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Rache für Dina: Kriminalroman
Rache für Dina: Kriminalroman
Rache für Dina: Kriminalroman
eBook567 Seiten7 Stunden

Rache für Dina: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Der Superintendent des evangelischen Kirchenkreises Minden wird ermordet und genital verstümmelt in seinem Büro aufgefunden. Eine aufgeschlagene Bibel verweist auf ein mögliches Motiv - oder auch eine gezielte Irreführung. Kommissar Stefan Keller von der Bielefelder Mordkommission nimmt die Ermittlungen auf. Gemeinsam mit seiner jungen Kollegin, die ihm ein wenig auf die Nerven geht, blicken sie wider Willen in die Abgründe des Kirchenkreises und seiner Gemeinden: verhuschte Jugendreferenten, realitätsferne Theologen, verängstigte Verwaltungsfachangestellte, größenwahnsinnige Presbyter und überall vermeintlich dunkle Geheimnisse. Die erscheinen umso düsterer, als nach uferloser Suche nach einem Ermittlungsansatz der nächste Mord geschieht.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum29. Dez. 2015
ISBN9783738052855
Rache für Dina: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Rache für Dina - Cristina Fabry

    1.Kreiskirchenamt Minden – Superintendentur

    Sie hielt einen Augenblick inne. Die Klinke hatte sie noch in der Hand. Egal, er konnte die Verträge später unterschreiben. Sie musste noch das Protokoll zuende schreiben. Ihre Hand löste sich von der Klinke und sie ging wie ferngesteuert zurück in ihr Büro.

    „Aber er ist doch vor einer Viertelstunde noch da gewesen., dachte sie. „Ach ja. Vermutlich aufs Klo gegangen.

    Sie stellte das Diktaphon wieder an, um das Protokoll abzuschließen, da schoss ihr ein Bild durch den Kopf: ein Fuß. Neben dem Schreibtisch. Derjenige, der zu dem Fuß gehörte, musste dahinter liegen. „Oh Gott!, stöhnte sie und sprang auf. „Er ist zusammengebrochen. Kein Wunder bei dem Stress.

    Sie rannte zurück in das Zimmer ihres Chefs. Als sie durch die Tür stürzte, lag der Fuß immer noch an derselben Stelle. Mit wenigen Schritten war sie hinter dem Schreibtisch. Ihr bot sich ein unfassbares Bild. Es brannte sich augenblicklich in ihr Gedächtnis ein. Und dann schrie sie, so sehr, dass man glaubte, sie wolle das Bild damit fort scheuchen, die Tatsache ungeschehen machen, die Erinnerung auslöschen. Sie sollte es niemals vergessen.

    2. Kreiskirchenamt Minden – Superintendentur

    „Ist die KT schon lange da?, fragte Keller und schüttelte sich den Schnee von der Jacke. „Halbe Stunde vielleicht., entgegnete der junge Polizist, der den Eingang zur Superintendentur sicherte.

    Keller grunzte, statt sich für die Information zu bedanken und betrat den Tatort. Er hatte schon viel gesehen, aber dieser Anblick veranlasste ihn, sich ein Taschentuch vor den Mund zu pressen. Hinter dem Schreibtisch lag eine Männerleiche: ein hagerer Typ, vielleicht Ende Fünfzig. Er lag halb auf der Seite, halb auf dem Rücken, weil die Mord-waffe, die ihm von hinten in den Oberkörper getrieben worden war, noch steckte und so eine entspannte Rückenlage verhinderte. Soweit war der Anblick ganz gewöhnlich. Ungewöhnlich war allerdings, dass man ihn an den Genitalien entblößt und verstümmelt hatte.

    „Kannst du schon was sagen, Konstanze?", fragte er die Medizinerin von der Kriminaltechnik.

    „Todeseintritt vielleicht vor etwa zwei Stunden. Vermutlich wurde er von hinten erdolcht. Er

    war nicht sofort tot, daher das viele Blut. Der Täter hat ihm dann die Hosen herunter gezogen und ihn auf den Rücken gedreht oder zuerst gedreht und dann entblößt und mit einem Teppichmesser das Präputium entfernt."

    „Das was?"

    „Das Präputium, die Vorhaut. Er hat ihn beschnitten, wie in der jüdischen und islamischen Kultur üblich. Er hat das Messer und das Amputat hier fein säuberlich auf dem Schreibtisch arrangiert."

    Keller erblickte ein blutiges, ringförmiges Etwas, sowie ein ebenso blutverschmiertes Teppichmesser effektvoll auf der Seite einer aufgeschlagenen Bibel platziert. Er beugte sich darüber und las: „Genesis – 1. Mose 34. Die Spitze des Messers zeigte auf eine Überschrift: „Die Schandtat an Dina und das Blutbad zu Sichem.

    Er notierte die Bibelstelle. Das klang doch verschärft nach Rachemotiven: Vergewaltigung, Genitalverstümmelung und für den Theologen extra biblisch unterfüttert.

    Keller ging vor die Tür und fragte den jungen Kollegen: „hat schon jemand mit der Person gesprochen, die die Leiche gefunden hat?"

    „Die Kollegen von der Streife. Aber die Frau war ganz aufgelöst. Sie haben ihr erst einmal was zu Trinken besorgt und jemanden geholt, der sie beruhigt."

    „Na ja, an Notfallseelsorgern wird es denen hier ja nicht mangeln. Wo bleibt eigentlich die Kerkenbrock? Die hat das Einfühlsame und Trost Spendende besser drauf als ich."

    „Die hat heute Überstunden frei und ist auch weiter weg gefahren.", antwortete der junge Polizist.

    „Na super., knurrte Keller. „Und wo ist jetzt die Zeugin?

    Der Polizist machte eine Kopfbewegung in die entsprechende Richtung. „Da drin. Schluchzt noch. Hat 'ne Pastorin zum Händchen halten."

    „Na, dann will ich mal. - Ach ja, Name des Toten, Verwandte, Liste mit anderen Zeugen und so weiter hätte ich gern umgehend schriftlich."

    „Ist schon alles in Arbeit."

    Keller nickte anerkennend, klopfte an die Tür und betrat den Raum, in dem Norbert Volkmanns Sekretärin saß und zitternd die Hand einer Pfarrerin hielt.

    „Entschuldigen Sie bitte, Keller trat vorsichtig näher. „Mein Name ist Stefan Keller. Ich ermittle in diesem Fall. Wer von Ihnen beiden hat den Verstorbenen aufgefunden?

    „Ich", schluchzte die Sekretärin mit erstickter Stimme.

