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Piraten in Port de Sóller: oder Madame wird transluzent
Piraten in Port de Sóller: oder Madame wird transluzent
Piraten in Port de Sóller: oder Madame wird transluzent
eBook331 Seiten4 Stunden

Piraten in Port de Sóller: oder Madame wird transluzent

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Über dieses E-Book

Das Orangental von Sóller auf Mallorca ist wunderschön, wenn man Natur und Berge liebt. Beides ist Gesa und Paul herzlich egal. Sie wollen ungestört – und vor allem unerkannt – ein paar schöne Tage verbringen und landen im schmuddeligen, kleinen Hotel von Madame in Port de Sóller. Die französische Hotelchefin erkennt in den beiden zwar sofort luxusverwöhnte Kunden, behandelt sie aber wie alle ihre Gäste: einfach und ohne Schnickschnack. Es könnte der perfekte Liebesurlaub werden – wenn Gesas Zweifel nicht wären und der Mann an ihrer Seite nicht etwas ganz anderes im Schilde führen würde. Während die beiden in der Strandbar Einheimischen und Touristen beim alljährlichen "Firó" zuschauen, ziehen über den Bergen bedrohliche Wolken auf. Mitten im Mai wird es plötzlich eiskalt. Bauarbeiter Luis, ebenfalls Gast in dem kleinen Hotel, hält es für eine witzige Laune der Natur. Doch in Wirklichkeit ist es nur ein Zeichen dafür, dass die Geschichte seines Lebens eine dramatische Wendung nimmt. Schuld daran sind ein paar Piraten. Der Wettlauf um Leben und Tod, Liebe und Geld kann beginnen.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum1. Dez. 2012
ISBN9783844241174
Piraten in Port de Sóller: oder Madame wird transluzent

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    Buchvorschau

    Piraten in Port de Sóller - Christiane Döntgen

    Christiane Döntgen Normal.dotm Petra Ellen 2 0 2012-12-01T11:33:00Z 2012-12-01T11:33:00Z 5 69721 397415 Lippert Wilkens Partner 3311 794 488053 12.0

    X Prolog

    Montag, 7. Mai 2012

    »Sie haben es genommen«, flüsterte er und schüttelte den Kopf.

    Regina war gerade erst zurückgekommen. Sie trug eine alte Jeans, das T-Shirt zeigte deutliche Spuren ihrer Arbeit. Ihre Haare waren inzwischen wieder so lang, dass sie sie zu einem Zopf binden musste, damit sie ihr nicht dauernd ins Gesicht fielen. Seitdem sie die Orantique, eine Kreuzung aus Orange und Mandarine, ernteten, war die Nachfrage sprunghaft gestiegen. Sie hatte alleine an diesem Nachmittag acht neue Kunden beliefert und war völlig erschöpft vom Kistenschleppen.

    Ihr Mann starrte sie mit weit geöffneten Augen an.

    »Was ist passiert?«, fragte sie.

    »Sie nehmen es. Alfaguara, Madrid. Weißt Du, was das heißt?«

    Vor ihr stand ein Mann, so groß, dass er sich unter den Türrahmen des alten Hauses bücken musste, und wirkte in seiner Fassungslosigkeit wie ein kleines Kind.

    »Gerade haben sie angerufen. Natürlich haben sie noch Änderungswünsche. Aber sie nehmen es.«

    Für ihn waren die letzten Monate anstrengend gewesen, auch wenn er immer wieder betont hatte, wie leicht ihm alles fiel. Er hatte das Haus umgebaut und zugleich sein erstes Buch geschrieben. Eigentlich war es ihnen schon viel zu gut gegangen in ihrer Zufriedenheit mit dem Leben. Regina misstraute diesem Zu-stand zutiefst. Es gab kein großes Glück, dessen war sie gewiss. Doch heute ging das, was es nicht gab, in seine nächste Runde.

