsvolle Unruhe. Er entzündete eine Fackel und ein zitterndes, trübes Licht erfüllte den Raum, das ihn schwach die Lagerfässer, die Flaschen und das Geschirr in den Regalen, die Kisten mit den Handwaffen, die Schilde und Speere an den Wänden und die sauber aufgestapelten Schlafdecken erkennen ließ. Alles schien unberührt und in tadellosem Zustand – und doch, irgendetwas kam ihm seltsam vor. Dann plötzlich wurde der Raum von einem türkisen Glühen erfüllt. Die Haut des Mannes kribbelte. Sonst geschah zunächst nichts. Das Leuchten aber wirkte übernatürlich.

    In der Mitte des Raumes entstand ein gelborange leuchtender Lichtpunkt. Er vergrößerte sich rasch und nahm bald die Form eines Menschen an, dessen Oberkörper in einer hellen Aura inmitten der Höhle schwebte. Es war die Erscheinung eines Mannes, den der Reiter gut kannte, obwohl er ihn bisher nur auf Gemälden gesehen hatte.

    „König Nigall!", entfuhr es dem Reiter erstaunt und ungläubig, als er den Geist des ersten bekannten Königs des Seenlandes erkannte.

    „Thorgren von Hedau! Sohn des Thorben von Hedau und Seneschall des Königs Harismund! Ich grüße dich", erscholl die unerwartet tiefe, Ehrfurcht gebietende Stimme des Geistes.

    Es entstand eine kurze Pause und die Stimme verhallte im Berg.

    „Die Zeit der Erfüllung der Aufgabe deiner Familie naht. Jetzt obliegt sie dir. Kryonos kommt wieder zum Vorschein. Vollende, was angefangen wurde. Erinnere dich der Legenden. Suche die Seherin Branwyn in den Schwarzen Sümpfen auf. Sie wird dir eine Hilfe sein bei dem, was deiner Familie auferlegt wurde. Sie erwartet dich!"

    Bevor Thorgren antworten konnte, verblasste die Erscheinung wieder. Er hatte die Worte gehört, war sich aber keineswegs sicher, ob er sie verstanden hatte. Von welcher Aufgabe hatte der Geist König Nigalls gesprochen? Was bedeutete das alles? Und warum hatte der Geist keine Fragen abgewartet?

    Die Fackel war erloschen, und wieder umgab Thorgren eine tiefe Finsternis. Das Grollen des fernen Unwetters ließ den Felsen schwach erzittern und vereinzeltes Flackern der Blitze schimmerte dann und wann an den Wänden der Höhle nahe des Felsspaltes, als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Thorgren entzündete die Fackel erneut. Kurz darauf erfüllte das Knistern und das Licht eines kleinen Feuers die Höhle, nachdem er einige Holzscheite auf einer der Feuerstellen in Brand gesetzt hatte. Er nahm Mondblesse das Zaumzeug ab, lud das Gepäck und den Sattel von seinem Rücken und versorgte ihn mit Wasser und Hafer aus den gelagerten Vorräten. Inzwischen hatte sich das Pferd wieder beruhigt. Nun ließ Thorgren sich an dem wärmenden Feuer nieder. Während er Brot und getrocknetes Fleisch aß und Bier aus einem der Lagerfässer trank, dachte er über die Erscheinung König Nigalls nach.

    Sein Vorfahr hatte den Namen Kryonos erwähnt. Natürlich hatte Thorgren bereits von ihm gehört, wenn er auch nur eine verschwommene Vorstellung hatte, welches Wesen sich dahinter verbarg. Plötzlich fiel ihm wieder die Geschichte von König Merowinth ein. Aus dessen Linie stammte er selbst ab. Dieser berühmte König des Seenlandes war vor langer Zeit mit einer kleinen Schar von Kriegern aufgebrochen, um Kryonos die Stirn zu bieten. Es war während des Großen Krieges, als die Völker von Erdos ihrem Untergang nahe waren. Bis in Thorgrens Tage hatten sich zahlreiche Legenden um diesen sagenhaften König erhalten, obwohl später nur wenig über das bekannt wurde, was sich damals wirklich ereignet hatte. Sicher war nur, dass die noch lebenden Bestien die Überreste von Kryonos´ ehemals übermächtigen Heeres waren. Wenn die Legenden von König Merowinth auch behaupteten, dass sein Eingreifen schließlich zum Sieg über sie geführt hatte, erklärten sie doch nicht, was tatsächlich geschehen war, denn bedauerlicherweise war keiner aus seiner Schar jemals zurückgekehrt. Auffällig war allenfalls, dass einige Zeit nach Merowinths Aufbruch Kryonos´ Macht plötzlich verfiel, daran erkennbar, dass sich seine Heerscharen auflösten und von den Orten der Kämpfe zurückzogen, um im Kepirgebirge und in den Nördlichen Winterbergen Zuflucht zu suchen. Viele von Kryonos´ Kriegern flüchteten sich auch in die Grauen Berge, konnten dort nach und nach aber aufgestöbert und erschlagen werden. An den nördlichen und östlichen Grenzen war anschließend ein dichtes Wachnetz aufgebaut worden. Es war bis in die Tage Thorgrens erhalten geblieben.

    Da Kryonos´ Rückzug unter ziemlich rätselhaften Umständen stattgefunden hatte, fürchteten die Bewohner von Erdos in der ersten Zeit nach dem Krieg, dass er früher oder später wieder auftauchen würde, obwohl er selbst niemals an den Schauplätzen der Kämpfe erschienen war. Es wurde allgemein angenommen, dass Kryonos aus unbekannten Gründen an die Domgrotten des Verlorenen Berges gefesselt war, nachdem er seine Macht eingebüßt hatte. Er galt immer noch als lebendig. Es waren aber aus unerfindlichen Gründen keine Versuche unternommen worden, ihn endgültig zu töten, und mittlerweile war die Gefahr aus dem Bewusstsein der meisten Erdaner verschwunden. Nur noch den Herrschern und wenigen Gelehrten war er bekannt, und das auch nur aus den Legenden, wie es anders auch nicht sein konnte.

    Jeder König aus Merowinths Geschlecht hatte die vererbte Pflicht, im Falle der Rückkehr von Kryonos bereit zu sein, erneut gegen ihn zu kämpfen. Im Lauf der eintausend Jahre war der königliche Zweig dieser Familie jedoch ausgestorben. Daher hatte Thorgren als der letzte Nachkomme des wichtigsten Seitenzweiges von denen, die noch existierten, wie auch seine bisherigen geradlinigen männlichen Vorfahren und noch ungeborenen Nachkommen, falls es erforderlich wurde, diese Aufgabe zu erfüllen.

    Thorgren wusste, dass diese Aufgabe in jener Legende um Merowinth begründet lag, obwohl er nie ganz sicher war, ob der Rückzug von Kryonos tatsächlich etwas mit dem vermuteten Sieg des Königs zu tun hatte. Andererseits, welche Art von Sieg sollte es gewesen sein, wenn Kryonos immer noch lebte? Zu vieles war ungeklärt geblieben. Für ihn selbst waren diese Dinge immer fern und unwirklich gewesen, und sie hatten ihn wenig gekümmert. Und nun, wo das Schicksal ihn anscheinend dazu ausersehen hatte, gegen Kryonos anzutreten, fragte er sich, warum niemals versucht worden war, ihm ein Ende zu bereiten, während er geschwächt in seinen Höhlen hauste. Doch er fand keine befriedigende Antwort. Mit seinem derzeitigen Auftrag konnte es jedenfalls nichts zu tun haben.