    „Und Sie sind..."

    „Elisabeth Attig. Ich bin Verwaltungsfachangestellte und persönlich Herrn Superintendent Volkmann zugeteilt."

    Sie brach wieder in Tränen aus, unfähig, weiter zu sprechen. Keller setzte sich und betrachtete die weinende Frau. Sie war schätzungsweise in den Fünfzigern, trug graue Bundfaltenhosen aus Wollstoff mit Bügelfalte und dazu eine cremefarbene Chiffonbluse mit überdimensionaler Schleife, die ihre gewaltige Oberweite unvorteilhaft überbetonte. Ihr ausladendes Becken stand in einem absurden Missverhältnis zu ihren schmalen Füßen, die in altmodischen Lackpumps steckten. Sonst war sie eher grobknochig und hoch gewachsen. Das vermutlich gefärbte, nussbraune Haar war in einer voluminösen, schulterlangen Betonfrisur erstarrt. Ihr perlrosa Lippenstift, der perfekt zum Nagellack passte, war verschmiert und auch das Augen-Make-up hatte hässliche Ringe gebildet. Tränenrinnsale hatten sich durch die pudrige Tagescreme ihren Weg gebahnt. „Wenn sie sich jetzt selbst sehen könnte, würde sie vor ihrem eigenen Spiegelbild erschrecken.", dachte Keller.

    „Frau Attig, ich weiß, das ist alles sehr schlimm für Sie, aber in einem Mordfall müssen wir so schnell wie möglich ermitteln, nur so haben wir eine Chance, die Umstände aufzuklären. Wann haben Sie Herrn Volkmann zum letzten Mal lebend gesehen?"

    „Etwa eine Viertelstunde bevor ich ihn gefunden habe."

    „Wann genau war das?"

    „Ich weiß nicht. Aber nur wenige Minuten, nachdem ich ihn gefunden habe, hat doch Herr Werner die Polizei gerufen."

    „Also etwa zwanzig Minuten vor dem eingegangenen Anruf. Das grenzt die Tatzeit enorm ein. Frau Attig, haben Sie mitbekommen, dass in dieser Zeit zwischen Ihrer letzten Begegnung mit Herrn Volkmann und dem Moment, wo Sie ihn tot aufgefunden haben, jemand bei ihrem Chef im Zimmer war?"

    Sie schüttelte den Kopf. „Ich war damit beschäftigt, ein Protokoll zu schreiben, das mir Herr Pfarrer Volkmann auf das Diktiergerät gesprochen hatte. Ich habe nichts gehört."

    Keller wandte sich an die Pfarrerin: „Waren Sie zur Tatzeit hier im Haus?"

    Die Pfarrerin schüttelte den Kopf. „Nein, als ich herkam, war Frau Attig schon ganz außer sich, und unser Verwaltungsleiter hat mich gebeten, mich ihrer anzunehmen. Aber auch, wenn ich hier gewesen wäre: Es ist sehr unwahrscheinlich, dass man mitbekommt, wer hier ein- und ausgeht. Das ist hier kein besonders gesichertes Gebäude. Wir sind ja normalerweise kein Ziel für Überfälle oder Anschläge."

    „Aber die Leute, die an der Pforte sitzen..."

    „Die sind viel zu beschäftigt., unterbrach die Pfarrerin ihn. „Sie sitzen zwar an der Pforte, müssen von da aus aber ganz normale Verwaltungsaufgaben erledigen. Jeden Tag ist ein anderes Team dran. Das ist der Fluch der Rationalisierung.

    „Kannten Sie Herrn Volkmann gut?", fragte er die Pfarrerin.

    „Wie man seinen Chef eben so kennt. Das heißt, er war vorher Pfarrer in Hartum, da sind wir uns gelegentlich bei der Pfarrkonferenz begegnet. Aber ich hatte kaum Kontakt zu ihm; ich bin Pfarrerin in Neesen und Lerbeck, ganz andere Richtung, sie räusperte sich, „auch theologisch.

    „Sagen Sie mir auch Ihren Namen?", bat Keller sie.

    „Margarethe Vormbrock."

    Keller bedankte sich. „Das war's fürs Erste. Ich werde aber sicher noch mehrfach auf Sie zukommen. Das heißt, warten Sie, hat eine von Ihnen zufällig einen Verdacht oder eine Idee, um welches Motiv es sich handeln könnte?"

    „Unsinn!, stieß Frau Attig hervor. „Er war ein herzensguter Mensch, ein ganz wunderbarer Vorgesetzter und er hat so hart gearbeitet.

    „Also einen konkreten Verdacht habe ich auch nicht., setzte Frau Vormbrock hinzu. „Aber Motive gab es wohl eine Menge. In einem Kirchenkreis geht es ja auch immer um Verteilung von Geld, Durchsetzung neuer Ideen, Wahrung von Privilegien. Na ja, und ein Chef stößt selten nur auf Gegenliebe. Manche Kollegen sind nicht besonders gut auf ihn zu sprechen und auch die Nicht-Theologen unter den kirchlichen Mitarbeitern hatten schon die eine oder andere heftige Auseinandersetzung mit ihm.

    „Könnten Sie da etwas konkreter werden?", fragte Keller interessiert.

    „Ach, da gibt es in jeder Gemeinde irgendwelche Ärgernisse. Bei uns war es beispielsweise der Küster, der mit ihm auf Kriegsfuß stand. Nicht, dass er persönlich mit ihm aneinander geraten wäre, aber er schimpfte oft auf die Kirchenkreis-Leitung, weil von dort neue Richtlinien heraus gegeben worden waren, Zeitbudgetierung für Küsteraufgaben. Unser Küster hat neben den Gemeindehäusern und Kirchen in Neesen und Lerbeck auch noch einen Teil der Pflege der Außenanlagen in Meißen dazu bekommen. Da, wo Küster ausscheiden, wird nicht wieder besetzt und die Arbeit statt dessen auf die verteilt, die noch im Amt sind. Gehalt und Gesamt-Zeitkontingent bleiben aber unverändert. Das verursacht natürlich Stress und macht die Leute unzufrieden."

    „Aber glauben Sie, dass jemand wegen so etwas töten würde?", fragte Keller ungläubig.

    „Kennen Sie die Abgründe der menschlichen Seele?, gab Frau Vormbrock zu bedenken. „Allerdings halte ich unseren Küster für in höchstem Maße unverdächtig. Der hätte gar nicht die Zeit gehabt, heute hier her zu kommen. Und es fehlt ihm wohl auch die blutige Ader für so ein obszönes Verbrechen, wenn Sie verstehen, was ich meine.