    »Wir müssen feiern«, sagte Regina. »Lass uns alle anrufen, damit sie herkommen und es hören. Gib mir zehn Minuten, dann bin ich schon soweit. Haben wir noch genug zu trinken im Haus? Vor allem Rotwein und Bier.« Sie stockte kurz, legte den Zeigefinger auf ihre Lippen und dachte nach. »Aber nein, das geht ja nicht, wenn alle dabei sein sollen. Gehen wir zum Hotel feiern .«

    Er lächelte und ließ sich in einen kleinen Korbstuhl fallen, der im Flur hinter der Eingangstüre stand. Dort saß er noch, als Regina in einem bunten Kleid wiederkam.

    »Alles klar. Wir gehen. Komm schon, Araber, das ist Dein Tag«, sagte sie und küsste ihn auf den blanken Kopf. Er kam zu sich, stand auf.

    »Ja, heute wollen wir feiern.« Gemeinsam machten sie sich auf den Weg die Straße hinunter zu dem kleinen, leicht verfallenen Hotel mit traumhaftem Blick über die Bucht.

    Christiane Döntgen Normal.dotm Petra Ellen 2 0 2012-12-01T11:33:00Z 2012-12-01T11:33:00Z 5 69721 397415 Lippert Wilkens Partner 3311 794 488053 12.0

    1

    Sonntag, 9. Mai 2010

    Madame Zigurés erster Blick auf ihre Gäste ging über den Rand ihrer Brille und den Tresen vor ihr direkt unter das Kinn der Neuankömmlinge. Sie hatte sich angewöhnt, erst dann aufzusehen, wenn wirklich jemand vor ihr stand. Jedem entgegenzuschauen hielt sie von der Arbeit ab und war ein zweckloses Unterfangen: Die Rezeption war in die freie Nische zwischen Aufzugschacht und Speisesaal eingefasst. Von hier aus konnte man den Eingang nur erkennen, wenn man sich aufrecht hinstellte und nach rechts über die kleine Regalfläche reckte. Von dort spähte man zwischen zwei der dicken Holzstreben hindurch, die den Speisesaal und die Eingangshalle von der Rezeption trennten. Das kostete unnötig Zeit. Madame wartete, bis die Gäste zu ihr kamen. Ihnen blieb ohnehin nichts anderes übrig.

    So lernte Madame Ziguré jeden Gast zunächst als Brustbild kennen und schaute dann kurz in sein Gesicht – was ihr zur Klassifizierung in der Regel vollkommen genügte. Nach fast 35 Jahren im Hotelgewerbe – die meisten davon in ihrem eigenen Betrieb – lag sie nur selten daneben. Um in dem für die Branche üblichen Bewertungssystem zu bleiben, vergab sie für ihre Gäste Sterne. Ihr Hotel mit 46 Zimmern hatte es zu zwei Sternen der Landeskategorie gebracht. Ihre weniger anspruchslosen Gäste konnten nur ahnen, was dies für Ein-Stern-Häuser bedeutete; sie würden es aber unter keinen Umständen erleben wollen. Ein bisschen Schimmel am Duschvorhang, Staubwollmäuse am Boden, die flink durchs Zimmer huschten, wenn man Tür oder Fenster öffnete, ein Haar des Vorgängers im Abfluss der Dusche, Staub auf den Schrankeinlegeböden (soweit diese überhaupt vorhanden waren), Zigarettenasche hier und da – all das zeichnete die Landeskategorie »Zwei Sterne« in diesem Haus aus. »Ein Stern« wurde wahrscheinlich niemals vergeben – und wenn doch, dann nur an solche Häuser, vor denen man warnen wollte.