    Thorgren schreckte aus seinen Gedanken auf. Waren da schleichende Schritte? Rasch zog er sein Schwert und wich in eine hintere Nische zurück. Von hier konnte er den Eingang zur Haupthöhle beobachten und war dennoch selbst vor allzu leichter Entdeckung geschützt. Wieder hörte er ein schlurfendes Geräusch. Dieses Mal näher und deutlicher. Was ihm jetzt noch fehlte, war die Begegnung mit einem der gefürchteten Trolle, die vereinzelt in den Grauen Bergen hausten.

    Im gleichen Augenblick kam eine gebeugte Gestalt durch den Felsspalt. Sie war groß und trug eine Kutte nach Art der Druiden. Die Kapuze war über ihren Kopf gestülpt. Der Fremde warf im Licht des Feuers einen unruhigen und übergroßen Schatten an die Wand. Es musste ein alter Mann sein. Er ging langsam und wirkte erschöpft, als hätte er die Last von Jahrhunderten auf seinen Schultern. Thorgren erkannte ihn sofort, und in diesem Augenblick warf der späte Besucher mit erstaunlicher Geschmeidigkeit seine Kapuze in den Nacken und ein zerfurchtes, vollbärtiges Gesicht kam zum Vorschein, umgeben von dichtem, ergrautem Haar, das hinter dem Kopf zu einem Zopf gebunden war.

    „Thorgren von Hedau, Sohn des Thorben von Hedau und Seneschall Harismunds, des Königs des Seenlandes! Wo versteckst du dich?", rief er mit kräftiger, sonorer Stimme.

    Thorgren fiel belustigt auf, dass an diesem Abend seine Abstammung und sein Rang erstaunlich oft erwähnt wurden. Er trat aus dem Schatten hervor und steckte sein Schwert zurück in die Scheide.

    „Melbart, alter Freund, begrüßte er den alten Mann. „Ich freue mich, dich hier zu sehen, aber welch ein merkwürdiger Umstand führt dich in diese unwirtliche Gegend?

    Beide Männer umarmten sich zur Begrüßung.

    „Zuerst einmal würde ich gern etwas essen und trinken, meinte Melbart. „Ich bin schon lange unterwegs, und das Wetter macht eine Wanderung nicht zu einem sehr erfreulichen Unternehmen.

    Thorgren ging zu den Vorratsfässern, nahm einige Stücke Dörrfleisch heraus und füllte einen Krug mit Bier für Melbart. Nachdem sich beide an das Feuer gesetzt hatten und Thorgren Holz nachgelegt hatte, begann Melbart zu sprechen.

    „Wenn ich richtig unterrichtet bin, hattest du vor mir schon einen Besuch. Darüber müssen wir reden. Aber was mich angeht, ich war gerade auf dem Weg zu einer Versammlung meines Ordens, und ich glaube, der Anlass für unseren Rat und die Nachricht an dich ist der gleiche. Jedenfalls scheint der Frieden wieder einmal in Gefahr. Dieses Mal durch einen Feind, der so groß und mächtig werden könnte, wie wir es schon seit langem nicht mehr fürchten mussten, und von dem viele gehofft hatten, er wäre besiegt worden. Die Wahrheit kennen im Augenblick nur wenige."

    „Was mich betrifft, kenne ich sie nur so weit, wie mein Auftrag es erfordert, meinte Thorgren. „Dass ich die ganze Entwicklung durchschaue, kann ich nicht behaupten.

    „Sei versichert, das wird sich bald ändern. Trotz Nigalls Aufforderung wirst du zuerst nach Schibrasch-dim gehen, nehme ich an?"

    Melbart gehörte zu den wenigen Vertrauten König Harismunds, die um dessen Bündnisbemühungen mit den Lysidiern wussten.

    „Ja, antwortete Thorgren. „Der Geist König Nigalls hat mich nicht ausdrücklich zur Eile aufgefordert, und wie du weißt, ist König Harismund daran interessiert, mit den Lysidiern einen wirklichen Frieden auszuhandeln. Wenn der Krieg auch seit einhundert Jahren vorbei ist, so gibt es doch nur einen unerklärten Waffenstillstand zwischen unseren Völkern. Ich will versuchen, erste Schritte für eine Annäherung unserer beiden Länder zu unternehmen und hoffe, – zusammen mit König Harismund –, dass letztlich ein Bündnis dabei herauskommt.

    „Ein Bündnis für den Frieden oder den Krieg?", warf Melbart ein, obwohl er die Antwort bereits kannte.

    Thorgren sah ihn ernst an und zögerte einen kurzen Augenblick.

    „Genau hier liegen die Schwierigkeiten, gab er zu. „Wir hätten natürlich lieber eins im Frieden und aus freien Stücken. Allerdings scheint die Lage im Norden dagegen zu sprechen, fürchte ich. Und jetzt muss ich versuchen, Zethimer davon zu überzeugen, dass Kryonos´ Krieger sehr bald auch seine Feinde werden können, denn nach Nigalls Worten scheinen die Überfälle erst der Anfang zu sein, wenn es stimmt, dass Kryonos wieder erstarkt. Bisher waren wir immer der Meinung, die Bestien würden selbständig handeln, wenn auch ungeordnet und wenig wirkungsvoll. Die Gründe dafür waren uns jedoch unbekannt. Dass Kryonos wieder beginnt, die Fäden zu ziehen, wie Nigall behauptet, und ich zweifle nicht daran, wird für einige eine unangenehme Überraschung sein. Möglicherweise stärkt diese Tatsache aber meine Verhandlungsposition bei König Zethimer, und ich kann ihn leichter davon überzeugen, dass Kryonos und seine Krieger für ihn genauso gefährlich werden können wie für uns.

    „Dein Vorhaben ist in der Tat nicht einfach, aber notwendig, gerade in dieser Zeit, meinte Melbart. „Und ich denke, für einige notwendige Entscheidungen unseres Rates brauchen wir noch ein paar Tage, die du bei Zethimer nutzbringend verwenden kannst. Thorgren sah ihn fragend an und der Ordensmann fuhr fort: „Vor kurzem fand bei König Wechis in Weißanger ein Wehrrat statt. Das konntest du nicht wissen. Dort wurden einige wichtige Beschlüsse gefällt, die auch dich betreffen, und von denen du noch erfahren wirst. Doch davon mehr zu einem späteren Zeitpunkt. Jedenfalls haben die Namurer an ihrer Ostgrenze die gleichen Beobachtungen gemacht wie ihr, nur vermutete der König anfangs, dass ausschließlich seine Grenze bedroht ist. Ich klärte ihn dann aber über die nicht weniger besorgniserregende Entwicklung in deinem Land auf, und ich bin sicher, dass ihn das beunruhigt hat."

    „Dann scheinen sich größere Dinge anzubahnen, als wir dachten, und der Aufruf Nigalls an mich kommt vielleicht nicht zu früh. Gleichwohl weiß ich nicht so recht, was er von mir erwartet. Aber eines ist klar, ich werde vorerst nicht wieder nach Thorafjord zurückkehren können. Das wird Harismund wahrscheinlich nicht freuen, doch das scheint mir das kleinere Übel. Die Aufgabe meiner Familie, also meine, geht vor, und ich muss wohl als Nächstes in die Schwarzen Sümpfe, um die Seherin zu treffen. Allerdings gebe ich zu, dass ich keine Ahnung habe, was ich dort überhaupt soll. Ihr Name ist im Augenblick der einzige Hinweis. Du kannst mir auch keine Antwort geben, oder? Hm, das habe ich mir gedacht."