    „Ich denke schon., antwortete Keller. „Tja, dann auf Wiedersehen und wie gesagt, Sie hören noch von mir.

    3. Neesen, Porta Westfalica

    Eine Mischung aus Schweiß und Regentropfen floss an Jens Carstensens Körper herab, als er die Haustür aufschloss. Bei diesem Wetter machte nicht einmal das Joggen Spaß. Schneeregen im April. Da hätte er auch gleich in Flensburg wohnen bleiben können. Aber Porta Westfalica war ja auch nicht gerade die Toskana. Nicht einmal mit dem milden Klima des Rheintals konnte der berühmte Weserbogen mithalten. Im Gegenteil: hinter dem Wiehengebirge begann die norddeutsche Tiefebene und die war im Prinzip der Wurmfortsatz Ostfrieslands. Wenn man im malerischen Bergkirchen den Kamm aus Richtung Bad Oeynhausen kommend überschritten hatte und sich in Serpentinen am Nordhang herab schlängelte, war man nicht sicher, ob es sich bei dem, was da vor einem lag um Festland oder von der Ebbe frei gelegte Salzwiesen handelte.

    Der Anrufbeantworter blinkte. Jens Carstensen unterdrückte den Impuls, sich wie ein Hund zu schütteln, streifte statt dessen die Schlamm-verkrusteten Laufschuhe ab und eilte ins Bad, um die nassen Kleidungsstücke los zu werden und Schweiß, Schmutz und Verspannung unter einer heißen Dusche fortzuspülen. Als er sich abgetrocknet und frische Kleidung angezogen hatte, fühlte er sich bedeutend wohler und war bereit, der Ursache für das penetrante Blinken seines Anrufbeantworters auf den Grund zu gehen. Es war Margrets Stimme: „Hallo Jens, hier ist Margret. Du musst mich unbedingt sofort zurückrufen, auf dem Mobiltelefon. Es ist dringend."

    Was war denn da schon wieder passiert? Es war doch gar nicht Margrets Art, nicht zu sagen, worum es ging. Er drückte die passende Kurzwahltaste und nach zwei Klingelzeichen nahm die Pfarrerin ab. „Jens? Bist du das?"

    „Ja klar. Was ist denn so eilig, dass du es so spannend machst?"

    „Am besten, du setzt dich erst mal hin."

    „Oh Gott! Ist einer gestorben?"

    „Allerdings."

    Jetzt setzte Jens sich augenblicklich auf den bequemen Sessel, der neben dem Telefon stand. Er erwartete das Schlimmste, was sich dadurch bemerkbar machte, dass ein Großteil seines Blutes in seine Beine sackte, seine Arme sich ganz kraftlos anfühlten und ein leichter Schwindel sich seiner bemächtigte.

    „Also los., stieß er heiser hervor. „Ich höre.

    „Jemand hat Volkmann ermordet."

    „Was?" Jens spürte eine seltsame Regung aus Entsetzen und Erleichterung in sich aufsteigen. Entsetzen über die Ungeheuerlichkeit eines Mordes und gleichzeitig Erleichterung darüber, dass es niemanden getroffen hatte, der ihm am Herzen lag.

    „Ich komme eben aus dem Kreiskirchenamt. Frau Attig hat ihn gefunden. Er lag mit einem Messer im Rücken in seinem Blut und jemand hat ihm die Hosen herunter gezogen; und was ich aus dem Gestammel von Frau Attig entnehmen konnte, muss der Mörder auch im Genitalbereich ans Werk gegangen sein, da war wohl auch alles voller Blut."

    Nach einer kurzen Pause betroffenen Schweigens fragte Jens ungläubig: „Wer kastriert denn Volkmann und warum?"

    „Woher soll ich das wissen?, antwortete Margarethe Vormbrock. „Ich kann mir auch kaum vorstellen, dass eine wütende Feministin ihn kastriert hat. Er war ja nicht gerade ein Frauenheld und sexuelle Gewalt traue ich ihm eigentlich auch nicht zu.

    „Wer weiß das schon.", wandte Jens Carstensen ein.

    „Ach Unsinn!, wies Margarethe Vormbrock ihn zurück. „Er war ein manipulativer, machthungriger Despot, ich hielt ihn für einen im Herzen säkularisierten Pseudo-Theologen, und es wundert mich nicht im Geringsten, dass er einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist. Aber ich schätze, sexuell hat er sich zu Hause ausgetobt.

    „Vielleicht wollte der Mörder die Polizei nur irreführen, und es gab gar keinen Grund, ihn da unten zu verstümmeln. Aber mal im Ernst, wer tut so was? Wer von den Leuten, die wir kennen, ist so kaltblütig, einen so brutalen Mord durchzuziehen?", fragte Jens Carstensen sie.

    „Oder so unendlich wütend.", ergänzte Margarethe Vormbrock.

    4. Nordhemmern

    Katharina Förster zwang sich, endlich aufzustehen. Es war bereits elf Uhr und sie hätte zwar gern noch etwas vor sich hin gedöst, aber die Aufgaben dieses Tages lagen wie der Inhalt eines großen auszumistenden Stalles vor ihr. Sie hatte gestern Abend die Türklingel abgestellt, das Festnetztelefon ausgestöpselt und das Mobiltelefon ausgeschaltet. Daran würde sie auch in den nächsten zwei Stunden nichts ändern.

    „Kein Geschrei vor zwei.", murmelte sie und schleppte sich unter die Dusche. Blitzsauber und angezogen rührte sie sich ein Müsli zusammen und setzte Teewasser auf. Wenn man in ihrem Beruf auch häufig an Junkfood oder anderen vitaminarmen, unregelmäßigen, schnell-mal-eben-was-reinschieben-Mahlzeiten nicht vorbei kam, wollte sie wenigstens gesund in den Tag starten. Da durfte auch die obligatorische Kanne grüner Tee nicht fehlen, um die Leber bei der Erholung von gelegentlichen Rotwein-Exzessen zu unterstützen.

    Katharina Wehmeier war nicht dick, aber auch nicht gerade gertenschlank und sie sah immer ein wenig erschöpft aus, so dass sie drohte, vor der Zeit zu altern. Sie las beim Frühstück die Zeitung, spülte ihr Geschirr und setzte sich dann an den Schreibtisch. An diesem Abend traf sie sich mit dem Mitarbeiterkreis in Bergkirchen und betreute anschließend die Öffnungszeit des Jugendcafés.