    Auch bei den Gästen waren diejenigen mit nur einem Stern natürlich die Schlimmsten. Menschen dieser Ziguréschen Kategorie waren sehr, sehr ordentlich. Sie beschrieben ihren Anspruch an ein anständig geführtes Hotel mit den Worten »Hauptsache sauber« und stuften sich damit in ihrer Selbsteinschätzung als höchst anspruchslos ein. Alles andere war ihnen völlig egal: nur bitte eben keine Haare im Abfluss und kein Staub auf den Schränken. Hauptsache-sauber-Gäste waren Querulanten und als solche zu behandeln. Madame erkannte sie auf den ersten Blick und schickte sie in ihre unangenehmsten Zimmer. Kaum hatten sie den Weg dorthin angetreten, wettete Madame mit sich selbst, wann Herr oder Frau Sauber oder am besten beide samt Gepäck wieder Brust aufwärts vor ihr am Tresen erscheinen würden. Mit etwas Glück war das erst nach einer Nacht der Fall und sie konnte ihnen eine Reinigungsgebühr für den ungeplanten Zimmerwechsel berechnen. Was erwarteten sie denn für den besten Preis in der ganzen Bucht? Ein Burj al Arab wie in Dubai? Mit sechs Bediensteten pro Suite, die andauernd die Handtücher wechselten und die Gäste zum Privatstrand kutschierten, wo nicht nur das Meer, sondern gleich auch geeiste Tücher für Erfrischung sorgten? Fünf-Sterne-Gäste waren das genaue Gegenteil, ein Traum für Madame, kamen allerdings so gut wie nicht vor. Sie waren freundlich, hatten nichts Überflüssiges, weder in ihrer Kommunikation noch bei ihren Wünschen, nahmen alles so, wie es kam. Solche Gäste gaben Gabriella am Ende des Urlaubs ein ordentliches Trinkgeld fürs Putzen, obwohl sie fast täglich die Zigarettenasche des fünfundsechzigjährigen Zimmermädchens irgendwo im Raum gefunden hatten.

    Madame Ziguré hatte ihren Beruf in Nizza gelernt. Dort war sie geboren und aufgewachsen. Nach ihrer Ausbildung in einem kleinen Hotel hatte sie das Weite gesucht. Gefunden hatte sie es im Mittelmeer auf der Insel Mallorca in einem kleinen, verschlafenen Hafen im Nordwesten. Das erste Hotel am Platz – das Marisol – hatte gerade eröffnet und war auf der Suche nach qualifiziertem Personal gewesen, das man in dieser Zeit am besten auf dem Festland rekrutierte. Die Inselbewohner hatten sich damals noch wie zu Zeiten Georges Sands verhalten, die den Menschenschlag als schlicht unzivilisiert, unhöflich und unerträglich empfunden hatte. Ein Missverständnis, denn sie wollten einfach nur in Ruhe gelassen werden. Sie waren nicht geboren, um zu dienen – wenigstens nicht im 19. Jahrhundert. Und im zwanzigsten, als aus dem Dienen Service geworden war, hatten die Hoteliers an den entscheidenden Stellen im Kontakt mit den Gästen zunächst Personal aus den großen Tourismuszentren bevorzugt – vor allem solches, das neben Spanisch eine weitere Sprache beherrschte.

    Von Anfang an hatten sich die Urlauber auf der Insel als sprachfaul erwiesen. Madame hatte hierfür ihre ganz eigene Erklärung entwickelt: Wenn man schon in einem Land Urlaub machte, das von einem Diktator regiert wurde – so unterstellte sie den deutschen Urlaubern von damals – sollte man die Sprache ebenso ignorieren wie die politischen Verhältnisse. Als General Franco dann 1975 durch sein Ableben den Weg für die königliche Demokratie freimachte, hatten sich die Touristen offensichtlich schon daran gewöhnt, verstanden zu werden. Mit der Autonomie der Balearen wurde dann das Mallorquí als regionale Sprache gefördert – und die Urlauber natürlich gänzlich überfordert.

    Die robuste, aber keineswegs übergewichtige Hotel-Chefin schaute zufrieden auf ihren Buchungsplan. Wenn sie lächelte, erinnerte ihr Gesicht ein wenig an das eines fülligen Hamsters. Sie war fast glücklich mit ihrem Leben und mit ihrem Hotel – das eigentlich ihrem Mann Jesús gehört hatte und ihre gemeinsame Tochter später einmal erben würde.

