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Ernteplanet
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eBook558 Seiten8 Stunden

Ernteplanet

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Über dieses E-Book

Die Wahrscheinlichkeit, dass Außerirdische die Erde besuchen, ist mehr als gering. Aber was, wenn es doch geschieht? Was hätten wir zu erwarten? Aliens, die schier unfassbare Weiten überwinden, nur um uns zu vernichten? Oder würden sie uns, den Unwissenden auf die Sprünge helfen? Würde dieser Besuch Tod und Verderben bringen oder das Paradies auf Erden? Was in solch einem Fall geschehen würde, lässt sich auch nicht annähernd voraussagen und bleibt letztendlich der Phantasie jedes Einzelnen überlassen!

Eine der vielen Möglichkeiten, wie sich der Besuch einer außerirdischen Spezies gestalten könnte, wird in diesem Roman beschrieben. Vor allem stellt sich doch die Frage, welche Gestaltungsmöglichkeiten verbleiben den Menschen noch, wenn eine weitaus höher entwickelte Zivilisation in das tägliche Leben eingreift. Und weitaus höher entwickelt muss diese Zivilisation sein, der es gelingt, die unendlichen Weiten des Weltraums zu durchqueren. Auch die Frage nach dem Grund des Interesses an uns und ihres Erscheinens ist berechtigt und bewegt die Menschen jener Zeit. Wie reagieren Wissenschaftler und Politiker auf die neue Situation? Funktionieren die Institutionen noch wie gewohnt oder unterliegen alle Handlungen bereits dem Willen der Außerirdischen? Unterstellt, diese fremde Zivilisation nimmt für sich hehre ethische Grundsätze in Anspruch, kann sie dann die Menschen ihren Zielen unterwerfen?

Lassen Sie sich in eine Geschichte entführen, die sich so oder so ähnlich in der Realität nicht abspielen wird. Die aber Fragen zur menschlichen Existenz aufwirft, die letztendlich fragiler ist, als manche glauben. Das Ende des homo sapiens durch eine Katastrophe biblischen Ausmaßes ist nicht ausgeschlossen und wer weiß, wie oft die Erde, unser blauer Planet, einer solchen Katastrophe in der Vergangenheit nur knapp entgangen ist.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum22. Okt. 2016
ISBN9783738089011
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    Buchvorschau

    Ernteplanet - Rolf-Dieter Meier

    1. Die letzten Tage

    Statt eines ausgedehnten Spazierganges oder eines Sonnenbades auf der Terrasse blieb mir schon während des gesamten Tages nicht viel anderes übrig, als den gewohnten Platz am Fenster einzunehmen, um dem Treiben auf der Straße zuzusehen. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich aus reiner Gewohnheit in Gedanken den Begriff „Spaziergang" benutzt hatte, der in meinem Fall absurd war, wenn man wie ich an einen Rollstuhl gefesselt ist. Auch die Aussage ausgedehnt, ist relativ, wenn man bedenkt, dass es sich, wenn überhaupt, um kaum mehr als eine halbe Stunde handelt. Für einen 126jährigen, der sich möglichst aus eigener Kraft bewegt, ist dies doch eine erhebliche Anstrengung. Deshalb sind die Ausfahrten mit reiner Muskelkraft in den letzten Jahren auch immer seltener geworden. Stattdessen übernimmt immer öfter der kleine Elektromotor die Aufgabe, mich in meinem Gefährt über die mittlerweile bestens bekannten Wege zu befördern. Nun, heute fiel diese auch nicht mehr ganz abwechslungsreiche Tätigkeit der Wetterlage zum Opfer. Es regnete seit dem Vormittag und dies kräftig. Mittlerweile ist Dunkelheit eingekehrt und in den Regentropfen am Fenster spiegelt sich das Licht der Straßenlaternen. Eine Vielzahl von Lichtpunkten, ein Ersatz für die fehlenden Sterne, die sich hinter der dichten Wolkendecke verborgen halten. Diese Laternen waren ein Relikt der Vergangenheit, unverändert in der Form, den alten Gaslaternen des 20. Jahrhunderts nachempfunden. So wie sie heute dort unten stehen, so kenne ich sie schon von Fotos aus frühen Kindheitstagen. Die einzige Änderung, der Wirtschaftlichkeit geschuldet, war die jetzige Energieversorgung mit Strom.

    So unwirtlich wie das Wetter da draußen, so muss ich wohl auch das Zimmer bezeichnen, welches ich bewohne. Es beschränkt sich auf das Wesentliche, lässt mir aber genügend Raum für die Fortbewegung. In der Mitte ein Tisch, an der Wand ein Schrank, nein, eigentlich mehr eine Kommode oder ein Sideboard, in dem ich das, was ich benötige, in erreichbarer Höhe verstaut habe. Ein paar Teller, Tassen, Gläser. Ansonsten Überbleibsel der Vergangenheit, kaum Dinge die ich wirklich benötige. Ein paar Fotos auf Papier; Bilder aus der Kindheit, Bilder meiner Eltern. Sehr altmodisch in einem digitalen Zeitalter mit moderneren Speichermedien. Trotzdem hänge ich an ihnen. Es ist bestimmt schon ein paar Jahrzehnte her, dass ich Sie mir angeschaut habe. Aber ich bin froh, dass sie einfach da sind; eine jederzeit greifbare Erinnerung. Etwas, was man nicht fortwirft. Ein Andenken an die Vergangenheit, die aus dem Jetzt betrachtet immer unwirklicher wird.

    Das Zimmer hat zwei Fenster. Eines ist nach Osten gerichtet, das andere weist nach Süden. Hier befindet sich auch der Zugang zu einer, man kann sagen, großzügig bemessenen Terrasse. Für einen in der Bewegung eingeschränkten Menschen ein großartiger Ort, besonders im Frühjahr, wenn die Sonne an Kraft und Wärme gewinnt und es mich hinauszieht. So wie ein trockener Schwamm das Wasser aufsaugt, so giert auch dieser alte Körper, diese, ich kann es nicht verhehlen, doch schon faltige Haut nach Licht und Wärme. So sitze ich dort manchmal stundenlang, die Augen geschlossen, dösend, allen Hautkrebsgefahren zum Trotz. Hautkrebs! Ein Witz! Soll sich ein 126jähriger davor fürchten? Aber selbst wenn, dann würde dies bei der nächsten Routineuntersuchung erkannt und behandelt werden. Natürlich hat man heute solche Dinge im Griff. Krebs, diese Volksseuche, so wie auch viele andere Krankheiten, die in früheren Jahrhunderten, ja selbst noch in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts Angst und Furcht verbreiteten, weil sie nur bedingt als heilbar galten und auch vor dem reichsten Mann nicht Halt machten, sind ausgerottet. Leider ereilte das gleiche Schicksal auch die Menschen. Fast alle. Es ist wahr, all diese neuen medizinischen Errungenschaften waren und sind ein Segen. Selbst meine Zähne brauchen einen knackigen Apfel nicht zu fürchten. Im Falle eines Falles lässt man sie einfach nachwachsen. Der Gentechnik sei Dank! Selbst Greise könnten für jede Zahnpasta Werbung machen; ein strahlenderes Weiß gibt es nicht. Diese Zähne würden für sich allein betrachtet jedem Hochglanzmagazin zur Ehre gereichen. Es hatte nur einen Nachteil: der Berufsstand der Zahnärzte wurde stark reduziert. Dafür gab es aber mehr Zahn-Gen-Implantologen.