    Melbart hatte auf Thorgrens Frage nur leicht den Kopf geschüttelt und nachdenklich in die Flammen des Feuers geblickt.

    „Ich fürchte, es geht um das Achôn-Tharén, meinte Melbart finster und halb in Gedanken. „Aber die Dinge sind noch zu undeutlich.

    „Das Achôn-Tharén?, fragte Thorgren erstaunt. „Du meinst das Wesen, das Kryonos seine Macht verlieh, und von dem die Legenden sprechen. Also gibt es das doch?

    „Junge, was dachtest du denn?, fragte Melbart mit erhobener Stimme, der von den Vorbehalten seines Schülers gegenüber besonders dieser Überlieferung wusste. „Habe ich nicht immer wieder versucht, es dir in Erinnerung zu rufen? Ich tat es doch nicht aus Langeweile. Ich wünsche es dir beileibe nicht, aber ich fürchte, du wirst bald die traurige Erfahrung machen, wie viel Wahrheit in meinen Worten steckt.

    Melbart hatte Thorgren mehr als einmal über diese Legende erzählt, sich danach aber oft geärgert, dass Thorgren sie offensichtlich nicht allzu ernstnahm. Wenn sich Melbart nicht so sicher gewesen wäre, dass Kryonos´ erneutes Erstarken in das Leben Thorgrens fiele, dann hätte er seine Versuche, bei ihm die Erinnerung an das Achôn-Tharén wachzuhalten, frühzeitig aufgegeben.

    „Dann stimmt es also, sagte Thorgren nachdenklich. „Aber du weißt, was ich von diesen Dingen halte – ich sollte jetzt vielleicht sagen, gehalten habe, denn nun scheinen sie mich aus der Dämmerung der Zeit heimzusuchen. An den Legenden selbst habe ich aber gar nicht gezweifelt, auch wenn du das glaubst, aber dass sie in meinem Leben wieder an Bedeutung gewinnen würden, war mir unvorstellbar. Du bist wirklich sicher, dass das Achôn-Tharén wieder aufgetaucht ist?

    „Oder kurz davor steht, es zu tun. Ja, da bin ich sicher."

    „Wenn Zethimer das Achôn-Tharén ein Begriff ist, könnte dieser Umstand meinem Anliegen ein zusätzliches Gewicht verleihen", hoffte Thorgren.

    „Jedenfalls häufen sich Nachrichten, die darauf hindeuten, fuhr Melbart fort. „Aber bereits die Schriften des Schicksals geben Hinweise darauf, dass die Zeit des Kryonos bald wieder anbrechen wird.

    „Ja, ich habe von diesen Schriften gehört, meinte Thorgren. „Aber über ihren Inhalt weiß ich nichts.

    Melbart lächelte. „Sonst wären sie ja nicht geheim. Nur die Mitglieder unseres Ordens kennen sie. Und doch hoffe ich, dass Kryonos uns noch eine ausreichende Frist lässt, um uns vorzubereiten. Und dir obliegt dabei eine besondere Aufgabe. Du weißt noch nicht, was genau dein Anteil an den kommenden Ereignissen sein wird? Warten wir ab, was Branwyn von dir will, mehr kann ich dir im Augenblick nicht raten. Aber letzten Endes wurdest du aufgrund deiner Abstammung für den Kampf gegen Kryonos ausgewählt, wie immer er aussehen mag. Das ist die Pflicht, die deinem Haus auferlegt ist, und ich fürchte, sie könnte sich schnell als ein Fluch für dich erweisen. Trotzdem, du musst versuchen, sie zu erfüllen, und deshalb bist du seit deiner Kindheit darauf vorbereitet worden, wie dein Vater und dein Großvater."

    „Wie du zu deinem Leidwesen bemerkt hast, habe ich eure Bemühungen lange Zeit nicht sehr ernstgenommen, ich habe euch für nette Onkel gehalten, die aufregende Geschichten zu erzählen wussten. Erst spät wurde mir klar, dass ihr, du und deine Brüder, mir eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt habt. Den Grund hierfür erfuhr ich aber erst von meinem Vater kurz vor seinem Tod."

    „Es durfte nicht anders sein, erklärte Melbart. „Bis zu seinem Tod stand dein Vater in dieser Pflicht. Auch dir wurde die Schweigepflicht auferlegt. Und trotzdem, du hattest Zweifel – bis heute.

    „Kannst du das nicht verstehen?, fragte Thorgren. „Seine Worte kamen ziemlich überraschend, trotz aller vorangegangenen Unterweisungen durch euch. Ich fühlte mich noch nicht ausreichend vorbereitet. Bis heute hatte ich ihnen nur wenig Bedeutung beigemessen, weil mir niemand gesagt hat, dass sie in nicht allzu ferner Zeit drängend werden könnten.

    „Weil du uns nicht aufmerksam zugehört hast, aber das alles ist nicht mehr wichtig, denn jetzt bricht bald die Zeit der Bewährung an, meinte der Magier. „Du wirst dich von jetzt an wohl etwas eingehender damit beschäftigen müssen.

    „Tja, so habe ich König Nigalls Aufforderung auch verstanden, meinte Thorgren. „Glaubst du, dass sie so dringend ist, deswegen meinen jetzigen Auftrag zu vernachlässigen?

    Inzwischen war Thorgren unsicher geworden.

    „Nein, auf keinen Fall, widersprach Melbart entschieden. „Für die kommende Auseinandersetzung mit Kryonos ist er sogar von großer Bedeutung. Die Lysidier werden dringend gebraucht.

    Thorgren nickte.

    „Gut, dann sind meine nächsten Schritte eigentlich klar. Ich werde zuerst zu König Zethimer reiten. Es sind nur noch zwei Tagesritte. Anschließend werde ich dann in die Schwarzen Sümpfe zu Branwyn aufbrechen, wie der Geist Nigalls es von mir verlangt hat. Was danach geschieht, werde ich sehen."

    „Ich bin sicher, dass du durch sie erfahren wirst, wie es weitergeht", meinte Melbart zuversichtlich.

    Es entstand eine kurze Pause. Das Feuer knisterte und irgendwo in der Höhle fielen Tropfen von der Decke. Mondblesse stampfte leise mit den Hufen, und von draußen war immer noch gelegentliches dumpfes Donnergrollen zu hören. Nachdenklich zog jeder an seiner Pfeife und dichter Rauch stieg zur Decke der Höhle.

    „Wenn du am Hofe Zethimers bist, begann Melbart erneut, „dann wende dich an Bruder Angulfin. Du kennst ihn. Er ist ein Mitglied meines Ordens und hält sich gerade in Schibrasch-dim auf. Ich gebe dir diesen Kristall für ihn mit.

    Melbart zog einen grünlich schimmernden, walnussgroßen Kristall aus seiner Kutte und gab ihn Thorgren, der ihn in ein Tuch wickelte und in seiner Gürteltasche verstaute. Solche Kristalle waren ihm bekannt. Mit ihrer Hilfe tauschten die Magier Nachrichten aus.

    „Was wirst du als Nächstes tun, Melbart?", fragte Thorgren, der wusste, dass der Alte oft und auf geheimen Pfaden die Länder bereiste. Nach dieser Unterredung war er auch nicht mehr überrascht, Melbart zu dieser Stunde an diesem versteckten Ort getroffen zu haben und noch dazu mit dem Wissen um die Erscheinung Nigalls. Seine Ankunft in dieser Höhle war kein Zufall, wenn auch unerwartet für Thorgren. Gerüchte behaupteten, dass Mitglieder des Ordens von Gebir, dem auch Melbart angehörte, an zwei Stätten gleichzeitig aufgetaucht sein sollen. Da hatte Thorgren zwar seine Zweifel, aber es waren mächtige Zauberer. Und daran zweifelte er nicht.