    Jesús war nicht etwa gestorben, sondern hatte das Hotel auf seine Frau überschrieben, um es dem Zugriff seiner Familie zu entziehen. Nach dem Tod seines Onkels war das Haus Anfang der 1970er Jahre in seinen Besitz übergegangen – samt der auf der anderen Straßenseite liegenden Terrasse, die einen herrlichen Blick über die Bucht bot. Jesús war sein Lieblingsneffe gewesen und überdies wie sein Onkel kein Freund von Francos Regierung. Ein Rechtsstreit um das Erbe begann, der erst ein paar Jahre nach dem Tod des Onkels endete. Jesús Maria Mendez war zu seinem Recht gekommen, wollte aber nichts mehr riskieren, heiratete seine erste und große Liebe, überschrieb ihr das Borrasca und sein Leben. Kennengelernt hatte Madame ihn im Marisol, dort hatte er im gleichen Jahr wie sie als Kellner angefangen. Damals war er zwar schon selbst Hotelbesitzer gewesen, hatte den Beruf aber noch nicht ausüben können. So war ihm erst einmal nichts anderes übrig geblieben, als zu üben. Für ihn war es ein großes Glück gewesen, sonst hätte er Mademoiselle Eleonore Ziguré vielleicht niemals getroffen, und alles wäre ganz anders gekommen.

    Madame sprach neben Französisch auch Spanisch, Mallorquí, Englisch und Deutsch, zwar nicht unbedingt perfekt, aber für die Kommunikation mit ihren Gästen reichte es. Wie es bei Fremdsprachen oft der Fall ist, konnte sie diese besser verstehen als sprechen. Sie begrüßte die Gäste gerne in ihrer jeweiligen Sprache und mit den immer gleichen Worten. Nach so langer Zeit waren die Sätze eingeschliffen und die Worte für ungeübte Zuhörer schwer voneinander zu trennen. Aus dem Französischen war Madame es gewohnt, die Silben über Wortgrenzen hinweg einfach zusammenzuziehen, was sie dann auch in den anderen Sprachen tat. Das klang im Deutschen dann so:

    »Gutentack, willkommenimborrasca.«

    Die Gäste nestelten ihr Hotel-Voucher und ihre Pässe aus taschendiebsicheren Brustbeuteln und legten sie auf den Tresen. Madame räumte alles ab wie ein Croupier beim Roulette, wenn das Spiel gelaufen und ab sofort nichts mehr zu gewinnen ist.

    »Donkeschön.« Die Melodie ging am Ende des Wortes steil nach oben und Madame schaute in erwartungsfrohe Gesichter, die glaubten, nun folgten wichtige Informationen in Form einer Aufzählung. Und sie hatten recht:

    »ZimmervierhundertsechszöhnmitMeerblick.SiebenUhrfümfundvierzieschbisneunUhrdreissieschFrühstück.NeunzöhnUhrdreissieschbiseinundzwanzieschUhrdreissieschAbendessen.SiekönnentrinkenonderBar.MitmirmitdemNachtportierzumEssenimmer. Getränkesindimmer – Cash.«

    Vor dem letzten Wort machte sie eine kurze Pause und senkte zum ersten Mal wieder ihre Stimme. Der Zuhörer wusste: Hier war Bedeutendes gesagt worden. Er hatte es nur nicht verstanden. Denn er brachte das Wort »Cash« einfach nicht in Zusammenhang mit dem vorher Gesagten.

    Dabei hatte Madame es sich angewöhnt, das Wort deutlich aus-zusprechen. Ganz deutlich. Ein universelles Wort, das man überall auf der Welt kannte, da war sie sicher. Sie hatte geübt, ihren Redefluss zu unterbrechen und »Cash« wie einen Schlussakkord ans Ende zu setzen. Und trotzdem: Bei der ersten Getränkebestellung zum Abendessen schauten sie neunzig Prozent ihrer deutschen Gäste mit großen Augen an, wenn sie sofort zahlen mussten. Aufs Zimmer schreiben gab es im Hotel Borrasca nicht.

    »IhrZimmeristvierhundertsechzöhn.HieristderSchlüssel.Da-istderAufzug.« – Ihre Kopfbewegung zeigte zu einer roten, schmalen Aufzugtür auf der linken Seite des kurzen Flures. Die Köpfe der Gäste drehten sich schnell in die Richtung, um den schwer verständlichen Worten durch ein Bild einen Sinn zu geben. Zum Zimmer begleitet wurden sie nicht, es sei denn, sie erwiesen sich als hilfsbedürftig, was bei einem von Wanderern und sparsamen Menschen bevorzugten Hotel selten vorkam. (Lediglich Behindertengruppen genossen im Borrasca Privilegien: Man kümmerte sich um sie.)