    Das Wichtigste in meinem Zimmer, in dem ich mich mittlerweile am meisten aufhalte, ist der riesige Bildschirm an der westlichen Wand. Daran schließt sich an der nördlichen Wand die Tür zum Flur an sowie die besagte Kommode. Darüber ein Gemälde. Nichts besonderes, aber dekorativ. Über den Bildschirm, man kann auch sagen: das Kommunikationszentrum eines jeden Haushalts, bin ich mit der Welt außerhalb meiner vier Wände verbunden. Hierüber tätige ich meine Einkäufe, lade ich Literatur, Musik und Filme herunter und erhalte all die anderen Informationen, die ich benötige. Wirklich von Vorteil ist aber das programmierte Kochen. Entgegen allen Unkenrufen ist heute jede Fertigmahlzeit von höchster Qualität und könnte sich mit kulinarischen Kreationen eines 3-Sterne-Kochs messen. Nun, dies ist kein Wunder, sind diese Mahlzeiten doch von eben diesen 3-Sterne-Köchen komponiert und programmiert, die Zutaten von auserlesener Frische. So kann man, wenn man will, tagtäglich die unendliche Vielfalt der edelsten Küche genießen. Aber nicht nur abgehobene Kochkunst wird geboten, auch der altbackene Eintopf kann abgefordert werden, wenn es einem nach etwas Ursprünglichen gelüstet. Mich gelüstet es allerdings nicht mehr allzu sehr nach irgendetwas, was wohl mit meinem Alter zusammenhängen mag. Ich esse mittlerweile nur noch wie ein Spatz. Zumindest haben dies immer meine Eltern gesagt, wenn die von mir vertilgte Portion nicht ihren Erwartungen entsprach. Das war in der Regel dann der Fall, wenn es mir einfach gesagt, nicht schmeckte. Meine erste und letzte Äußerung dieser Art, ich stand gerade in der Mitte meines vierten Lebensjahres, hatte zur Folge, dass meine Mutter zuerst tödlich beleidigt und danach immer noch schlecht genug gelaunt war, um meinen Vater für den Rest des Tages darunter leiden zu lassen. Da ich meinen Vater mochte, vermied ich zukünftig solche Aussagen und erntete damit den Dank meines Vaters, was sich in späteren Jahren in Form eines heimlich zugesteckten zusätzlichen Taschengeldes auswirkte. Man muss aber dazu sagen, dass meine Mutter zwar eine sehr patente und liebenswerte Frau war, nur kochen konnte sie nicht. Dies wurde von ihr jedoch völlig ignoriert und so versuchte sie sich mit immer größerem Einsatz selbst an der Haute Cuisine. Von wirklich denkwürdigen Ausnahmen abgesehen, endeten diese Versuche zumeist in einem Desaster und damit tränenreich. Mein Vater und ich gaben unser Bestes, die Situation zu bereinigen, wobei oft genug eine ordentliche Lüge die beste Medizin darstellte, die von meiner Mutter äußerst dankbar geschluckt wurde. Unglücklicherweise versuchte sie auch unsere Gäste mit ihren Kochkünsten zu beglücken. Gottseidank wurden diese Versuche wegen der sichtlich geringen positiven Resonanz eingestellt, und stattdessen ein Cateringunternehmen beauftragt oder ein Restaurantbesuch vorgeschlagen. Ich gebe zu, dass ich meiner Mutter nicht so viel Einsicht zugetraut hatte. Diese regelmäßig auftretenden Ereignisse rund ums Essen schweißten zumindest in diesem Fall meinen Vater und mich zu einer lange anhaltenden Zweckgemeinschaft zusammen, deren Interesse es war, das Essen möglichst außerhalb der heimischen Küche einzunehmen. Mein Vater und ich waren dabei in der vorteilhaften Situation, uns zu diesem Zweck der Kantinen zu bedienen, die uns in unserem Arbeitsumfeld zur Verfügung standen. So gehörte der Arbeitgeber meines Vaters zu den Menschen, die daran glaubten, dass ein gutes Essen nicht nur das Betriebsklima, sondern auch noch die Motivation zu einer höheren Leistung befördern würde. Ob die durchaus erfolgreiche Karriere meines Vaters Folge des guten betrieblichen Essens war oder auf der Dankbarkeit beruhte, den heimischen Kochkünsten entronnen zu sein, konnte ich nie ergründen. Ich selbst nutzte zunächst die Möglichkeit der allgemeinen Schulspeisung, die zwar bekanntermaßen keine Offenbarung war, aber immer noch besser … Während der Studienzeit besuchte ich zunächst die Mensa, wobei sich fatalerweise das Essen dort nicht allzu sehr von dem Unterschied, was meine Mutter unter Kochen verstand! Dies war aber nur für kurze Zeit der Fall, da ich meine universitäre Ausbildung bald in einer anderen Stadt fortsetzte, die nicht nur über eine bessere Mensa, sondern auch über eine Vielzahl hübscher kleiner Lokale verfügte, die mit ihren Speisenangeboten die Geschmacksnerven durchaus verwöhnten.

    Während also meine Lust am Essen in letzter Zeit nachgelassen hat, verstärkte sich doch die Lust, noch einmal etwas Außergewöhnliches zu probieren. Klein, aber fein. Und das alles quasi auf Knopfdruck, das Kommunikationszentrum macht es möglich. Auch an besten Weinen und Spirituosen ist kein Mangel. Wenngleich auch hier der Bedarf nicht mehr so groß ist, was ich manchmal bedauere. Aber es ist ja oft so: wenn man möchte, sind die Mittel zumeist begrenzt. Wenn man es sich dann leisten kann, kann oder will man nicht mehr so recht. Die Bedienung des Bildschirms erfolgt über Spracheingabe. Ich unterhalte mich also mit einer Maschine. Meine Anweisungen werden in der Regel brav befolgt. Sollte ich für längere Zeit den Wunsch nach Stille verspüren, so wird diese zu meinem Leidwesen allzu oft unterbrochen, indem ich nach meinen Wünschen befragt oder an einen Termin erinnert werde.