    Melbart hatte ihm nie offenbart, wo die Ordensversammlungen stattfanden. Niemand wusste, wie alt der Orden war, woher er kam und wie viele Brüder er umfasste. Und selbst den Ort seines Sitzes hatte er Thorgren bisher niemals verraten. Einige Mitglieder, wie Melbart und Angulfin, waren bekannt und traten mit einer gewissen Häufigkeit in der Öffentlichkeit auf, während andere im Verborgenen wirkten und unsichtbar blieben. Es galt aber als nachgewiesen, dass ihr erstes Auftauchen mit dem von Kryonos zusammenfiel. Es gingen Gerüchte um, die die Zauberer unsterblich machen wollten, was Thorgren allerdings ebenso für unwahrscheinlich hielt, wenn er auch zu glauben bereit war, dass die Ordensbrüder ein sehr hohes Alter, verglichen sogar mit dem der Elfen, erreichen konnten.

    Ihr größtes Geheimnis war allerdings ihre Mission. Niemand wusste genau, was ihre Anwesenheit auf Erdos bedeutete. Sicher nahmen sie Einfluss auf die Schicksale der Völker und manchmal, wie im Falle des Hauses Merowinths, auch auf das von einzelnen Menschen. Den Grund für ihr Handeln kannte aber niemand, soweit bekannt war. Trotz aller Geheimnisumwitterung dieses Ordens konnte aber bisher niemand ernsthaft behaupten, dass er sich gegen die Völker von Erdos gewandt hatte, abgesehen von denjenigen, die mit Kryonos verbündet waren, und das galt bisher nur für die Uranen. Die Haltung der Zwerge ließ erst in jüngster Zeit gewisse Zweifel aufkommen. Die Mächtigen von Gebir hatten sich stets als gute Ratgeber und wirksame Helfer gegen ihn, den Schrecken von Erdos, erwiesen.

    „Ich werde wie vorgesehen zunächst die Ordensversammlung besuchen, meine Pläne danach aber ändern, erklärte Melbart. „Diesen Kristall, den ich dir gab, Thorgren, darfst du unter keinen Umständen in andere Hände als die Angulfins gelangen lassen. Lieber zerstöre ihn mit den Worten, die ich dich lehrte. Ich verlasse dich nur für kurze Zeit. Halte dich nicht zu lange auf. Die Aufgabe, die dich erwartet, mag dringender sein als wir ahnen. Noch eins: Dieses Treffen muss vorerst geheim bleiben. Nur Angulfin weiß davon. Erwähne Zethimer gegenüber meinen Namen noch nicht.

    „Kennt er dich nicht?", wunderte sich Thorgren.

    „Doch, aber ich will vermeiden, dass er argwöhnt, ich hätte etwas mit der Botschaft von König Harismund zu tun. Ich werde ihn rechtzeitig über alles Wichtige, was das Achôn-Tharén betrifft, unterrichten."

    „Aber das Achôn-Tharén? Kann ich ...?"

    „Das solltest du sogar erwähnen. Er kennt die Legenden ebenfalls. Ich schätze, das wird einen gewissen Einfluss auf seine Entscheidungen haben."

    „Er wird mich fragen, von wem ich davon erfahren habe."

    „Hm, da hast du Recht. Dann sag ihm, derjenige wäre auf dem Weg zu ihm und würde sich selbst zu erkennen geben. Und nun lebe wohl."

    Melbart klopfte auf einem Stein die ausgeglühte Asche aus der Pfeife und verstaute sie in seiner Kutte. Dann stand er auf, warf sich die Kapuze wieder über den Kopf und verschwand durch den Spalt zur Vorhöhle.

    Nach einer kurzen Zeit des Dösens, richtig schlafen konnte Thorgren nicht, sammelte er seine Sachen zusammen und sattelte Mondblesse. Trotz der kurzen Ruhe war er wieder hellwach, und auch sein Pferd machte den Eindruck, als hätten die Anstrengungen der letzten beiden Tage keine Spuren bei ihm hinterlassen. Thorgrens Kleidung war durch die Wärme des Feuers ein wenig getrocknet. Vorsichtig führte er Mondblesse ins Freie. Das Wetter hatte sich inzwischen beruhigt. Der Regen hatte fast aufgehört, und nur noch vereinzelte Blitze durchzuckten die Finsternis. Aber das war am vergangenen Tag auch von Zeit zu Zeit der Fall gewesen und hieß gar nichts.

    Thorgren hätte es vorgezogen, die berüchtigte Trollschlucht, die nun vor ihm lag, am Tage zu durchreiten. Im Sonnenlicht, selbst wenn der Himmel wolkenverhangen war, war es allemal sicherer, weil sich dann die Trolle nicht aus ihren Behausungen wagten. Aber sein Auftrag im Namen König Harismunds eilte, und der nächste im Namen König Nigalls erschien Thorgren nicht weniger drängend. Deshalb musste er das Wagnis eingehen, bei Nacht die Trollschlucht zu passieren.

    Seufzend schwang er sich auf den Sattel und begann den nächsten Abschnitt seiner Reise zu König Zethimer ins Land-Der-Vielen-Feuer, wie Lysidien auch genannt wurde.

    3. König Wechis´ Wehrrat

    In der Zeit von Thorgren herrschte im Grünland, wie das Land Namur auch genannt wurde, ein König namens Wechis. Er hatte seinen Palast in der größeren der beiden Städte des Grünlandes, in Weißanger. Diese Stadt war für namurische Verhältnisse sehr großzügig angelegt und zählte die stattliche Anzahl von siebenunddreißigtausend Einwohnern. Rings um den Herrscherpalast, der neben den königlichen Gebäuden auch die Unterkünfte für die Soldaten sowie die Pferdeställe und Werkstätten beherbergte und von einer niedrigen Mauer umgeben war, erstreckten sich die Häuser der übrigen Einwohner. Breite Straßen durchzogen die Wohnviertel, gesäumt von zahlreichen Bäumen. Weißanger war vor Erzmühlen der wichtigste Handelsplatz des Landes und deshalb stets von einem regen Treiben erfüllt. Besucher und Händler aus aller Herren Länder kamen hier zusammen.

    König Wechis war ein strenger Herrscher, aber auch für seine gerechten Ratschlüsse und seine Weitsicht bekannt. Seit er vor vielen Jahren von den Fürsten des Landes zum König gewählt wurde, hatte er dem Grünland durch eine umsichtige Regierung Frieden und Wohlstand gebracht, und der Gedanke an unruhige Zeiten lag vielen seiner Einwohner fern. Nur wenige hatten davon gehört, dass in letzter Zeit wieder häufiger Bestien an den östlichen Grenzen beobachtet worden waren.

    Seit Jahrhunderten wurde dort eine starke Landwehr unterhalten, da immer noch lebhaft in Erinnerung war, wie furchtbar diese Kreaturen im Kryonischen Krieg gegen die anderen Völker gewütet hatten. Wenn seit damals auch nur noch selten Überfälle aus dem Kepirgebirge erfolgt waren, so hatte es doch kein König des Grünlandes versäumt, die nötige Wachsamkeit walten zu lassen, denn auch diese wenigen Überfälle stellten eine ständige Bedrohung dar.