    Ansonsten beschränkte Madame den Kontakt zu den Gästen auf das Nötigste. Dazu zählten natürlich, auf eine Frage zu antworten, sich für Lob zu bedanken oder eine zweite Scheibe Brot aus der Küche zu holen – letzteres mit einem Gesicht, das diesen Wunsch kein zweites Mal aufkommen lassen würde. Bestellte jemand einen Kaffee nach dem Essen war auch ein wenig Smalltalk möglich, die Betonung auf der ersten Silbe des Wortes. Die Gäste freuten sich über jedes Lächeln von Madame, sie sehnten sich nach ein paar Tagen regelrecht danach, denn sie verteilte es wohl dosiert und vornehmlich, nachdem für irgendein Getränk wieder »Cash« geflossen war.

    Vor Madame Ziguré baute sich nun ein neues Brustbild auf. Bestimmt die Zehn-Uhr-Maschine aus Deutschland, eine der unzähligen Zehn-Uhr-Maschinen aus Deutschland. In der Hauptsaison hatte die Ankunft aus dem bevölkerungsreichsten Land der EU etwas von einer Evakuierung. Alle raus!

    Doch vor ihr stand kein fröhliches, rotwangiges Urlauber-Paar, deren Mitgliedschaft im Alpenverein eine Anstecknadel auf dem karierten Hemd dokumentierte; seit sie ein Wanderer-Hotel führte, hatte sie das kleine Edelweiß unzählige Male gesehen. Das Brustbild vor ihr gehörte zu einem alten Mann. Er musste doch jetzt schon bald 80 sein. Oder darüber? Nein. Madame ließ einen leichten Seufzer vernehmen, eine sehr kleine Entgleisung angesichts der Tatsache, dass sie gerade eine neue schlimmste Sternekategorie für Gäste eröffnen musste: Verwandte.

    Dabei war sie extra weit von zu Hause weggegangen. Über das Mittelmeer kam man nicht mal eben so auf einen Sprung vorbei. So sollte es sein. Sie hatte ihn vor fünf Jahren zum letzten Mal gesehen. Aus Versehen. Bei einer Beerdigung. Jetzt stand er da und starrte sie an, ließ den Blick über ihre grauen, kurzen Haare, ihren Pony, ihre modische Brille aus transluzentem, weißem Kunststoff bis zu ihrem Dekolleté wandern und nickte kaum merklich. Madame verdrehte die Augen und fragte ganz ruhig: »Was willst Du?«

    »Ein Zimmer?«, fragte er vorsichtig zurück.

    »Vergiss es!«, flüsterte Madame. »Alles belegt. Es ist Mai. Der beliebteste Wandermonat überhaupt. Außerdem haben wir Wanderarbeiter im Haus, vom Hotelneubau auf der anderen Seite der Bucht. Wir sind ausgebucht.«

    Sie senkte den Blick auf die Tastatur ihres Laptops, tippte etwas und schaute dann durch den unteren Bereich der Brillengläser auf das Display, wofür sie den Kopf ein wenig in den Nacken legen musste. Und außerdem, dachte sie, außerdem haben wir kein Zimmer für Null-Sterne-Gäste.

    »Ich brauche nicht viel Platz. Nur ein Bett.«

    Madame tippte, blickte auf das Display und tippte weiter.

    »Nur für ein, zwei Nächte. Bitte, Eli.«

    Die Luft entwich aus ihrer Nase wie aus einem Kessel, in dem der Druck langsam stieg. Dabei bemühte sie sich nach Kräften, einen eiskalten Wind durch den Raum wehen zu lassen. Wie immer stand er ratlos da und blickte sie aus traurigen Augen an, die um eine Erklärung bettelten. Eine Erklärung dafür, warum sie ihre Eltern einfach so in Nizza zurückgelassen und sich nie gemeldet hatte. Sie sah ihm an, dass er die Schuld dafür bei sich suchte und ihn sein Gewissen quälte. Doch sie konnte ihm nicht helfen.