    Die Gedanken, die Worte, die sich wie Perlen auf einer Schnur aneinandergereiht hatten, brachen ab. Der Kopf des alten Mannes in seinem Rollstuhl sank langsam nach vorn auf seine Brust. Die Stille im Zimmer wurde nur durch das unregelmäßige, leicht rasselnde Geräusch des Atmens des Alten unterbrochen. Von den bis zum Boden reichenden Fenstern war nur selten ein kurzes Pochen zu hören, wenn ein Hagelkorn, das sich unter die Regentropfen gemischt hatte, vom Wind gegen die Scheiben getrieben wurde. Ansonsten unterdrückte die gute Isolierung das Prasseln des Niederschlags, der sich, zuvor nur mäßig stark, mittlerweile zu einem heftigen Sommerschauer entwickelt hatte. Die aufziehende Dunkelheit wurde durch die tief hängenden dunklen Wolken noch verstärkt. Das ohnehin nicht allzu starke Treiben auf der Straße hatte noch weiter abgenommen und beschränkte sich nun nur noch auf einen gelegentlichen Passanten, der zumeist mit einem Regenschirm versehen versuchte, so schnell wie möglich und halbwegs trocken sein Ziel zu erreichen. Selten erhellte ein Auto mit seinen Scheinwerfern, deren Licht sich deutlich von dem warmen Leuchtton der Laternen abhob, ein wenig das Zimmer und streifte den Mann in seinem weißen Pyjama. Zunächst unmerklich begannen seine Hände immer mehr zu zittern. Schließlich schlugen die Handflächen mit einem sanften Klatschen fast gleichförmig auf die Armlehnen des Rollstuhls.

    Durch die zum Flur geöffnete Tür schwebte lautlos eine kleine, silbrig schimmernde Halbkugel herein. Die flache Seite, mit einem Durchmesser von vielleicht 5 cm, war zum Boden ausgerichtet. So, als wüsste sie genau, was ihr Ziel und ihre Aufgabe war, steuerte sie mit gleichmäßigem Flug den Mann im Rollstuhl an und ließ sich auf dem Handrücken nieder. Unbeirrt von dem auf und ab der Hand folgte sie der Bewegung. Ein kurzes, leises Zischen, kaum wahrnehmbar in der Pause zwischen zwei klatschenden Schlägen der Hände, dann löste sich dieses Ding wieder vom Handrücken und verschwand auf dem gleichen Weg wie es gekommen war, geräuschlos und zielstrebig. Die silbrige Halbkugel hatte noch nicht einmal die Tür erreicht, als das Zittern der Hände unvermittelt abbrach. Der Atem des alten Mannes war bis auf ein leichtes Rasseln kaum wahrnehmbar und gleichmäßig. Dem kurzen Anfall, der augenscheinlich Kraft gekostet hatte, folgte nun ein erholsamer Schlaf.

    Es war bereits fast acht Uhr als er erwachte. Die Augen noch geschlossen begann sich der Kopf von der Brust zu heben. Es war eine unendlich langsame Bewegung, losgelöst von seinem Körper, der völlig bewegungslos blieb. Langsam hoben sich seine Augenlider und eine  graugrüne Iris wurde sichtbar. Anders als bei vielen betagten Menschen, deren Augen trübe erscheinen, waren diese Augen von einer Klarheit und kräftigen Farbe und passten gut zum leicht gebräunten Teint seiner Haut, die weitaus weniger Spuren seines hohen Alters aufwies, als man erwarten würde. Jetzt wandte er den Kopf zum Fenster, um kurz inne zu halten. Ein Moment der Orientierung und der Konzentration. Er fühlte die Wärme der Sonne auf seinem Gesicht, die trotz der frühen Stunde schon weit über dem Horizont stand. Nun ja, es war Mitte Juni.

    „Mein Gott, was mache ich hier. Ich muss eingeschlafen sein. Wie spät ist es? Es ist schon verdammt warm. Es wird wohl ein heißer Tag. Mein Gott, wie spät ist es? Seine kräftige Stimme hob die Stille des Zimmers auf. „Wie spät ist es? Der Klang der Worte war noch nicht einmal erloschen, als auf dem Bildschirm die Uhrzeit erschien und eine angenehme Frauenstimme die angezeigte Zeit auch verbal verkündete. Nach einer kurzen Pause fühlte sich die Stimme befleißigt, einen guten Morgen zu wünschen und sprach die Hoffnung aus, einen erholsamen Schlaf gehabt zu haben. Der alte Mann schien diesen Worten keine weitere Bedeutung beizumessen, sondern mit größtem Interesse die Vorgänge vor seinem Fenster zu verfolgen. Allerdings kann man vermuten, dass ihm das morgendliche Ritual wohl bekannt war und ihn eher langweilte. Regungslos akzeptierte er die nun erklingende klassische Musik; ein Stück, das ihm unbekannt war. Aber das war immer schon ein Problem für ihn, der durchaus der klassischen Musik, insbesondere der Oper, zugeneigt war. Er wusste nur selten, um was für ein Stück es sich handelte und wer dessen Schöpfer war. Es hatte ihn immer geärgert, aber er hatte auch nie die Zeit und Kraft gefunden, sich intensiv damit auseinander zu setzen. Also hatte er sich damit abgefunden und genoss sie einfach. Außerdem war es ein Leichtes, den Namen des jeweiligen Musikstückes und seines Schöpfers zu erfahren. Das Kommunikationszentrum erteilte auch auf derlei Anfragen höflich und schnell Auskunft. Aber das eigene Erkennen war etwas anderes, deutete das doch auf Sachkenntnis hin. Und die fehlte ihm, das konnte er nicht bestreiten. Der alte Mann schien zu wissen, was nun kommen würde, denn er wendete seinen Kopf in Richtung des Bildschirms. Kaum das sein Kopf die Bewegung abgeschlossen hatte, erklang wieder fast schmeichelnd die Frauenstimme: „Möchten Sie zunächst frühstücken oder erst die Morgentoilette erledigen? „Mein Gott, dieses Wort. Morgentoilette! dachte er. Aus unerklärlichen Gründen löste dieses Wort bei ihm Heiterkeit aus. Obwohl ihm bisher keine Alternative dazu eingefallen war, fand er es einfach lächerlich, irgendwie unpassend, der jetzigen Zeit nicht angemessen. Plötzlich öffnete sich sein Mund und ein krächzendes Geräusch drang aus seiner Kehle, es wiederholte sich mehrfach als wollte es kein Ende nehmen. Es sollte ein fröhliches Gelächter sein, aber angesichts dieses weit davon entfernten Geräusches wurde ihm bewusst, dass seine Kehle „furztrocken war. Er wollte der Maschine mitteilen, dass er dringend ein Glas Wasser benötigte, aber dies zwanghafte „Gelächter ließ ihn nicht zu Wort kommen. Zu allem Überfluss erkundigte sich die in diesem Fall mitleidsvolle Stimme, ob denn alles in Ordnung sei? „Sie haben wohl wieder die Luft geimpft dachte er, „Ausgerechnet jetzt! Noch während er verzweifelt darüber nachdachte, wie er sich aus dieser Situation krampfhaften Lachens und dem Wunsch, ein Glas Wasser zu ordern, befreien könnte, schwebte auf einem runden, weißen Tablett eben dieses in sein Zimmer und auf ihn zu. Bei ihm angekommen verharrte das Tablett neben seiner rechten Hand. Er ergriff das Glas und führte es an seine Lippen. Es war recht groß und nur zur Hälfte gefüllt. Und das war gut so, denn so wurde nichts von der dringend benötigten Flüssigkeit, die bedrohlich im Gleichklang mit den durch das Lachen ausgelösten Zuckungen des Arms in dem Glas hin und her schwappte, verschüttet. Trotzdem wäre es schwierig gewesen, das Wasser zu trinken, wenn nicht die Heiterkeit, die ihn so über alle Maßen und ohne wirklich triftigen Grund übermannt hatte, genauso schnell, wie sie gekommen war, abgeklungen wäre. Er spürte Erleichterung, als das kühle, leicht perlende Nass seine Kehle befeuchtete. Er fühlte sich wirklich besser.