    „Hoffentlich liegt heute Abend kein Schnee mehr da oben., stöhnte sie. Das Dorf lag auf dem Wiehengebirgskamm und bestand hauptsächlich aus schmalen, steilen und kurvigen Straßen und Einfahrten. Da waren auch Winterreifen keine Garantie für Sicherheit im Straßenverkehr. Andererseits war sie froh, dass sie den gestrigen Mitarbeiterkreis in der Gemeinde Hille für die nächsten zwei Wochen hinter sich hatte. Sie verabscheute diese unangenehme Mischung aus biblizistischer Frömmigkeit und selbstgerechtem Spießbürgertum, die ihr da entgegenschlug. Und die Hiller verabscheuten sie. Für ihre Schludrigkeit, für die gesellschaftlich relevanten Themen, mit denen sie sie immer wieder belästigte, für ihre theologische Unverfrorenheit und vor allem dafür, dass sie mit fast dreißig Jahren noch nicht in geordneten Verhältnissen lebte, sondern die Gelegenheit hatte, ein sexuell ausuferndes Lotterleben zu führen, das sich leider der Kontrolle durch die Hiller weitestgehend entzog, weil sie im fünf Kilometer entfernten Nordhemmern lebte. Katharina Förster hätte gegen ein solches Lotterleben mit gelegentlich wechselnden Sexualpartnern durchaus nichts einzuwenden gehabt, aber sie schaffte es ja nicht einmal, einen einzigen halbwegs attraktiven jungen Mann an ihrem Leben teilhaben zu lassen. „Wie denn auch, dachte sie, „wenn man immer nur mit Teenies oder Rentnern rumhängt."

    Jetzt machte sie sich allerdings an die Vorbereitung des Mitarbeiterkreises. Die Tagesordnung stand in fünf Minuten, das Material (Infozettel, Plakate, Ausschreibungen) war in weiteren fünf Minuten zusammengestellt, aber die Andacht für die Einstimmung stand noch nicht. Die Bergkirchener waren offen und experimentierfreudig, auch wenn sie durchweg gemütliche Kuschel-Jugendliche waren. Hier schien die gute alte Zeit der beige-braunen Teestuben noch gegenwärtig.

    In Hille hatte sie nur einen Text aus einer CVJM-Arbeitshilfe gelesen, gesungen, gebetet, einen Segen gesprochen.

    In Bergkirchen konnte sie sich auch methodisch auf das Thema einlassen: Passionszeit, Fastenzeit oder einen Aspekt der Passionsgeschichte. Am Ende entschied sie sich für die Fußwaschung. Sie würde einem Mitarbeiter die Füße waschen und mit Duftöl massieren und der sollte diese Erfahrung an einen anderen weitergeben, so dass am Ende alle einen solchen Dienst erwiesen bekommen hätten. Nach einem kurzen Erfahrungsaustausch, wie man sich als Empfangender und wie als gebender fühlt, würde sie mit den Ehrenamtlichen den Bibeltext von der Fußwaschung lesen und ein Gespräch anschließen, worin der Unterschied besteht zwischen gegenseitigem Dienen und der aktuellen Wirklichkeit. Sie würde mit einem gemeinschaftlichen Fürbittengebet abschließen und ein Segenslied singen, das die Jugendlichen sich aussuchen dürften.

    Ja, wenn jeder das Wohlergehen seiner Mitmenschen im Blick hätte, dachte Katharina Förster, das wäre schon toll. Wenn es zumindest in der Kirche so wäre, dann gäbe es wenigstens einen Zufluchtsort, eine Höhle, eine Insel, welches Bild auch immer man dafür fand. Aber es war doch überall dasselbe und die Kirche war ein perfektes Abbild der Gesellschaft. Irgendwo gab es immer einen Bösen, der alle drangsalierte, skrupellose Täter und Trittbrettfahrer, hilflose Opfer, Mitläufer, Verzweifelte und wütende Rächer. Manchmal fragte Katharina sich, ob das jüngste Gericht nicht schon längst stattgefunden hatte und sie sich bereits in der Hölle befand. Im himmlischen Jerusalem tummelten sich die Erleuchteten, während sie mit den anderen räudigen Sündern vor den Toren der Stadt heulte und mit den Zähnen klapperte. Endlosschleife irdisches Leben. Aber das war jawohl eher die buddhistische Hölle.

    13.22 Uhr. Vielleicht sollte sie mal wieder das Telefon einstöpseln. Kaum war der Stecker in der Leitung, da läutete es auch schon.

    „Hallo, hier ist Katharina Förster."

    „Kathi! Ich versuche schon seit Stunden, dich zu erreichen. Hier ist Kai-Uwe. Wo hast du gesteckt?"

    „Bett, Dusche, Küche, Schreibtisch. Ich wollte meine Ruhe. Was gibt’s denn so Dringendes?"

    „Volkmann ist tot."

    „Du verarscht mich doch."

    „Nee, ehrlich. Der ist ermordet worden."

    Katharina schwieg einen Moment, dann sagte sie: „Und ich dachte immer, 'Mein ist die Rache, spricht der Herr'":

    5. Minden – Hahlen

    Keller parkte seinen Wagen am Straßenrand gegenüber des Einfamilienhauses aus den 80er Jahren. Es handelte sich um ein kompaktes, großzügiges Gebäude, schnörkellos, sandfarben verklinkert mit braunen Türen und Fensterrahmen und dunklen Dachziegeln. Der Vorgarten wirkte steril: gepflegte Rasenflächen, eine niedrige Buchsbaumhecke als Grundstücksbegrenzung. Die Garagenzufahrt und der Zugang zur Haustür waren mit Verbundpflaster befestigt. Anstelle von Beeten war das Gebäude von schmalen Kiesbecken umrahmt, und rechts und links der Eingangstür standen Terracotta-Töpfe, deren Bepflanzung mit Frostschutzsäcken verhüllt war.

    „Volkmann" war auf dem schlichten Messing-Klingelschild zu lesen. Er hatte sich also nicht in der Adresse geirrt. Keller läutete und musste eine Weile warten, bis sich drinnen etwas rührte.

    Eine zierliche, unscheinbare Frau öffnete die Tür und blickte ihm skeptisch und äußerst vorsichtig entgegen.

    „Frau Volkmann?", fragte Keller vorsichtig.

    „Das ist ja nicht allzu schwer zu erraten.", antwortete sie säuerlich. Sie schien ihn für einen unseriösen Klinkenputzer zu halten. Er zog seinen Ausweis aus der Manteltasche.