    Die jüngste Entwicklung beunruhigte den König jedoch so sehr, dass er für den letzten Vollmond des sechsten Monats einen Wehrrat zusammenrufen ließ. Zu diesem Rat waren alle Fürsten und Ritter des Landes einberufen worden und verpflichtet, dem Aufruf zu folgen. Dass der König einen Wehrrat einforderte, hatte die meisten der Teilnehmer überrascht. Der letzte Rat hatte vor einhundert Jahren getagt, als die Seenländer sich im Krieg mit den Lysidiern befanden. Damals sah die Lage für das Grünland bedrohlich aus, als sich die Hinweise häuften, dass die Uranen, ein Reitervolk, das jenseits des Kepirgebirges lebte, an der Seite Lysidiens auch gegen das Grünland in den Krieg ziehen wollten. Ein glücklicher, nie wirklich geklärter Umstand fügte aber, dass sich die Uranen wieder zurückzogen, kurz nachdem die Vorhut bereits gesichtet worden war. Später zeigte sich aber, dass es ein Bündnis zwischen dem Land-Der-Vielen-Feuer und den Uranen nie gegeben hatte. Damit wurde klar, dass dieses Reitervolk im Alleingang einen Angriff auf das Grünland beabsichtigte, möglicherweise um die Wirren dieser Zeit für seine eigenen Ziele zu nutzen, ihn dann im letzten Augenblick aber wieder abgeblasen hatte. Die Ursache dafür blieb jedenfalls ein Rätsel.

    Viele der Fürsten des Grünlandes waren mit den neuerlichen Ereignissen nicht vertraut und begriffen die Tragweite der vage angedeuteten Gründe für die erneute Einberufung des Wehrrates nicht, aber Wechis beabsichtigte, die unerwartet aufgetretene Bedrohung rechtzeitig bekannt zu machen, bevor sie unvorbereitet von einem möglichen Krieg überrascht wurden.

    In den folgenden Tagen nach der Einladung erschienen Hagil, Fürst von Schwarzwasser; Thorgund, Fürst von Grundbach; Thorgasmund, Fürst vom Adlerstein; Fürstin Adhasil von Bärenkamp in Vertretung ihres Vaters und weitere fünfunddreißig Fürsten mit ihren Rittern und ihrem Gefolge, zu dem auch immer eine Schar Krieger gehörte. Nach altem Brauch war ebenfalls eine Abordnung der Valedrim-Elfen eingeladen worden, da trotz der Zurückgezogenheit der Elfen ein gutes Einvernehmen zwischen den Namurern und ihnen herrschte. Diese Abordnung bestand aus dem Botschafter der Valedrim, Danan´hô, mit seinem Begleiter Ken´ir sowie einem kleinen Anhang.

    Wehrräte und andere landesweiten Treffen zogen in Weißanger immer viel Volk an. Zum einen war es stets ein beeindruckendes Schauspiel, wenn sich die Heerlager mit ihren bunten Zelten und Wimpeln vor der Stadt niederließen. Zum anderen kamen dann mehr als sonst fahrende Kaufleute, um Handel zu treiben. Daneben fanden sich Schausteller und Gaukler ein, um das Volk zu unterhalten und ihre Geschäfte zu machen. In solchen Zeiten erschien Weißanger wie eine Stadt unter Belagerung, obwohl man bei näherem Hinsehen feststellen konnte, dass die Stadttore weit geöffnet waren und die Namurer hinein- und herausströmten. Während beim König entscheidende Dinge beraten wurden, ließen es sich die Leute in und vor der Stadt gutgehen. Doch dieses Mal sollte es weniger lange dauern, als viele erhofften.

    In den frühen Morgenstunden des Ratstages war in das Lager rings um Weißanger Ruhe eingekehrt. Von den zahlreichen Feuern stieg nur noch im Wind aufwirbelnder Qualm auf. Die Namurer schliefen in den Zelten oder waren in ihre Häuser zurückgekehrt. Unbemerkt von den Wachen des Königs zog ein kleiner, schwarzer Schatten hoch in den Lüften über den Himmel.

    Nachdem sich der Morgennebel gelichtet hatte, erstrahlte eine klare, rötliche Sonne am Himmel. Es war Astur. Er kündigte den baldigen Aufgang seiner gelben Begleiterin Pelin an. Nicht mehr lange und sie würde über dem entgegengesetzten Horizont aufgehen. Die Pfade beider Sonnen kreuzten sich um die Mittagszeit. Nachdem Astur abends im Westen untergegangen war, zeigte Pelin kurz darauf das gleiche Schauspiel im Osten. Beide Sonnen liefen auf der Rückseite von Erdos einander entgegen, kreuzten ihren Weg und der Kreislauf begann mit ihren Aufgängen am Morgen von neuem.

    König Wechis hatte den Zeitpunkt für den Beginn des Wehrrates auf das Erscheinen der Sonne Pelin festgesetzt, den zweiten Sonnenaufgang. Schon einige Zeit vorher waren die ersten Fürsten mit ihren Beratern in der Versammlungshalle eingetroffen. Pünktlich zur festgesetzten Zeit schlug ein Diener den großen, kupfernen Gong in dem Saal als Zeichen für das Eintreten des Königs. Würdevoll, mit erhobenem Haupt, geziert von einer kleinen, aber künstlerisch vollendeten Krone, und die Insignien seiner Macht vor der Brust haltend – einem Zepter mit dem Symbol der Doppelsonne sowie eine kleine, goldene Harfe – betrat er den Saal.

    Vor langer Zeit war dem namurischen Herrscher eine goldene Harfe von den Valedrim-Elfen aus Dankbarkeit für einen besonderen Beistand zum Geschenk gemacht worden. Diese Harfe wurde später dann in einer verkleinerten Nachbildung von den namurischen Königen als ein Zeichen der engen Bindung zwischen beiden Völkern in die Reichssymbole aufgenommen. Zwischen den Elfen und den Namurern hätte aber auch ohne dieses Geschenk eine enge Freundschaft bestanden, nicht zuletzt wegen mancher familiären Bande, denn die Namurer besaßen ein unübersehbar elfisches Erbe, das sich äußerlich erkennbar in ihrer körperlichen Gestalt ausdrückte. Es fand jedoch nur wenig Handel zwischen den beiden Völkern statt, da die Elfen sich vor langer Zeit aus derartigen Geschäften zurückgezogen hatten.

    Gemessenen Schrittes durchquerte Wechis die Reihen der Abgesandten, die respektvoll zurückwichen, und nahm auf seinem Thron Platz. Dann entledigte er sich seiner Regierungsinsignien auf einem blauen Samtkissen. Nun erst durften die Versammelten ihre Plätze einnehmen. Schweigend blickte der König in die Halle, bis das Raunen verstummt war.

    „Verwandte aus dem Valedrim-Wald, Fürsten und Ritter unseres Reiches, begann König Wechis mit lauter Stimme. „Ich begrüße euch auf diesem Wehrrat. Besonders erwähnen möchte ich die Gesandtschaft des Elfenkönigs Nôl´taham unter der Führung des Botschafters Danan´hô. Ich will mich nicht lange mit der Vorrede aufhalten. Unsere Völker leben nun schon wieder über einhundert Jahre in Frieden. Wir pflegen gedeihliche Verbindungen zu den Seenländern und selbstverständlich zu den Valedrim-Elfen. Unser Wohlstand ist in dieser Zeit gewachsen, aber gleichzeitig schwand auch das Bewusstsein für die Gefahren, die uns umgeben. Viele von euch werden sich fragen, warum ich euch heute zusammenrufen ließ. Ich tat es nicht ohne Grund. Es gibt vermehrt Hinweise darauf, dass uns eine Gefahr droht, deren Ursache vielen von uns kaum noch in Erinnerung sein wird. Aber hören wir zunächst die Worte des Fürsten Thorgund.