    Das Tablett war so geisterhaft mit dem geleerten Glas verschwunden, wie es gekommen war. „Verdammt, wie machten sie das nur? Wie konnten sie wissen, was er dringend benötigte?" Wieder diese Frage, die er sich bereits so oft gestellt hatte. Dass man ihn beobachtete, war unzweifelhaft. Es mussten mikroskopisch kleine Kameras sein, die mit dem Medi-Zentrum verbunden waren. Sie waren über seinen Zustand augenscheinlich zu jeder Zeit bestens informiert. Sie hatten sozusagen permanent die Hand an seinem Puls. Er war eigentlich nie ernsthaft krank gewesen, zumindest konnte er sich nicht daran erinnern. Ja, mal eine leichte Erkältung, aber eben nichts Dramatisches. Er hatte es auskuriert, das wars. Dass das Medi-Zentrum allgegenwärtig war, hatte er erst wahrgenommen, als er einen Schlaganfall hatte. An das Datum konnte er sich noch genau erinnern: es war der 13.06.2171 gewesen; ein heißer Tag, ähnlich dem Heutigen. Es war kurz nach 20:00 Uhr und er hatte sich gerade die abendliche Nachrichtensendung angesehen, neben der täglichen Körperpflege ein Ritual, auf das er nur selten verzichtet hatte. Er fand es spannend zu sehen, wie sich die Welt veränderte. War es ihm doch vergönnt, einen großen Zeitraum zu überblicken und seine Schlüsse daraus zu ziehen. Plötzlich hatte er ein Kribbeln in seinem linken Arm verspürt, das sich schnell verstärkte. War es zunächst eine fast angenehme Erscheinung, entwickelte es sich zügig zu einer schmerzhaften Angelegenheit. Das Bild von den Nadeln, die in die Haut stechen, war genau das, was er fühlte. Dazu gesellten sich Sehstörungen, ihm wurde schwindlig. Er wollte um Hilfe rufen, aber die Stimme versagte ihm den Dienst. Er war in die Bewusstlosigkeit gefallen.

    Als er aufwachte, lag er in seinem Bett. Das Erste, was er wahrgenommen hatte, war die an die Decke projizierte Uhrzeit: 20:23 Uhr. Erst später, als er sich daran zurück erinnerte, wurde ihm bewusst, welch kurze Zeitspanne zwischen der Ohnmacht und dem Aufwachen vergangen war. Dann bemerkte er, dass er nackt war. Da er nur einen kleinen Bauchansatz hatte, war sein Oberkörper eine fast ebene Fläche und über dieser schwebte eine silbrig glänzende Halbkugel mit einem Durchmesser von schätzungsweisen 20 Zentimetern. Er hatte von anderen bereits davon gehört, man nannte sie MediRobs. Er selbst hatte sie aber noch nie gesehen. Es schien prüfend über seinen Oberkörper zu gleiten, in langsamen kreisenden Bewegungen, absolut lautlos, um an einer scheinbar beliebigen Stelle kurz anzuhalten. Nach einiger Zeit des Kreisens und Pausierens schwebte die Halbkugel hinauf zu seinem Kopf, um über seinem Gesicht zu verharren. Er hatte nun die Gelegenheit sich die flache Seite von unten zu betrachten; sie war makellos glatt, keine Auswölbung, keine Vertiefung. Nachdem die Untersuchung seines Organismus wohl zur vollsten Zufriedenheit des MediRobs abgeschlossen war, glitt er zur Tür hinaus. Er war immer noch leicht benommen, so, als ob er gerade aus dem Schlaf gerissen worden war. Trotzdem hatte er auf ein Geräusch gewartet, so wie bei einem Gast, der beim Gehen die Tür hinter sich ins Schloss zieht. Doch es blieb still. Stattdessen plötzlich diese Frauenstimme, die sich nach seinem Befinden erkundigte. Sie kam aus den kleinen Lautsprechern in den Ecken der gegenüber liegenden Wand. Ein bisschen kraftlos hatte er „Gut, ja gut, den Umständen entsprechend" gesagt, nicht wissend, in welchen Umständen er sich eigentlich befand. Aber man sagte es halt so und irgendwie war es auch zutreffend.