    „Mein Name ist Stefan Keller. Ich arbeite für die Kriminalpolizei Bielefeld. Könnten wir uns kurz unterhalten?"

    „Ja, worum geht es denn?", fragte Frau Volkmann alarmiert.

    „Mir wäre es lieber, sie würden sich erst setzen.", antwortete Keller.

    Frau Volkmann griff sich an den Hals. „Was ist passiert?, stieß sie mit erstickter Stimme hervor. „Sagen Sie mir sofort, was passiert ist!

    „Bitte, Frau Volkmann, insistierte Keller, „ich bestehe darauf, dass Sie sich setzen.

    Sie trat einen Schritt von der Tür zurück. „Kommen Sie doch rein.", bat sie ihn. Er schloss die Tür hinter sich und sie ging voran ins Wohnzimmer. Ihr Gang wirkte unsicher und sie setzte sich langsam und vorsichtig in die Ecke eines Zweisitzers, so als befürchte sie, durch eine ihrer Bewegungen etwas zu zerbrechen.

    „Nehmen Sie doch bitte auch Platz.", sagte sie zu Keller und wies mit einer Handbewegung auf einen Sessel.

    Keller setzte sich, räusperte sich und sagte dann mit gebotenem Ernst: „Frau Volkmann, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Mann heute Vormittag ums Leben gekommen ist."

    Mit schreckgeweiteten Augen nahm sie die Hand vor den Mund und sog scharf die Luft ein. „Aber wie – wie kann er", stammelte sie, ohne den Satz zuende zu bringen.

    „Er ist in seinem Büro ermordet worden."

    „Ermordet?!"

    Keller reichte Frau Volkmann ein Taschentuch. „Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?, fragte er teilnahmsvoll.

    „Nicht nötig.", sagte sie tonlos.

    „Frau Volkmann, ich würde Ihnen gern Zeit lassen, diese furchtbare Nachricht eine Weile sacken zu lassen, bevor ich Sie befrage. Aber um die unfassbare Tat an ihrem Mann aufzuklären, brauche ich so schnell wie möglich so viele Informationen wie möglich. Könnten Sie mir bitte genau beschreiben, was heute Vormittag passiert ist? Jedes scheinbar unbedeutende Detail könnte wertvolle Hinweise enthalten."

    „Heute morgen.", sagte Frau Volkmann mehr zu sich selbst, und ihr leerer Blick schien haltlos, als finde sie keinen Ansatzpunkt, um ihre Erinnerung zeitlich strukturiert wiederzugeben.

    „Wir sind um sieben Uhr aufgestanden., fing sie an. „Mein Mann ging ins Bad, ich habe Frühstück gemacht und die Zeitung herein geholt.

    „Haben Sie beim Hereinholen der Zeitung irgend etwas Außergewöhnliches beobachtet?"

    Sie schüttelte den Kopf. „Nein., sagte sie. „ich habe allerdings auch nicht auf die Umgebung geachtet. Das mit der Zeitung ist ja auch nur ein Handgriff und ich stehe nicht minutenlang im Morgenrock in der offenen Haustür, wie sie sicher verstehen werden.

    „Natürlich.", bestätigte Keller sie.

    „Gegen zwanzig nach sieben kam mein Mann aus dem Bad und wir frühstückten. Dabei haben wir Zeitung gelesen. Er liest zuerst den überregionalen Teil und ich den Lokalteil, dann tauschen wir. Es stand heute nichts Besonderes drin und wir haben uns über Belanglosigkeiten unterhalten, Europas Königshäuser, davon war die Klatschspalte heute voll."

    „Hat Ihr Mann erwähnt, ob er heute ein wichtiges Gespräch hatte?"

    „Heute Nachmittag sollte er zu einem Gespräch mit der Mitarbeitervertretung erscheinen. Irgendeine Personalangelegenheit. Es war ihm lästig, aber er hat sich nicht näher dazu geäußert."

    „Noch etwas?", fragte Keller, der sich bereits eifrig Notizen machte.

    Frau Volkmann überlegte. „Nein, wir sprachen nur über den am Wochenende anstehenden Besuch unserer Tochter. Sie schluchzte auf und stieß kaum verständlich unter Tränen hervor: „Wie soll ich ihr nur beibringen, dass ihr Vater tot ist? Ermordet!

    Keller schwieg betroffen, reichte Frau Volkmann ein weiteres Taschentuch und wartete, bis sie sich einigermaßen beruhigt hatte. Dann fragte er: „Lebt Ihre Tochter nicht mehr bei Ihnen?"

    „Nein, sie studiert seit zwei Jahren Kunstgeschichte in München. Wir sehen uns daher nur selten. Zuletzt war sie über Weihnachten bei uns und wir haben sie an einem Wochenende im Februar besucht."

    „Worüber haben Sie beim Frühstück noch gesprochen?", fragte Keller.

    „Nichts weiter, antwortete Frau Volkmann. „Mein Mann hat sich zuende angezogen, seine Unterlagen zusammen gesucht und gegen 8.15 Uhr das Haus verlassen.

    „Haben Sie ihn noch zur Tür begleitet?"

    „Nein, ich war im Bad. Danach habe ich die Küche aufgeräumt, eine Maschine Wäsche eingesteckt und dann war ich zum Einkaufen im großen Supermarkt an der Königstraße."

    „Wann war das ungefähr?"

    „So zwischen 9.30 Uhr und 11.00 Uhr."

    Haben Sie im Supermarkt jemanden getroffen?"

    „Nein. Wieso? Was hat das denn mit dem Mord an meinem Mann zu tun?"

    „Reine Routinefrage. Was taten Sie, als Sie wieder hier waren?"

    Ich habe den Einkauf ausgepackt und bin dann angefangen, unseren Kleiderschrank gründlich auszumisten. Ich war noch dabei, als Sie klingelten."

    „Verstehe, erwiderte Keller. „Frau Volkmann, hatte Ihr Mann irgendwelche Feinde?