    Madame hatte sich nie etwas aus ihren Eltern gemacht, sie waren ihr egal. Natürlich wusste sie, dass es bei den meisten Menschen auf der Welt anders war. Als sie jung war, hatte sie darunter gelitten. Während andere in ihrem Alter sich an den Erwachsenen rieben, sich mit ihnen überwarfen und wieder versöhnten, um dann gleich wieder den nächsten Familienkrach vom Zaun zu brechen, lebte Eleonore mit zwei Menschen, die zufällig älter waren als sie, in einer Wohngemeinschaft. Mehr war ihr einfach nicht möglich gewesen.

    »Jesús«, setzte der alte Mann an und atmete dann tief durch. »Er hat gesagt, ich solle ruhig kommen, wenn es nun mal nicht anders ginge. Und da bin ich.«

    »Da bist du. Aber da bleibst du nicht. Und was Jesús angeht: Es ist nicht sein Hotel! Er kann jeden einladen. Ob ich ihn aufnehme, bleibt mir überlassen. Und der Auslastung des Hotels. Wir sind voll, voll, voll! Kein Bett für Dich oder sonst irgendwen.« Madame setzte ihr Ein-Sterne-Gast-Lächeln auf, bei dem die Mundwinkel nach oben wiesen, aber die Augen einfach nicht mitmachen wollten. »Eli ...«

    »Zum Teufel«, zischte es aus Madame. Der Druck im Kessel stieg. Da stand dieser Mann vor ihr und stellte Ansprüche. Sie konnte doch nicht jeden Rentner aufnehmen. Ihr Blick bohrte sich in die Tastatur. Q-W-E-R-T-Y-U-I-O-P. Um sich zu beruhigen, las sie die erste Buchstabenreihe vor und zurück, dreimal. Dann nahm sie sich die nächste Reihe vor. Nach zwei Minuten blickte sie auf und der Mann war verschwunden. Sehr gut.

    Ah, und da kamen auch schon die beiden Deutschen. Atmungsaktive Goretex-Jacken und karierte Wanderhemden, die, obwohl bügelfrei, irgendwie gebügelt und gestärkt aussahen. Die beiden wirkten deplatziert in dieser Kleidung. Wenn das Wanderer sein sollten, dann war sie Jeanne d’Arc. Sie schnaubte amüsiert angesichts dieses Vergleichs.

    Der Mann hatte seine blonden Haare mit viel Gel akkurat nach hinten gekämmt. Sein Gesicht hatte eine sanfte Bräune, seine blauen Augen etwas Unangenehmes, das man mit viel Wohlwollen geheimnisvoll oder weniger freundlich schlicht verschlagen nennen konnte. Die Frau an seiner Seite schien ein wenig älter zu sein als er, vielleicht Mitte vierzig. Ihre langen Haare waren blond gefärbt mit einem leichten Stich ins honigfarbene. Sie machte auf Madame den Eindruck eines sehr klugen, wachsamen Menschen. Obwohl sie bestimmt in der gleichen Welt zu Hause waren, passten sie nicht recht zusammen. Warum sie keine Wanderer sein konnten, wusste Madame sich nicht näher zu erklären. Vielleicht weil alles an ihnen neu war, die Kleidung ebenso wie die Wanderrucksäcke eines teuren Outdoor-Herstellers auf ihren Schultern. Ihre Koffer waren viel zu groß für einen einwöchigen Aufenthalt. Sie waren mit Sicherheit nicht einmal normale Pauschaltouristen, sondern pflegten sonst, in anderen Etablissements abzusteigen. Die Art, wie der Mann den Voucher aus seinem nagelneuen Bauchgurt fingerte, zeigte ihr, dass er dies zum ersten Mal in seinem Leben tat. Seine Hand zitterte leicht und seine geröteten Wangen zeugten davon, dass er sich am Beginn eines großen Abenteuers glaubte.

    »Gerhard«, sagte er hastig. »Paul Gerhard. Meerblick.«

    Die Frau lächelte.