    „Wunderbar! sagte die Frauenstimme und es hatte den Anschein, sie meinte es ernst. „Wir tun alles im Rahmen unserer Möglichkeiten, um ihre Gesundheit sicher zu stellen. Aber auch uns sind Grenzen gesetzt. sie hatten … Die Stimme machte tatsächlich eine Pause und sie klang plötzlich besorgt. So, als müsste sie ihm etwas schonend beibringen. Die eingetretene Stille machte ihn augenblicklich nervös und veranlasste ihn zu einem ungeduldigen „Ja, was? Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als die besorgte Stimme fortfuhr: „ … einen Schlaganfall. Wir haben aber unverzüglich Maßnahmen ergriffen, um die Folgeschäden in solch einem Fall möglichst gering zu halten. Die folgenden Erläuterungen rauschten im wahrsten Sinne des Wortes an ihm vorbei. Nur das Wort Schlaganfall hatte sich in seinem Kopf festgesetzt, wiederholte sich ständig und blockierte alle weiteren Gedanken, während die Stimme als permanentes Hintergrundgeräusch die durchgeführten Sofortmaßnahmen erläuterte. „Ist Ihnen nicht gut? Diese Frage riss ihn aus der Phase der ständigen Wiederholung, was daran gelegen haben konnte, dass die Stimme nun einen anderen Klang hatte; sie erschien lauter und beinahe aggressiv. „Ja, ja! hatte er fast beiläufig in Richtung der Lautsprecher geantwortet. Etwas Besseres fiel ihm in diesem Moment auch nicht ein, war ihm doch unvermittelt klar geworden, dass er sich um seinen Zustand kümmern musste. Wie hatte sich der Schlaganfall ausgewirkt? Sprechen konnte er augenscheinlich noch. Das hatte die Kommunikation mit den Lautsprechern bewiesen. Er hob seinen rechten Arm, kein Problem. Die gleiche Aktivität mit dem linken Arm zeigte das gleiche Ergebnis; alles bestens. Danach konzentrierte er sich darauf, das rechte Bein anzuziehen. Keine Reaktion, das Bein war nicht willens, seiner Anordnung zu folgen. Es erfasste ihn ein Gefühl, dass er bisher nicht kannte. Er begann seinen Herzschlag zu spüren, der ständig an Tempo zulegte. „Ruhe, ordnete seine innere Stimme an, allerdings schien das sein heftig pochendes Herz nicht im Geringsten zu beeindrucken. Resigniert, dass sein Herz augenscheinlich nicht bereit war, seinen Anordnungen zu folgen, versuchte er nun sein linkes Bein anzuziehen, allerdings genauso erfolglos. Noch einmal rechts, noch einmal links. Unbeeindruckt von seinen Bemühungen blieben die Dinger einfach liegen. Nicht einmal ein zaghaftes Zucken, kein Wackeln der Zehen, einfach nichts! So, als hätte ein unsichtbares Augenpaar seine vergeblichen Versuche beobachtet und hielt die Zeit für eine Erklärung gekommen, meldete sich die nun beschwingt klingende Frauenstimme zurück. Ihm war bis zu diesem Augenblick nicht aufgefallen, dass die Stimme Ihre Tätigkeit eingestellt hatte. Er hatte den Eindruck, dass der unsichtbare Beobachter erkannt hatte, dass er sich mehr um seine eigenen Angelegenheiten gekümmert hatte und wenig geneigt war, den Ausführungen der Stimme zu lauschen. Nun schien der Moment gekommen, dass der Patient wieder ein offenes Ohr für weitere Erläuterungen haben würde. Die Bestätigung für seine Annahme erhielt er postwendend. „Wie Sie festgestellt haben, konnten wir, trotz des schnellen Einsatzes der medizinischen Abteilung, leider nicht alle Folgen des Schlaganfalls beseitigen. Ihre Beine sind gelähmt, aber wir gehen davon aus, dass wir in der nächsten Zeit durch geeignete Rehabilitationsmaßnahmen zumindest einen kleinen Teil der Bewegungsfähigkeit wieder herstellen können. Dies ist in Anbetracht Ihres hohen Alters ganz beachtlich. Er fühlte sich in diesem Moment, obwohl es absurd erschien, geschmeichelt. „Es werden zwar nur geringfügige Verbesserungen sein, aber sie werden doch Ihre Lebensqualität steigern. Im Übrigen werden Sie sich damit abfinden müssen, dass der Rollstuhl ab heute Ihr ständiger Begleiter sein wird." Obwohl der Klang der Stimme versuchte, Optimismus zu verbreiten, war das alles andere als tröstlich.

    Der Ausflug seiner Gedanken in die Vergangenheit fand ein jähes Ende, als die gleiche Stimme, die ihm gerade noch eine Zukunft im Rollstuhl vorausgesagt hatte, ihn aufforderte, sich zwischen Morgentoilette und Frühstück zu entscheiden. Wie viel Zeit war vergangen? Er schaute zum Bildschirm hinüber, der unverändert die Zeit anzeigte: 08:23 Uhr. Er hatte wohl vor sich hin gedöst. Er fand es sehr rücksichtsvoll, dass man ihm die Zeit eingeräumt hatte, Erinnerungen nachzuhängen. Nun jedoch sollte eine Entscheidung getroffen werden, um einer weiteren Wiederholung der Frage zu entgehen. „Ich gehe zuerst ins Bad teilte er den unsichtbaren Beobachtern mit. „Und zum Frühstück hätte ich gerne knusprigen Speck und ein Spiegelei. Ansonsten das Übliche. Rasch fügte er noch an: Auf der Terrasse! Er verspürte heute Morgen einen mächtigen Appetit.

    Er fuhr mit seinem Rollstuhl in das Badezimmer. Praktischerweise gab es keine Tür, sondern nur einen breiten Durchgang, was das Manövrieren mit dem Gefährt erleichterte. Die Intimsphäre, die durch eine Tür geschützt würde, hatte für ihn keine Bedeutung mehr. Selbst wenn, was selten genug war, Besuch kam, hatte es nie Probleme gegeben. Er hatte eigentlich nie die Toilette aufsuchen müssen, als Besuch da war. Gleiches galt, wenn er sich recht erinnerte, auch für die Besucher. Die Blase war intakt, Prostatabeschwerden kannte er nur vom Hörensagen. Dank der hervorragenden medizinischen Betreuung waren all die Leiden verschwunden, die er nur aus alten Filmen kannte. Das Bad war rundum gefliest, selbst die Decke bestand aus dem Material, welches auch die Wände schmückte. Allerdings unterschieden sich die Fliesen an der Decke ebenso wie die am Boden in Ihrer Größe von den Fliesen an den Wänden. Handelte es sich bei der Deckenbekleidung um Platten von ca. einem mal einem Meter, insgesamt sechzehn Stück, quadratisch angeordnet, so dass das Bad vier mal vier Meter maß, waren die Bodenfliesen nur ein Viertel so groß wie die Deckenfliesen. Selbstverständlich verfügte auch das Bad, so wie die gesamte restliche Wohnung über eine Fußbodenheizung. Leuchtkörper suchte man allerdings vergeblich. Die Wände selbst sorgten für die gewünschte Beleuchtung. Eine von ihm als gelungen bezeichnete Ausnahme stellten die Lichtpunkte an der Decke des Badezimmers dar, die einem, sobald man die Wandbeleuchtung abgeschaltet hatte, einen Sternenhimmel vorgaukelten. Helligkeit und Farben konnte er mit seiner Steuereinheit an seinem Rollstuhl regeln. Allerdings war auch die Steuerung durch das gesprochene Wort möglich. Er hatte gelernt mit dieser Möglichkeit umzugehen und nutzte sie dementsprechend.