    „Ach, wissen Sie, antwortete sie, „als Vorgesetzter tritt man immer irgendwem auf den Schlips. Es gab viele Konflikte – schon bevor er Superintendent wurde – aber natürlich viel mehr, seit er im Amt ist. Es gibt Pfarrer, denen sein Führungsstil nicht gefällt, andere kritisieren seine theologische Ausrichtung in aller Schärfe. Wir sind hier in Minden Ravensberg. Hier spürt man noch die Erweckungsbewegung. Mein Mann war ein moderner Theologe, zumindest ein nüchterner. Er hatte auch konservative Züge, aber er war ein sehr sachlicher und wissenschaftlich orientierter Mensch. Naja, und dann hatte er öfter Ärger mit den anderen kirchlichen Mitarbeitern. Vieles muss umstrukturiert werden. Die Mittel werden knapper. Da kann man nicht tatenlos zusehen und warten, bis alles zusammenbricht. Aber wer versucht, grundlegende Veränderungen durchzusetzen, stößt bei den Alteingesessenen natürlich auf Widerstand. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass man seinen Vorgesetzten aus so einem Grund tötet. Sie hielt kurz inne und fing dann wieder an zu weinen. „Aber ich habe mir auch nicht vorstellen können, dass ihn überhaupt irgend jemand tötet."

    „Frau Volkmann, ich brauche dringend eine Liste Ihrer Freunde und Verwandten, am besten mit Anschrift und Telefonnummer. Haben Sie irgendwo ein vollständiges Adressbuch?"

    Sie nickte und stand schon auf, um es zu holen.

    „Warten Sie einen Augenblick. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich mir gern das Arbeitszimmer Ihres Mannes ansehen. Ich muss mir ein Bild von ihm machen."

    „Kein Problem.", sagte sie, und führte Keller in Volkmanns Arbeitszimmer.

    Für einen Mann in einer derart mächtigen Position wirkte das Zimmer sehr nüchtern und wenig beeindruckend. Nichts war hier mit Bedacht ausgewählt, nirgends entdeckte man persönliche Akzente. Gegenüber der Tür befand sich ein großes Fenster, an dem der Schreibtisch stand, so platziert, dass das Tageslicht von der Seite auf den Arbeitsplatz fiel. Der Schreibtisch war schlicht, aus heller Eiche, darauf stand eine praktische Lampe, eine Schreibtischunterlage und die üblichen Utensilien. Ein paar Ablagefächer waren auf einer Seite gestapelt, darin lagen Einladungen zu Ausschuss-Sitzungen, Protokolle und so weiter. Er bat Frau Volkmann, die Papiere mitnehmen zu dürfen, sie bekäme sie umgehend zurück.

    An Volkmanns Arbeitsplatz stand ein solider Schreibtischstuhl, ihm gegenüber zwei weiße Leder-Schwingstühle. An den Wänden rechts und links befanden sich einfache Regale aus weiß beschichteten Spanplattenböden, die mit Metallwinkeln an der Wand befestigt waren. Links vorn im Zimmer stand ein mittelgroßer, runder Tisch, bedeckt mit einer hellen, naturfarbenen Tischdecke, passend zum Teppichboden. Um den Tisch herum standen ebenfalls vier von den weißen Schwingstühlen. Die Fensterbank war mit einem üppig belaubten Ficus Benjamini bestückt, an der Innenseite der Tür war ein großflächiger Terminplaner angebracht und links neben der Tür schmückte die Radierung einer Kirche die Wand. Keller betrachtete sie. Frau Volkmann trat neben ihn: „Das war ein Geschenk, das unsere Tochter ihrem Vater zum 50. Geburtstag gemacht hat. Es stellt die Hartumer Kirche dar. Miriam war damals fünfzehn und schon so begabt."

    Keller verstand nichts von Kunst, aber das Bild sah in jedem Fall sehr professionell aus. Er nickte anerkennend.

    „Tja, Frau Volkmann, das war's fürs Erste. Ich werde sicher noch häufiger auf Sie zukommen. Sie werden vermutlich im Tagesverlauf noch gebeten, in die Gerichtsmedizin zu kommen, um ihren Mann zu identifizieren. Wenn Ihnen aber vorher etwas einfällt, können Sie mich jederzeit anrufen. Er reichte ihr seine Karte. „Kann ich irgend etwas für Sie tun?

    „Können Sie mir sagen, wie mein Mann gestorben ist?"

    „Das darf ich leider noch nicht., bedauerte Keller, „aber es ist in jedem Fall sehr schnell gegangen.

    Ihre Schultern zitterten schon wieder.

    „Soll ich Ihnen jemanden schicken, damit Sie nicht allein sind?"

    „Nein., erwiderte Frau Volkmann. Ich muss das jetzt erst einmal verarbeiten, da bin ich lieber allein. Aber vielen Dank für Ihre Anteilnahme.

    „Nicht der Rede wert., brummelte Keller und sagte dann: „Ich finde allein raus. Auf Wiedersehen.

    „Kerkenbrock, du Drückebergerin!", zischte er, als er wieder draußen war. Er bahnte sich durch den matschigen Schnee einen Weg zu seinem Fahrzeug und fuhr zum Mittagessen in einen Schnellimbiss.

    6. Kreiskirchenamt Minden

    Jens Carstensen stand vor der Bürotür der Mitarbeitervertretung und suchte in seinem rasselnden Schlüsselbund nach der passenden Nummer. Das erwies sich immer als äußerst schwierig, weil er allein über sechs Schlüssel für Räumlichkeiten des Kreiskirchenamtes verfügte, die alle identisch aussahen und sich nur durch die Endziffer der Schlüsselnummer unterschieden. Die handelsüblichen Unterscheidungshilfen kamen für ihn nicht infrage, weil sie das voluminöse Metallarrangement noch monströser erscheinen lassen hätten. Schließlich öffnete er die Tür, hängte seine Jacke an die Garderobe und blätterte die Post durch, die auf dem Schreibtisch lag. Er konnte überhaupt nicht einschätzen, welchen Verlauf das für gleich geplante Gespräch nehmen würde. Er hatte mit vielem gerechnet, nur nicht mit dem gewaltsamen Tod des Superintendenten. Er ging in die Teeküche, um Heißgetränke für die Sitzung zu bereiten, stellte Tassen, Löffel, Milch, Zucker und ein paar Plätzchen auf ein Tablett und wartete gedankenverloren auf das Klicken des Kippschalters am Wasserkocher. Er hatte sich immer gewünscht, dass Norbert Volkmann abgesetzt würde, aber jetzt war natürlich die Frage, wer danach kam. Sebastian Reimler hatte aufgrund seines Postens als Assessor nun die einmalige Chance, sich als vorläufiger Superintendent zu beweisen und sich schließlich zu Beginn der nächsten Legislaturperiode wählen zu lassen. Ohne diese Fügung hätte er kaum eine Chance; niemand traute ihm dieses Amt zu. Und so wie Jens Carstensen ihn einschätzte, wäre er kein Segen für den Kirchenkreis, schon gar nicht für die Jugendarbeit.