    »Gutentack, willkommenimborrasca.« Madame atmete tief durch, kontrollierte das Papier, nahm die Ausweise der beiden entgegen, schob Herrn Gerhard den Schlüssel zu und sagte ihren endlosen Ein-Wort-Satz. Am Ende schauten alle drei in Richtung Aufzug. Die Gäste begriffen, dass sie von nun an auf sich selbst gestellt waren, und drängten mit ihren beiden Koffern in die kleine Kabine. Mit einem Rappeln ging die Falttür zu und der kräftige Ruck signalisierte ihren Aufstieg in ein Zimmer für Ein-Stern-Gäste. Unten saß Madame, studierte die Personalausweise der beiden genau, lächelte und dachte: Zwei Stunden. Wetten!

    Christiane Döntgen Normal.dotm Petra Ellen 2 0 2012-12-01T11:33:00Z 2012-12-01T11:33:00Z 5 69721 397415 Lippert Wilkens Partner 3311 794 488053 12.0

    2

    Montag, 10. Mai 2010

    Gesa und Paul nahmen ihre Rollen sehr ernst und marschierten wie Wanderer durch unwegsames Gelände – ein Anfängerparcours freilich, doch für Menschen, die es gewohnt waren, selbst für kurze Wege den Wagen zu nehmen, eine wirkliche Herausforderung. Paul, der gut und durchtrainiert aussah, hatte Mühe mit dem Atmen. Wenn er eine besonders hohe Steinstufe nehmen musste, hörte Gesa ihn aufstöhnen. Noch keine 40 und die Kondition eines 60-Jährigen. Ein Leben für die Karriere. Im Büro. Hier hatte er den Gipfel fast erklommen, eine Stufe unter dem Vorstand, unter Gesas Mann, dem Vorstandsvorsitzenden. Paul war ein Mann der Ideen, so hatte er es Gesa gegenüber oft betont.

    Ideen hatte er tatsächlich unendlich viele, allein fehlte ihm die Fähigkeit, die guten von den schlechten zu unterscheiden. Nicht sein Intellekt hatte ihn aufsteigen lassen, sondern sein Charme, der andere dazu brachte, für ihn zu denken. Paul war ein Sonntagskind. Ein echter Sportsmann, jedoch mit begrenzter Kondition. Hatte sich eine „seiner" Ideen als erfolgversprechend erwiesen, so war er aufgeregt wie ein kleiner Junge, den der Lehrer in der Schule gelobt hatte. Zu Anfang ihrer Affäre hatte Gesa diese Marotte noch liebenswert gefunden. Inzwischen fand sie es albern. Umso mehr hatte sie sich auf diesen Urlaub fernab jeglicher beruflicher Angelegenheiten gefreut. Doch seit sie auf Mallorca angekommen waren, gab Paul immer wieder den kleinen, fleißigen Schüler, dem etwas ganz Großes gelungen war oder bald gelingen würde. Dass dies ausgerechnet geschah, als sie beide hier alleine waren, beunruhigte Gesa. Er schien etwas im Schilde zu führen und sie hoffte, dass es nichts mit ihr zu tun haben würde. Für mehr als einer Affäre war sie nicht zu haben.

    Gesa war leichtfüßiger und hatte ihn beim serpentinenartigen Aufstieg über den steinigen Pfad bald abgehängt. Die leichte Jacke hatte sie bereits um die Hüften gebunden. Sie schwitzte in der neuen Funktionsunterwäsche, die laut Herstellerangaben alle Feuchtigkeit sofort nach außen transportieren sollte. Ihre karierte Outdoorbluse zeigte dunkle Flecken unter den Achseln. Nach einer halben Stunde erreichten sie den ersten im Wanderführer beschriebenen markanten Punkt, eine Finca, die frisch gepressten Orangensaft anbot. Da schon einige Wanderer um den großen Holztisch saßen, gingen die beiden weiter, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Auch wenn es unwahrscheinlich war, hier auf Bekannte zu treffen, wollten sie kein Risiko eingehen.