    Das Badezimmer war zwar großzügig geschnitten, ansonsten aber spartanisch eingerichtet, man hatte sich auf das Notwendige beschränkt, dies aber behindertengerecht. Ein WC an der rechten seitlichen Wand, gegenüber ein tiefhängendes Handwaschbecken sowie von der Tür aus gesehen hinten rechts, praktisch neben dem WC, eine Duschecke. Dazu die Utensilien, die für die Körperhygiene erforderlich sind. Als angenehm empfand er es, dass das Bad links neben der Dusche über ein Fenster verfügte. Das Glas war zwar satiniert und erlaubte keinen Blick nach draußen, aber das Fenster war groß genug, um das Bad am Tage mit ausreichender Helligkeit zu versorgen, insbesondere wenn die Sonne schien, so wie heute.

    Ich fuhr mit meinem Rollstuhl an den Waschtisch und betrachtete mein Gesicht im Spiegel. Der blütenweiße Pyjama kontrastierte mit dem gebräunten Gesicht, eine Folge der doch bereits oft genommenen Sonnenbäder. Nein, für einen 126-jährigen war das, was ich da im Spiegel sah, nicht übel. Zudem konnte ich mich an einer Haarfülle erfreuen, die noch nicht einmal im Ansatz auf eine zukünftige Glatze hindeutete. Ganz im Gegenteil, hatte ich früher einen Kurzhaarschnitt bevorzugt, fiel diese Haarpracht nun in leichten Wellen bis auf die Schultern hinab. Zwar hatte sie schon vor langer Zeit ihre ursprüngliche Farbe verloren und war mittlerweile schlohweiß, aber auch das hatte seinen Reiz. Im Moment mangelte es meiner Frisur an der gewohnten Ordnung, aber das würde sich ändern, sobald es gewaschen war. Vorrangig war zunächst die Beseitigung der doch ein wenig ungepflegt anmutenden Bartstoppeln, die sich seit der letzten Rasur wieder zu einem Stachelfeld ausgewachsen hatten. Das Rasieren war mir doch eher eine Last als eine Lust, da es der Haut an der Spannung fehlte, die eine Rasur erleichtert hätte. Und die Falten, wenngleich nicht gerade üppig, stellten ein Hindernis für die Klinge dar, das erst durch ein energisches Glattziehen der jeweiligen Hautpartien beseitigt werden konnte. Ich nahm die Dose mit dem Rasierschaum von der Ablage, zog die Kappe ab und sprühte eine kastaniengroße Menge des Schaums auf meine linke Handinnenfläche. Anschließend verteilte ich ihn auf die zu bearbeitende Hautpartien. Das Gesicht in dem Spiegel hatte nun etwas clowneskes, vielleicht war das der unterschwellige Grund, weshalb ich von Anfang an ein Freund der Nassrasur war, genauso wie mein Vater. Alles Weitere war reine Routine.

    Nach der Rasur putzte sich der alte Mann seine Zähne. Man hätte meinen können, dass mit dem problemlosen Ersatz schadhafter Zähne die Lust, sich der täglichen Zahnreinigung zu entziehen, stark nachlassen würde. Doch so, wie er sich weiterhin der Prozedur unterzog, hatte erstaunlicherweise auch bei den meisten Anderen die regelmäßige Zahnpflege eher zugenommen. Das mag zum Einen daran gelegen haben, dass der Ersatz nicht für umsonst zu haben war, zum Anderen, dass Dankbarkeit und die damit gewachsene Verantwortung für die „Dritten" ausschlaggebend für das entsprechende Handeln waren. Nach einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel, wobei seine Zähne noch einmal Gelegenheit bekamen, sich in voller Schönheit zu präsentieren, wendete er seinen Rollstuhl und fuhr zur Dusche hinüber. Die Duschanlage nahm begrenzt durch zwei Wände sowie einen Aluminiumbügel, der von der Fensterwand in den Raum ragte, gut ein Viertel der Fläche des Bades ein. Nachdem er den Rollstuhl durch das Anziehen der Bremse zur Bewegungsunfähigkeit verdammt hatte, packte seine rechte Hand den Handlauf, der sich in Höhe der Armlehne des Rollstuhls an allen Wänden befand, abgesehen von den Stellen, an denen die Sanitärobjekte oder Ablagen angebracht waren. Mit einem kräftigen Ruck zog er sich aus dem Rollstuhl, um sich, nach einer kurzen Pause des Gleichgewichtsfindens, des Pyjamaoberteils zu entledigen. Danach streifte er die Hose ab. Nachdem er für sich beschlossen hatte, sich in der kommenden Nacht neu einzukleiden, nahm er erneut in seinem Rollstuhl Platz, sammelte die auf der Erde liegenden Kleidungstücke auf, drehte kurz nach rechts und stopfte sie in den hier befindlichen Schmutzwäschebehälter. Um alles weitere würden sich die Putz-Robbies, so beliebte er sie zu nennen, kümmern. Schon hatte er die Hand erneut auf den Handlauf gelegt, als ihm plötzlich die Stille bewusst wurde. Er hatte es tatsächlich versäumt, die von ihm so geschätzte musikalische Begleitung bei der morgendlichen Toilette anzufordern.