    „Hallo Jens., eine gutaussehende Frau in den Vierzigern betrat die Teeküche. Jens Carstensen drehte sich um. „Ach Hallo, Regina. Du bist aber überpünktlich.

    Regina Heuer grinste. „Ich musste noch ein paar Spezialanschaffungen fürs Osterbasteln tätigen, damit die lieben Kleinen auch die Herzen ihrer Eltern erfreuen können. Ging schneller, als ich dachte."

    „Hast du eigentlich schon gehört, was hier heute Morgen passiert ist?", fragte Jens Carstensen.

    „Nein. Wieso? Gab's Bombenalarm?"

    „Nein. Volkmann ist ermordet worden."

    „Was?, rief Regina Heuer. Dann stand sie einfach nur da mit großen Augen und offenem Mund. Als sie sich wieder gesammelt hatte, fragte sie: „Und? Weiß man schon wer's war?

    „Nein., erwiderte Jens Carstensen, „Er ist ganz stickum in seinem Büro erstochen worden, und keiner hat etwas gemerkt.

    „Wie schrecklich.", sagte Regina Heuer.

    „Im Prinzip schon., bemerkte Jens Carstensen. „Aber es eröffnen sich jetzt natürlich ganz neue Perspektiven.

    „Bist du sicher?, gab Regina zu bedenken. „Reimler sitzt doch sicher schon in den Startlöchern. Am Ende wird’s noch schlimmer, als es sowieso schon war.

    „Das habe ich allerdings auch schon gedacht., gab Jens zu und füllte das kochend heiße Wasser in eine Thermoskanne. Regina stellte eine Box mit Teebeuteln aufs Tablett und sagte: „Den Kaffee können wir ja später holen, die Maschine braucht sicher noch ein paar Stunden.

    Jens trug das Tablett und Regina öffnete ihm die Türen. Im MAV-Zimmer saßen schon drei Kollegen: Der Küster der Mariengemeinde, Siegfried Wischmeier, die Gemeindebüro-Leiterin Ursula Koch aus Dankersen

    und der Kantor Friedrich Ortmann, ebenfalls Mariengemeinde. Regina Heuer leitete den Arche-Noah-Kindergarten in der Mindener Innenstadt, und um die Angelegenheiten zweier ihrer Mitarbeiterinnen ging es heute Nachmittag.

    „Der Kaffee braucht noch ein bisschen., sagte Jens Carstensen. „Über den aktuellsten Vorfall seid ihr alle informiert?

    „Wenn du das tragische Dahinscheiden unseres geliebten Superintendenten meinst, ja, wir wissen alle Bescheid.", erwiderte Friedrich Ortmann.

    „Die Frage ist, ob wir unter diesen Umständen überhaupt noch etwas zu besprechen haben.", gab Ursula Koch zu bedenken.

    „Naja, diese widerwärtige Personalpolitik geht sicher nicht allein auf Volkmanns Konto., widersprach Regina Heuer. „Wenn wir jetzt nichts unternehmen, fährt Reimler diese Linie weiter. Volkmanns Tod war ja kein selbst gewähltes Opfer. Jemand war richtig sauer auf ihn.

    „Oder er war jemandem im Weg.", sagte Ursula Koch.

    „Der Assessor., stieß Jens Carstensen über akzentuiert hervor. „Super Krimi-Titel.

    „Jetzt werden wir aber etwas pietätlos.", mahnte Friedrich Ortmann.

    „Ja, aber nur ein bisschen.", beschwichtigte ihn Siegfried Wischmeier.

    Regina Heuer legte einen Stapel Papiere auf den Tisch. „Ich finde, wir sollten nicht locker lassen. Meine Mitarbeiterinnen haben beide ein Protokoll der Vorfälle angefertigt und unterschrieben. Soll ich euch das mal vorlesen?"

    Alle Anwesenden nickten zustimmend.

    Am Dienstag, den 8.10.2013 bat mich Herr Superintendent Norbert Volkmann zu einem Gespräch ins Kreiskirchenamt. Er teilte mir mit, alle Mitarbeiterinnen, die weniger als fünf Jahre bei einer Gemeinde des Kirchenkreises beschäftigt seien, bekämen jetzt neue Verträge, und ich solle bitte unterschreiben. Auf meine Frage, was denn an dem Vertrag anders sei, erwiderte er, ich würde in eine neue Gehaltsgruppe eingeordnet. Auf meine Frage, wie sich das effektiv auf mein Gehalt auswirken würde, erwiderte er, so genau wisse er das nicht, es würde sich aber nur geringfügig verändern. Ich bat mir Bedenkzeit aus. Er sagte daraufhin wörtlich: 'Sie müssen das unterschreiben, Sie haben gar keine andere Wahl. Es sei denn... es steht Ihnen selbstverständlich frei, jederzeit unseren Betrieb zu verlassen.'

    Ich weigerte mich dennoch und sagte, dass ich die Unterlagen zur Überprüfung mit nähme und mich noch im Laufe der Woche bei ihm melden würde. Darauf antwortete er wörtlich: 'Sie werden schon sehen, was Sie davon haben.'"

    „Mehr Geld.", unterbrach Jens Carstensen die Lesung und alle lachten.

    Regina Heuer fuhr fort: „Nachdem ich mich von der Gehaltsabrechnungsstelle beraten lassen habe, fiel mir auf, dass sich mein Einkommen durch diesen neuen Vertrag um etwa 200 Euro verringern würde. Ich schaltete die MAV ein, die mir bestätigte, dass nichts und niemand mich zwingen könne, diesen Vertrag zu unterschreiben. Ich unterschrieb nicht und brachte Herrn Volkmann die Unterlagen zurück. 'Das wird noch ein Nachspiel haben'., sagte dieser nur. Danach ist nichts weiter geschehen."

    „So und jetzt das zweite Protokoll.", fuhr Regina Heuer fort.

    Am Donnerstag, den 10.10.2013 wurde ich zum Superintendenten in sein Büro im Kreiskirchenamt bestellt. Er legte mir einen Stapel Papiere vor mit den Worten:' Als Mitarbeiterin, die weniger als fünf Jahre bei uns beschäftigt ist, werden sie neu eingruppiert und müssen daher diese neuen Verträge unterschreiben. Das ist nur eine Formsache. An ihrem bisherigen Arbeitsverhältnis ändert sich nichts. Wenn Sie bitte zuerst hier unterschreiben würden.'