    Thorgund, Fürst von Grundbach, erhob sich von seinem Platz und wandte sich den Anwesenden zu.

    „Mein König, Fürsten und Edle des Landes, Freunde aus dem Volk der Elfen, begann er. „Wie ihr wisst, befindet sich mein Herrschaftsgebiet am östlichen Rand des Grünlandes, an der Grenze zum Kepirgebirge. Viele Jahre haben wir dort in Ruhe gelebt, frei von Übergriffen aus den Bergen. Die Grenze wurde von uns stets aufmerksam überwacht. Seit kurzer Zeit haben wir jedoch wieder häufiger kleine Scharen von Bestien und, was uns noch mehr alarmiert, vereinzelte Uranen-Krieger am jenseitigen Ufer der Janau, unseres Grenzflusses zum Kepirgebirge, beobachtet. Bisher haben sie, soweit wir wissen, noch nicht versucht, die Janau zu überschreiten. Es scheint mir, und da stimme ich mit König Wechis überein, als wären diese Späher ausgeschickt worden, um unsere Grenzwachen auszukundschaften. Bisher waren wir überzeugt, dass Bestien und Uranen keine Verbündeten mehr sind. Die Bestien standen in dem Ruf, nur noch die Schatten ihrer selbst zu sein. Doch die jüngsten Ereignisse geben Anlass zu der Befürchtung, dass sich aus noch unbekannten Gründen an diesem Zustand etwas zu ändern scheint. Wir alle wissen, dass die Bestien ihre furchtbare Kampfkraft einer bestimmten Macht verdanken. Wenn sie jetzt also wieder mit zunehmender Entschlossenheit in Erscheinung treten, kann es nur bedeuten, dass diese Macht nach langer Zeit an Einfluss gewinnt. Seien wir uns also der Möglichkeit gewahr, dass Kryonos wieder seine Ränke schmiedet.

    Ein lautes Gemurmel und eine deutliche Unruhe unter den Anwesenden setzten ein. Kryonos war vielen aus den Legenden bekannt und hatte sich ihnen als unterschwellige Bedrohung in der Erinnerung festgesetzt. Einige kannten ihn jedoch nur noch dem Namen nach, wussten aber nicht mehr, welcher Schrecken sich dahinter verbarg, wenn sie an seine Anwesenheit auf Erdos überhaupt noch glaubten. Diese wurden durch die Worte auch nur wenig beeindruckt.

    „Ich sehe, euch beunruhigt diese Entwicklung genauso wie mich, stellte Wechis fest, nachdem er im Saal wieder für Ruhe gesorgt hatte. „Jetzt wird jeder von euch begreifen, dass dieser Wehrrat nicht ohne dringlichen Grund einberufen wurde. In Anbetracht dieser drohenden Gefahr müssen wir entscheiden, wie wir uns darauf vorbereiten können.

    „Es wäre sicher noch zu früh, um an den Grenzen größere Kriegsheere zu sammeln, meinte Fürst Bogumil aus den Hohen Landen. „Da wir aber nicht wissen, was der Feind vorhat, schlage ich vor, Kundschafter ins Kepirgebirge zu schicken. Mehrere kleine Gruppen, die sich unauffällig bewegen, sollten uns genügend Nachrichten bringen können, um Kryonos´ Pläne zu erkennen.

    Fürst Hagil von Schwarzwasser meldete sich zu Wort: „Falls es sich als richtig erweisen sollte, dass Kryonos wieder erstarkt, wissen wir – zumindest aus den Legenden – was das für uns bedeuten kann. Dann haben wir mit der gefährlichsten Bedrohung der letzten tausend Jahre zu rechnen. Ich stimme dem zu, was Fürst Bogumil vorgeschlagen hat, bin aber gleichzeitig der Ansicht, alles Notwendige zu veranlassen, um auch einen möglichen Krieg führen zu können. Der Aufwand, Kriegsheere aufzustellen und auszurüsten, ist groß und teuer und wird viel Unruhe im Volk verursachen, daher schlage ich zum jetzigen Zeitpunkt nur vor, wenigstens die Planungen dafür anzugehen. Zumal noch nicht feststeht, was Kryonos tatsächlich vorhat, falls er überhaupt dahintersteckt. Doch wir sollten vorbereitet sein, wenn sich erweisen sollte, dass er tatsächlich die Fäden zieht und erneut einen Krieg gegen uns führen will, denn diese Aussicht wäre furchtbar, wie wir aus der Geschichte wissen, aber noch furchtbarer wäre es, ihm nichts entgegensetzen zu können."

    Plötzlich entstand am Saaleingang ein Tumult. Laute Stimmen verlangten nach Eintritt. Eine Wache kam eilends zum König und unterrichtete ihn davon, dass Marschall Cron, der Befehlshaber der östlichen Grenzwachen im Bereich der Kepir-Schwellen, dringend wünschte, vorgelassen zu werden. König Wechis gab ihm ein Zeichen, hereinzukommen. Marschall Cron kam in Begleitung eines Adjutanten. Im Beratungssaal herrschte wieder eine erwartungsvolle Stille. Alle waren gespannt, was ihr Erscheinen zu bedeuten hatte.

    „Mein König, begann der Marschall. „Ernste Dinge haben sich an der Grenze zugetragen. Vor vier Tagen, bei Einbruch der Dämmerung, erschienen wieder wie so häufig in letzter Zeit Bestien an unserer Grenze, die in Ufernähe auf der anderen Seite der Janau beobachtet wurden. An dieser Stelle muss ich erwähnen, dass die Zahl meiner Wachen zu gering ist, um die Janau auf ihrer ganzen Länge in meinem Bereich ständig überwachen zu können. Dazu kommt in letzter Zeit ein merkwürdig oft und rätselhafterweise örtlich begrenzt auftretender Nebel, wie wir ihn sonst nur selten und schon gar nicht in dieser Jahreszeit beobachten. Daher wissen wir nicht, ob bereits anderenorts Grenzübertritte vor den Ereignissen stattfanden, von denen ich Euch berichten muss. Zuerst sah es so aus, als würden die Späher sich nach einiger Zeit wie gewöhnlich wieder zurückziehen, doch spät am Abend kam ein Bauer aus der Nähe des Dorfes Brunwisch zu uns und berichtete, dass bei Einbruch der Dunkelheit eine Schar Bestien in Begleitung von schwerbewaffneten Uranen gesehen wurde, wie diese auf unserer Seite herumschlichen. Ich entsandte sofort einige berittene Krieger unter der Führung des Ritters Siegan, um nach ihnen zu suchen, dabei stießen sie auf eine zerstörte Siedlung. Die Häuser brannten noch. Der Angriff musste die Bewohner völlig unvorbereitet getroffen haben, denn nur wenige hatten durch Flucht überlebt. Die Feinde waren bereits wieder fort und die ersten Geflohenen zurückgekehrt, um nach ihren Verwandten zu suchen. Ich selbst habe mir später diesen Ort angesehen. Es gab keine Verwundeten, nur Tote, und wir konnten niemanden mehr befragen. Ritter Siegan ist es allerdings gelungen, ein Dokument in die Hand zu bekommen, das uns Aufschluss über die Absichten des Feindes geben kann. Marschall Cron zog eine arg in Mitleidenschaft gezogene Schriftrolle aus seiner Gürteltasche und übergab sie Wechis. Sie war nicht versiegelt. „Diese Rolle fand ein Soldat bei einer Bestie, die verwundet wurde und auf der Flucht abseits vom Geschehen von einem beherzten Bauern erschlagen worden ist. Ihr Inhalt mag wichtig sein für die Ratschlüsse, die hier fallen werden."