    Ich rief einem unsichtbaren und unbekannten Empfänger meiner Worte zu: „Musik!". So, als hätte man bereits darauf gewartet, verwundert, dass die allmorgendliche Aufforderung ausgeblieben war, erklang, eingeleitet von Streichern, ein Klavierkonzert. Ich lauschte dem Auf und Ab der Töne, während mein Blick auf meine Oberschenkel fiel, von dort die Unterschenkel hinab zu meinen Füßen, die auf den Fußstützen ruhten. Zum wiederholten Male stellte ich fest, dass die vormals so kräftigen, ja sportlichen Ober- und Unterschenkel erschreckend dünn geworden waren. Vermutlich, nein, mit Sicherheit eine Folge der Bewegungs-unfähigkeit seit dem Schlaganfall. Auch die regelmäßigen Massagen und Bewegungsübungen haben das Abmagern nicht verhindern können. Aber ich war froh, wenigstens ein paar Schritte machen zu können. So hatte ich mir meine Selbständigkeit bewahren können und war auf die Hilfe Dritter nur bedingt angewiesen. Es war ein Segen und machte das Leben trotz der Behinderung lebenswert und die Morgentoilette erträglich.

    Er konnte sich angesichts des Begriffes Morgentoilette, den seine Gedanken geformt hatten, ein erneutes Lächeln nicht verkneifen. Diesmal blieb aber der Lachanfall aus, den er schon erwartet hatte und deshalb zunächst sitzen geblieben war. Nachdem klar war, dass sich seine Heiterkeit auf das Lächeln beschränkt hatte, griff er erneut nach dem Handlauf, zog sich aus dem Rollstuhl und ging in kleinen Schritten unter den Brausekopf. Dieser spendete bereits bereitwillig das wie immer angenehm temperierte Nass, wie er durch Prüfung mit seiner linken Hand feststellte. Nun stand er vollends unter der unablässig Unmengen von Wassertropfen produzierenden Dusche, die auf seiner Haut und dem Fußboden aufschlugen, sich teilten, um sich anschließend in einem Wasserlauf wieder zu vereinigen, der unablässig dem Ablauf zustrebte und darin ohne größere Geräuschentwicklung verschwand. Nachdem er eine Weile das herabstürzende Nass bewegungslos genossen hatte, begann er sein Haar zu shampoonieren, nicht ohne vorher die Brause aufzufordern, ihren Betrieb einzustellen. Wenn das Stehen zu anstrengend wurde, nahm er auf dem kleinen Sitz Platz, der sich in der Ecke der Dusche befand. Schließlich war das Einseifen der erreichbaren Körperteile vollbracht und er erhob sich, um sich nach entsprechender Aktivierung des künstlichen Regens die Seifen- und Shampooreste vom Leib zu spülen. Mit dem Ergebnis der morgendlichen Reinigung augenscheinlich zufrieden, stoppte er den Wasserfluss und nahm aus einer Ablage, die sich rechts neben der Dusche befand, ein frisches Handtuch, um sich abzutrocknen. Dies war eine Handlung, die ihm sichtlich schwer fiel, und ihm jedes Mal bewusst machte, was er an Bewegungsfähigkeit verloren hatte. Aber diesen Rest an Eigenständigkeit wollte er sich unbedingt so lange wie möglich bewahren. Nachdem er seinen Körper so gut es ging abgetrocknet hatte, setzte er sich, nackt wie er war, wieder in seinen Rollstuhl und fuhr, sein Gefährt fast lässig mit seinen Händen vorantreibend, zum Ausgang des Bades. Bevor er nach links in den Flur abbog, warf er einen Blick in die dem Bad gegenüberliegende Küche, in der der Kaffeeautomat gerade sein automatisches Reinigungsprogramm startete. Allem Anschein nach, war man bereit, ihm sein Frühstück zu servieren.

    Ein paar Meter den Flur entlang befand sich auf der linken Seite sein Schlafzimmer. Hier stand auch ein größerer Schrank, in dem er seine Kleidung aufbewahrte. Als er vom Flur in das Zimmer abbog, wusste er bereits, was ihn erwarten würde. Insoweit war er auch nicht überrascht, einen jungen Mann auf dem Stuhl, der neben seinem Bett stand, sitzen zu sehen. „Heute ist also Sven wieder an der Reihe dachte er. Sie wechselten alle fünf Tage, insgesamt waren es drei verschiedene Pfleger, die ihm seit seinem Schlaganfall beim An- und Auskleiden behilflich waren. An die erste Begegnung mit einem seiner Helfer konnte er sich noch gut erinnern. Fast acht Wochen war er nach seinem Schlaganfall praktisch rund um die Uhr betreut worden bis er eines Abends für sich entschieden hatte, fit genug für den Versuch zu sein, das morgendliche Bad mit allem Drum und Dran alleine zu bewältigen. Dies hatte er der diensthabenden Schwester unverzüglich mitgeteilt. Sie hatte ihn, der da eher tatenlos als tatendurstig im Bett lag, eher mitleidig, so schien es ihm, angeschaut, sich dann aber doch zu einem: „Wenn du meinst! durchgerungen. Dass sie augenscheinlich an seiner Fähigkeit zweifelte, seinen Wunsch auch in die Tat umzusetzen, beflügelte ihn umso mehr. „Du wirst schon sehen, ich bekomme das hin hatte er ihren Worten entgegengesetzt. Er war davon überzeugt, dass sie ihn in diesem Moment unter der Rubrik „störrisches Kind verbuchte. Dann stolzierte sie aus dem Zimmer, wobei sie, wie er fand, aufreizend mit dem Po wackelte. Nun gut, insoweit waren seine Reflexe noch nicht ganz verkümmert. Am nächsten Morgen hatte er es tatsächlich geschafft, seinen Wunsch Realität werden zu lassen. Die damit verbundene Euphorie erhielt jedoch einen Dämpfer, als ihm klar wurde, dass er sich nach der Körperpflege nunmehr der Prozedur des Ankleidens unterwerfen musste. Noch in Gedanken, wie er das bewerkstelligen könnte, kurvte er in sein Schlafzimmer. Er hatte die Türöffnung noch nicht einmal vollständig durchfahren, als er fast beiläufig die Person erfasste, die dort auf einem Stuhl sitzend bereits auf ihn wartete. Den Kopf in Richtung des unbekannten Mannes drehend, entschlüpfte dem jetzt weit geöffneten Mund ein Laut des Erschreckens. Der Anblick des nackten alten Mannes im Rollstuhl mit einem Gesichtsausdruck des Entsetzens veranlasste den unbekannten Mann, der gerade mal das 20. Lebensjahr erreicht haben durfte, sich mit großer Geschwindigkeit aus dem Stuhl zu erheben. Wie zur Beschwichtigung hob er die Arme, die Handflächen nach vorne gerichtet, wobei er, statt in der Bewegung zu verharren, noch einen Schritt nach vorne machte. Er hatte allerdings nicht mit dem ausgeprägten Vorwärtsdrang des Rollstuhlfahrers gerechnet, der in Anbetracht der unerwarteten Situation das Bremsen vergessen hatte. Der rechte Fuß des jungen Mannes geriet also unter die Fußstütze des Rollstuhls und bremste damit das Gefährt. Obwohl man annehmen muss, dass diese Begegnung äußerst schmerzhaft gewesen war, drang kein Laut über seine Lippen. Vielmehr schien er sein ganzes Augenmerk darauf zu richten, dass sich sein Oberkörper ungebremst auf den nackten alten Mann in seinem Rollstuhl zu bewegte. Doch bevor das anscheinend unvermeidliche geschehen konnte, zog der junge Mann mit einer fast tänzerisch anmutenden Seitwärtsbewegung seinen rechten Fuß unter der Fußstütze hervor, um sich anschließend rücklings auf das Bett fallen zu lassen. Allerdings machte er keine Anstalten, es sich hier bequem zu machen, um seinen malträtierten Unterschenkel zu massieren. Mit einer geschmeidigen Bewegung begab er sich unverzüglich von der Vertikalen wieder in die Horizontale, dabei gleichzeitig ein freundliches Lächeln aufsetzend. „Entschuldige bitte vielmals, dass ich dich so erschreckt habe. Ich hätte mich doch vorher anmelden sollen. Daraufhin folgte eine kleine Pause, um den sichtlich um Fassung bemühten alten Mann ein wenig zur Ruhe kommen zu lassen. „Ich bin Robin…, fuhr er dann fort „… und werde dir beim Ankleiden behilflich sein." Das muss man ihnen lassen, dachte der alte Mann, in Ihrer Wortwahl kann ihnen keiner das Wasser reichen.