    Er hielt mir einen Stift hin und zeigte auf das Unterschrift-Feld für die Mitarbeiterin. Ich wies ihn darauf hin, dass sich mit diesem Vertrag sehr wohl etwas ändere, nämlich das Gehalt und dass ich nicht bereit sei, freiwillig und ohne jede rechtliche Grundlage auf 200 Euro monatlich zu verzichten. Er wurde daraufhin laut und antwortete, dass meine Kenntnis der rechtlichen Zusammenhänge jeglicher Grundlage entbehre und dass meine Verweigerung der Unterschrift weitreichende Konsequenzen für mich hätte. Auf meine Frage, was für Konsequenzen das seien, erhielt ich keine Antwort. Ich fragte, ob ich an meinen Arbeitsplatz zurückkehren dürfe und Herr Volkmann antwortete: „Vorläufig ja. Wir hören sicher noch voneinander.'

    Seitdem ist nichts mehr vorgefallen."

    Regina Heuer ließ das Papier sinken.

    „Gab es noch Fälle, in denen Mitarbeiterinnen sich haben breitschlagen lassen?", fragte Friedrich Ortmann.

    „Soweit ich weiß, haben zwei Kolleginnen aus anderen Einrichtungen widerspruchslos unterschrieben, aber sie wollen nicht drüber reden."

    „Angst vorm bösen Wolf:", bemerkte Jens Carstensen.

    „Ja, aber der Wolf ist tot.", gab Ursula Koch zu bedenken.

    „Sie haben ja jetzt nichts mehr von Volkmann zu befürchten. Vielleicht sollten wir sie noch einmal ansprechen."

    „Da hängen aber noch mehr Strippenzieher drin als Volkmann., widersprach Jens Carstensen. „Reimler fährt garantiert auf demselben Gleis und wenn ich mich von Volkmann einschüchtern lassen würde, hätte ich vor Reimler erst recht Angst.

    „Das sind wohl auch generell so kleine Mäuschen, die nur bloß keinen Ärger wollen. Ich frage mich auch, ob die Dunkelziffer nicht noch viel höher ist.", bemerkte Regina Heuer.

    „Können wir nicht die Personalabteilung um die aktuellen Zahlen bitten?, fragte Siegfried Wischmeier. „Die wissen doch, wer in welche Gehaltsgruppe eingestuft ist und seit wann.

    Ich weiß nicht, ob die die Informationen einfach so weiter geben dürfen.", überlegte Ursula Koch.

    „Fragen kostet ja nichts.", entgegnete Siegfried Wischmeier.

    „Na gut. Ich kann mich ja mal erkundigen.", lenkte Frau Koch ein.

    „Das beantwortet aber nicht die Frage nach unserer weiteren Strategie.", insistierte Jens Carstensen.

    „Im Prinzip müssten wir eine Mitarbeiterversammlung einberufen und vor der Lohndumping-Praxis warnen.", schlug Siegfried Wischmeier vor.

    „Das dürfen wir nicht., erwiderte Jens Carstensen. „Dazu müssten wir vertrauliche Informationen ausplaudern. Da muss nur ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin auf der Versammlung sitzen, der oder die das an den falschen Stellen 'rum erzählt und dann sind wir geliefert. Ich denke, wir müssen zweigleisig fahren: einerseits die Mitarbeiter wappnen, indem wir sie in vier-Augen-Gesprächen impfen, mit dem deutlichen Hinweis, dass die Informationen absolut vertraulich sind, und andererseits müssen wir dafür sorgen, dass diese Praxis von höherer Stelle unterbunden wird. Ich könnte mich an den landeskirchlichen Beauftragten für die Mitarbeitenden in Verkündigung und Seelsorge wenden, der kennt auch bestimmt die richtigen Ansprechpartner für den Bereich Kindertageseinrichtungen.

    „Dann tu das doch., unterstützte Regina Heuer den Vorschlag. „Und ich knöpfe mir die Einrichtungsleiterinnen und meine Mitarbeiterinnen alle einzeln vor. Ich kann nicht mit jeder einzelnen Erzieherin sprechen, aber die leitenden Kolleginnen sind absolut loyal und keine ist so blöd sich zu verplappern.

    „Dein Wort in Gottes Ohr.", sagte Friedrich Ortmann.

    „Und was tun wir, wenn sie als nächstes auf die Verwaltungskräfte los gehen?", fragte Ursula Koch.

    „Ich glaube die Verwaltung hat Gehalts-technisch eine ganz gute Lobby., beruhigte sie Siegfried Wischmeier. „Die sitzen auch in der Leitungsebene und haben den Überblick über die Finanzen. Euer Problem ist eher, dass sie euch mit dem Effektivierungswahn immer mehr mit Arbeit zuschaufeln, damit sie bloß sozial verträglich Personal abbauen können, genau wie bei uns Küstern.

    „Na ja und die Kirchenmusik bekommt schon immer Dumping-Löhne., mischte sich Friedrich Ortmann ein. „Abgesehen von uns A-Musikern. Aber die Stellen werden ja auch immer mehr zusammengestrichen. Überall nebenberufliche C-Musiker mit 10-13-Stunden-Verträgen, die in Wirklichkeit aus Idealismus 20-30 Stunden arbeiten. Die einzigen, die sich zurücklehnen und in den Vier-Sterne-Urlaub jetten können, sind die Pfarrer.

    „Naja, Pfarrstellen werden ja auch gestrichen., beschwichtigte ihn Regina Heuer. „Bei denen gibt es auch massive Arbeitsverdichtung, gestrichenes Weihnachtsgeld, aber die klagen bei ihren anderen Voraussetzungen natürlich auf hohem Niveau. Wem es als Pastor zu stressig ist, könnte ja auch auf halbe Stelle reduzieren. Davon kann man immer noch gut leben, besser als eine Vollzeitkraft im Kindergarten. Aber sie haben natürlich auch eine anspruchsvolle und langjährige Ausbildung. Wenn wir auch Pfarrer wären, würden wir auch so viel verdienen.

    „Ja, aber wer zum Teufel braucht so viele Pfarrer?", unkte Ursula Koch.

    Die gesamte Runde lachte herzlich.

    „Sind wir dann soweit klar?, fragte Jens Carstensen. „Ich hab' heute noch Einiges im Jugendreferat zu erledigen und wäre nicht böse, wenn wir hier Schluss machen könnten.

    „Und der Kaffee?", fragte Ursula Koch.

    „Ja, den müssen wir natürlich noch zusammen trinken.", grinste Jens Carstensen und machte sich auf den Weg in die Teeküche.

    7. Arche-Noah-Kita – Minden

    Frau Schlatter

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