    Gesa und ihr Mann hatten ein »Gentlemen-Agreement«. Es war sogar im Ehevertrag festgehalten, was der eigentlichen Bedeutung des Wortes als mündlicher Vereinbarung zuwider lief. Ein umständlich formulierter Paragraph erlaubte es ihnen, außereheliche Beziehungen zu pflegen, dies jedoch nur diskret und nicht in der Öffentlichkeit. Wenn Gesa hier und da mit einem anderen Mann beim Abendessen gesehen wurde, war das in Ordnung. Und wenn ihr Mann wieder einmal eine firmeninterne Affäre pflegte, so hatte auch das keine Auswirkungen auf ihre gut begründete Ehe. Ein gemeinsamer Urlaub mit einem Mitarbeiter ihres Mannes ging jedoch zu weit, da würden Liebe und Agreement aufhören.

    Ihr Mann hatte sie wegen ihres Namens, ihrer Schönheit und ihrer Jugend geheiratet. Ihr Großvater war ein berühmter Dichter gewesen, der Jahr für Jahr als ernst zu nehmender Anwärter auf den Literaturnobelpreis gegolten hatte, ihn jedoch niemals erhielt. Er war in Intellektuellenkreisen geachtet, als es diese noch gab. Hans Sielka, Gesas Mann, sah in der Dichter-Enkelin, deren Vater er hätte sein können, den Glanz jener vergangenen Zeit. Sie war inzwischen der letzte noch lebende Spross dieser in seinen Augen so geistreichen Familie, ein Einzelkind.

    In der Welt der großen Unternehmenslenker galt Sielka bis heute als Schöngeist und Förderer der Kunst – eine Art Ablass für das raue Leben als Entscheider. Positiver Nebeneffekt: Er sparte Steuern – freilich weitaus weniger als durch den von ihm gepflegten Transfer größerer Summen ins Ausland. Die Liebe zur Kultur umgab ihn wie eine unsichtbare Hülle. Sie schuf eine Aura, die jeder, der ihn kennenlernte, spürte – auch die junge Gesa Layenbriefer. Sie war ihm zum ersten Mal auf der Vernissage eines aufgehenden Sterns am Kunsthimmel (der bald darauf verglühte) begegnet und hatte sich in diese Mischung aus männlicher Durchsetzungsmacht und feingeistiger Sensibilität verliebt. Beide waren damals gleichermaßen fasziniert voneinander gewesen, ein Schlüssel-Schloss-Erlebnis.

    Zu diesem Zeitpunkt war Sielka Mitte 40 und in Liebesdingen abgebrüht. Seine erste Frau hatte ihn in der Hochzeitsnacht sitzen lassen. Vielleicht, weil er in der Zeit vor jener Nacht keinen Rock hatte ungehoben lassen können im sicheren Bewusstsein, bald nur noch unter den einen kriechen zu dürfen. Er hatte sich bei der zweiten Ehe keine Illusionen gemacht. Weder Frauen noch Männern war zu trauen und man konnte sich nur auf eines verlassen – das gute alte Vertragsrecht.

    Die damals kaum zwanzigjährige Gesa war demgegenüber sicher, dass der Seitensprung-Paragraph keine Bedeutung haben würde. Sie war verliebt. Obwohl er keinen Zentimeter größer war als sie selbst, hatte sie zu ihm aufgesehen und sich zum Zeitpunkt der Eheschließung alles vorstellen können, nur nicht, jemals wieder einen anderen Mann zu lieben. Noch am Tag der Unterschrift unter den Vertrag hatte sie ihm dies erklärt, und er hatte ihr sanft über das Haar gestrichen, ihr einen Kuss auf die Stirn gegeben und – mit dem Verweis auf die Ungewissheit der Zukunft – den teuren Füllfederhalter in die Hand gelegt. Sie hatte unterzeichnet. Zum ersten Mal mit ihrem neuen Doppelnamen.

    Das war ein unerhörter Vorgang für sie, verabschiedete sie doch etwas, das sie gerade erst gewonnen hatte. Denn eines Tages, sie war 17 oder vielleicht 18 Jahre alt gewesen, hatte sie eine Identität bekommen oder vielmehr: sie war ihr gewachsen. Um sie auszuprobieren, hinterließ sie ihre Signatur auf allem, was sich beschriften ließ, auf der ersten Seite jedes neuen Buchs, das sie erwarb, stand nun ihre Unterschrift ebenso wie einst auf den Schulheften, wie auf den Hüllen der Schallplatten und

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