    Damit verneigte er sich vor dem König und zog sich in den Saal zurück. Dort herrschte Stille. Wechis blickte mit ernster Miene auf die Rolle. Dann öffnete er sie und begann zu lesen. Seine Kenntnisse der fremden Schrift, es war erstaunlicherweise uranisch, waren nicht sehr gut, aber um den Sinn des Schreibens zu verstehen, reichten sie aus. Nachdem er geendet und das Schriftstück wieder zusammengerollt hatte, sah er die Anwesenden finster an.

    „Die Bedrohung wächst schneller, als wir befürchteten. Aus diesem Befehl geht hervor, dass die Kundschafter den Auftrag hatten, eine grünländische Siedlung anzugreifen, um festzustellen, wie schnell und stark unsere Abwehr ist, und das wird kaum ohne Absichten geschehen sein. Ich fürchte, das Ergebnis war für den Feind ermutigend, ohne Euch einen Vorwurf machen zu wollen, Marschall Cron. Wechis überlegte einen Augenblick, dann fragte er: „Wer von euch, Fürsten des Landes, hat sich je eingehend in die Legenden über Kryonos vertieft? Ich schätze, nur wenige. Ich tat es, und daher kann ich bezeugen, dass der letzte Krieg gegen ihn in genau der gleichen Weise begonnen hat. Es werden noch weitere Scharmützel stattfinden, bevor der richtige Angriff erfolgt. Uns bleibt also noch ein wenig Zeit, hoffe ich. Und immerhin sind wir jetzt gewarnt. Die Grenzwachen am Kepir werden verstärkt. Es soll umgehend ein Befehl an Marschall Kleinhelm, den Befehlshaber der südlichen Grenzwachen, ergehen, dass er Euch einen Teil seiner Regimenter überlässt, die Euch dann unterstellt werden, Marschall Cron. Cron verneigte sich dankbar. „Zusätzlich, fuhr der König fort, „erwarte ich von allen Fürsten, dass Vorbereitungen für die Einberufung aller verfügbaren Krieger getroffen werden, sodass die Aufstellung neuer Regimenter umgehend erfolgen kann, wenn es an der Zeit ist. Unter diesen Umständen sehe ich mich gezwungen, entschlossener zu handeln, als es Fürst Hagil vorgeschlagen hat. Schließlich wollen wir den Vorschlag von Fürst Bogumil in die Tat umsetzen. In spätestens einer Woche erwarte ich von jedem Fürsten, dass er mir zehn Freiwillige schickt, die als Kundschafter ausgesandt werden sollen. Desweiteren gehen heute noch entsprechende Botschaften an die Könige Nôl´taham und Harismund. Nur unsere vereinten Heere können dem Feind Einhalt gebieten, falls es überhaupt möglich sein wird. Da die Zeit drängt, erkläre ich den Wehrrat für beendet. Mögen die Götter fügen, dass wir früh genug gehandelt haben.

    Die Saaltore wurden geöffnet und unter aufgeregten Gesprächen verließen die Fürsten und ihre Gefolge den Raum. Schließlich wurde es wieder still in dem Saal.

    4. Ein verzweifelter Plan

    Nachdenklich und bedrückt saß König Wechis auf seinem Thron. Allein in seiner Halle, fühlte er plötzlich das Gewicht seines Amtes. Es war das erste Mal, dass er Beschlüsse von solcher Tragweite getroffen hatte und deren Folgen so ungewiss waren.

    Noch einmal nahm er die erbeutete Schrift zur Hand und las sie in Ruhe durch. Es war ungewöhnlich, dass die Bestien schriftliche Befehle erhielten. Wechis wusste zwar nicht, ob es ein Einzelfall war, aber bestimmt war es bisher unüblich. Dieser Befehl war in uranischer Sprache verfasst. Möglicherweise galt er daher nur den uranischen Kriegern, und die Bestien hatten das Schriftstück an sich genommen, damit es nicht in die Hände der Grünländer fiel. So musste es gewesen sein, beschied Wechis.

    Eine Bewegung in seinen Augenwinkeln ließ ihn aufblicken. Verwundert stellte er fest, dass nicht alle der Ratsteilnehmer den Saal verlassen hatten. Zurückgeblieben waren die Abgesandten des Elfenkönigs, die Fürsten Hagil und Thorgasmund sowie die Fürstin Adhasil. Aus dem Schatten einer Säule löste sich eine Gestalt in einem grauen Druidengewand, die Kapuze über ihr Haupt gestülpt. Mit vor der Brust verschränkten Armen näherte er sich dem König. Jetzt sahen ihn auch die anderen, und obwohl sie wussten, dass Melbart den Wehrrat aufsuchen wollte, erkannte ihn in diesem Augenblick nur Danan´hô.

    „Es ist uns eine besondere Ehre, unseren weisen Ratgeber Melbart in dieser dunklen Stunde unter uns zu wissen", sagte der Elf schmunzelnd.

    Jetzt schlug der Mann die Kapuze zurück und ein verwittertes, graubärtiges Gesicht kam zum Vorschein, aus dem klare, listige Augen hervorstachen. Melbart liebte solche Auftritte. Er lächelte.

    „Vor deinem wissenden Blick bleibt niemand unerkannt, Danan´hô."

    „Nur schwerlich jemand, den ich kenne und erwarte. Daher war es dieses Mal wahrlich keine Kunst."

    Das konnte der Elf leicht sagen, denn kurz vor der Versammlung hatte er mit Melbart ein paar Worte gewechselt. Der beiden Wortspiel gehörte wohl mit zu Melbarts Auftritt.

    „Nun, König Wechis, sagte der Magier, dem nicht entgangen war, dass der König ihn etwas argwöhnisch ansah, „habe ich Euch nicht versprochen, früher an Euren Hof zurückzukehren, als Ihr es erwartet? Nun ja, ich gebe zu, es ist sogar früher, als ich selbst dachte und beabsichtigte. Ich bat auch die Anwesenden aus Gründen, die wir hier zu besprechen haben, noch nicht zu gehen.

    „Der große Magier Melbart, sagte König Wechis, nicht ganz frei von wohlwollendem Spott. „Ich fürchte, Eure Rückkehr verheißt nichts Gutes. Kaum wenden die Dinge sich zum Schlechten, da taucht Ihr wieder auf. Ich hätte es mir denken können. Trotzdem begrüße ich Eure Anwesenheit, denn ich kann nicht verleugnen, dass ich Euch als Ratgeber schätze. Wie sich wieder einmal erwiesen hat, steht Ihr auch bei den Elfen in besonderer Achtung, und –.

    „Und nicht weniger bei den Seenländern!, ließ sich eine unbekannte Stimme aus dem Schatten einer Säule hören, worauf ein großer, kräftiger Mann ohne Waffen und Rüstung ins Licht hervortrat. „Verzeiht mein ungebührliches Eintreten, aber besondere Zeiten verlangen besonderes Handeln. Als Zeichen meiner friedlichen Absichten ließ ich meine Waffen zurück.

    König Wechis blickte überrascht auf. Er konnte sich nicht daran erinnern, einen Seenländer zum Wehrrat eingeladen zu haben. Und dass er beteuerte, friedvolle Absichten zu haben, war kaum eine bemerkenswerte Äußerung, denn es war nicht vorstellbar, dass er an diesem geschäftigen Tag in übler Gesinnung bis in die Nähe des Königs gelangt wäre. Mit heruntergezogenen Augenbrauen sagte Wechis: „Ihr seid ein unerwarteter Gast. Darf ich fragen, wer Ihr seid?"

    „Ich kam auf die Bitte von Melbart, antwortete der Fremde. „Mein Name ist Cai Grevenworth, und ich bin Ritter in der Reiterei König Harismunds.

    „Dann seid Ihr im Auftrag Eures Königs hier?", vermutete Wechis.

    „Nun, er äußerte keine Einwände dagegen, zu Euch zu reisen", antwortete Cai ausweichend.

    „Wie Cai sagte, er kam meiner Bitte nach, mich zu begleiten, erklärte Melbart. „Ich komme in einer dringenden Angelegenheit an Euren Hof zurück. Es geht um eine wichtige Entscheidung, bei der die Anwesenheit Cais erforderlich ist.

    „Eine wichtige Entscheidung?", wiederholte der König, der nicht wusste, was der Magier beabsichtigte.

    „Deswegen sind wir hier, sagte Melbart. „Wir müssen darüber reden. Und ich fürchte, die Umstände dulden keinen Aufschub.

    „Kaum ist der eine Kriegsrat beendet, da beginnt der nächste, sagte Wechis etwas verdrießlich. „Gut, aber nicht hier. Gehen wir ins Kaminzimmer.

    Der König erhob sich von seinem Thron und führte seine Gäste in einen kleineren Raum hinter dem großen Saal, nachdem er einem Diener aufgetragen hatte, die Reichssymbole und die Königskrone wieder sicher zu verwahren. Er rief eine Wache und befahl ihr, dafür zu sorgen, dass sie nicht gestört wurden.

    Da waren sie nun um König Wechis versammelt: Melbart, der Magier; der Ritter Cai; Danan´hô mit seinen Begleitern; die Fürstin Adhasil und die Fürsten Hagil und Thorgasmund. Außer Melbart wusste niemand, dass Cai unter einem anderen Vorwand als nach Weißanger zu reiten den Hof seines Königs verlassen hatte, und der aus diesem Grund auch keine Einwände dagegen gehabt haben konnte, dass Cai zu König Wechis geritten war.

    „Ich denke, nun ist es an der Zeit, den Grund für das geheimnisvolle Erscheinen von Melbart und Cai zu erfahren, leitete König Wechis erwartungsvoll ein. „Ich vermute, es ist ein gewichtiger Grund.

    „Ihr vermutet richtig, erwiderte Melbart. „Was an den Grenzen geschieht, und ich betone ausdrücklich, auch an den Grenzen des Nordens, ist nur ein Vorspiel für einen neuen Krieg, von dem wir annehmen können, dass Kryonos ihn plant. So viel habt ihr euch auf der Versammlung ja bereits klargemacht, und ich kann es mit weiteren Anzeichen untermauern. Die Seenländer haben an ihren Nord- und Ostgrenzen die gleichen Beobachtungen gemacht wie Ihr. Dass Kryonos noch so vorsichtig vorgeht, ist für uns ein Zeichen, dass er bisher kaum seine alte Stärke zurückerhalten haben dürfte. Was mich wundert, sind diese Kundschafterzüge, von denen er eigentlich wissen müsste, dass sie uns warnen. Als wolle er uns von etwas anderem ablenken. Erinnert Ihr Euch an die Legende von König Merowinth, einen der frühen Herrscher über das Seenland und in gerader Linie von Nigall, dem Großfüßigen, abstammend, dem ersten König der vereinten Seenland-Provinzen?

    Natürlich war ihnen diese Legende mehr oder weniger vertraut. König Merowinth und seine Gefährten waren bekannte Helden in der Geschichte von Erdos.

    Danan´hô wiederholte vor den Anwesenden noch einmal die Sage von Merowinth und seinen Gefährten und betonte, dass deren Schicksal, wenn es auch nie bewiesen werden konnte, für die Elfen unzweifelhaft mit dem Ende der Macht von Kryonos verbunden war.

    „Diese Vermutung wird dadurch gestützt, dass die Bestien und alle auf deren Seite kämpfenden Wesen sich fluchtartig von den Schlachtfeldern zurückzogen und sich in alle Winde zerstreuten. Wir glauben, dass das Achôn-Tharén, das Kryonos einen wesentlichen Teil dieser Macht verlieh, damals in noch andere, uns unbekannte Hände gelangte, die es allerdings nicht wieder an Kryonos zurückgaben, da sein Einfluss erloschen blieb. Seit damals ist es verschollen, und wir fühlten uns über eintausend Jahre in Sicherheit. Bis heute. Wo das Achôn-Tharén verborgen ist, ist unbekannt", schloss er.

    „Wenn jedoch keiner der Krieger um König Merowinth jemals wieder zurückkehrte, wie könnt Ihr dann so sicher sein, dass diese Schar tatsächlich die Ursache für die Entmachtung von Kryonos war?", wandte Cai ein.

    Melbart hatte ihn zwar gebeten, an König Wechis´ Hof zu kommen, ihn über seine Absichten und dem, was ihnen zugrunde lag, aber im Unklaren gelassen.

    Danan´hô nickte, als hätte er diesen durchaus berechtigten Zweifel erwartet, und seine folgenden Worte bestätigten das dann auch.

    „Eure Frage kommt nicht unerwartet", gab der Elf zu. „Ich kann Euch aber versichern, dass es tatsächlich keine unmittelbaren Zeugen, außer möglicherweise einige Kreaturen des Kryonos, gab. Heute werde ich ein Geheimnis preisgeben, das über eintausend Jahre von den Elfen gehütet wurde, doch die Umstände rechtfertigen diesen »Verrat«, und er erfolgt mit dem Wissen meines Königs. Es stimmt, nur wenige Eingeweihte kannten damals das Ziel von Merowinths Schar, die mitten im Krieg heimlich aufbrach, um Kryonos in seinen Höhlen anzugreifen. Einer dieser Eingeweihten war der Elfenkönig Her´eldan, der Großvater Nôl´tahams. Als nun der Krieg zu Ende war und Merowinth und seine Männer in den Monaten danach verschollen blieben, entschloss sich dieser König, nach ihnen suchen zu lassen. Etwa ein Jahr nach Merowinths Aufbruch schickte er einige Krieger in den Norden zu dem Verlorenen Berg. Durch einen unwahrscheinlichen Zufall entdeckten sie vier Tagesmärsche vor dem Ziel die Überreste einer kleinen Kriegerschar. Von den Leichen waren nur noch wenige Knochen übrig, und die Ausrüstung lag weit zerstreut. Um wen es sich handelte, war zunächst unklar, obwohl die Tatsache, dass die Ausrüstung unterschiedlichen Ursprungs war, sie fanden Gegenstände seenländischer, elfischer, grünländischer und zwergischer Herkunft, einen Hinweis auf eine gemischte Gruppe lieferte. Schließlich entdeckten sie ein Schwert, dass eindeutig König Merowinth zugeordnet werden konnte. Das war der Beweis dafür, dass die Krieger, deren Schicksal sie herausfinden sollten, umgekommen waren. Der Hergang konnte jedoch nicht mehr geklärt werden, und die Umstände ihres Todes blieben rätselhaft. Anschließend zogen die Elfen weiter zum Verlorenen Berg.

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