    Genau wie ihm damals Robin beim Ankleiden behilflich war, so war es heute Sven. Er hatte sich aus seinem Rollstuhl erhoben und stand im Adamskostüm neben seinem Bett. Es hatte ihm nie etwas ausgemacht, sich so nackt Dritten zu zeigen. Das mochte an seinem Alter, aber vielleicht auch an seiner Erziehung gelegen haben, die sich nicht gerade durch Prüderie ausgezeichnet hatte. Also hob er erst sein linkes Bein, dann sein rechtes Bein, um in die von Sven bereitgehaltene Unterhose zu steigen. Sven zog die Hose so weit hoch, dass er sie greifen und in die richtige Position bringen konnte. Das Unterhemd, das ihm der junge Mann bereits hinhielt, war schnell übergestreift. Er hatte in seinem Leben nur selten auf ein Unterhemd verzichtet; er mochte es nicht, wenn sich der Schweiß, insbesondere im Sommer, auf dem Oberhemd abzeichnete. Ausgenommen waren T-Shirts, aber die trug er nur, wenn es wirklich heiß war. Als hätte er die Gedanken des alten Mannes erraten, hielt Sven ihm ein kurzärmliges, dezent gestreiftes Hemd entgegen, das die ungeteilte Zustimmung erhielt. Nachdem er das Hemd angezogen und zugeknöpft hatte, stieg er in eine zum Hemd passende hellbeige Hose. Anschließend nahm er wieder in seinem Rollstuhl Platz, um sich von Sven die restlichen Kleidungsstücke und ein Paar leichte Lederschuhe anpassen zu lassen. Die ganze Prozedur hatte sich stillschweigend und routiniert vollzogen. Zum Abschluss reichte ihm Sven noch die Armbanduhr, die die Nacht auf dem kleinen Beistelltisch neben seinem Bett verbracht hatte. „Danke, Sven, das war‘s mal wieder!, sagte der alte Mann, um dann noch hinzuzufügen: „Wird ein schöner Tag.

    „Das denke ich auch. Eine gute Zeit, für ein Frühstück auf der Terrasse, antwortete Sven und deutete mit einer Handbewegung die Richtung an. Als ob er nur auf das entsprechende Stichwort gewartet hätte, rollte der alte Mann los, kurvte nach links auf den Flur und von da aus nach rechts in das Wohnzimmer. Dieses durchquerte er ohne weiteren Aufenthalt, um durch die weit geöffnete Tür auf die Terrasse hinaus zu fahren. In der Tat, ein herrlicher Morgen! Das üble Wetter von gestern war abgezogen, nur ein paar versprengte kleine Wölkchen zogen an einem ansonsten strahlend blauen Himmel dahin. Die Sonne stand bereits hoch genug, um über den Wipfel der mächtigen Eiche schräg links von ihm hinweg zu lugen. Auch der restliche Schatten, der sich noch über einen Teil der Terrasse legte, würde nicht mehr lange Bestand haben. Es war kühler, als der alte Mann erwartet hatte. Es musste nach den eher schwülen Tagen zuvor einen ordentlichen Wetterumschwung gegeben haben. Mit Genugtuung stellte er fest, dass die Wölkchen von Ost nach West zogen. Ja, er hatte recht! Üblicherweise kam hier das Wetter aus westlicher Richtung und brachte im Sommer mehr Feuchtigkeit mit. Bei einer Ostströmung kam um diese Jahreszeit eher trockene Luft von den Landmassen im Osten. Nun rollte er noch etwas näher an den kleinen, bereits gedeckten Tisch in der Mitte, der von Blumentrögen begrenzten Terrasse. Er arretierte die Bremse seines Rollstuhls und stemmte sich aus dem Sitz, um sich anschließend in einem der bereit gestellten Stühle niederzulassen. Der Tisch und die beiden Stühle waren aus Rattan gefertigt. Obwohl ansonsten geneigt, auch etwas Neues auszuprobieren, hatte er bei seinem Mobiliar keine Kompromisse gemacht. Hier legte er Wert auf natürliche Produkte. Er liebte Holz, obwohl die Kunststoffe mittlerweile kaum noch von dem Original zu unterscheiden waren, wenn es sich um eine Holzimitation handelte. Auf dem Tisch lag eine zartgrüne Decke. Also heute mal nicht weiß, dachte er, während er seinen Blick über das vor ihm stehende Gedeck schweifen ließ. Es war wie immer alles da: Teller, Tasse, Messer, Gabel und Teelöffel. Nicht zu übersehen, die kunstvoll gefaltete Stoffserviette auf seinem Teller in dem gleichen Farbton wie die Tischdecke. Das hatte Stil, davon war er fest überzeugt. Noch ganz im Anblick dieses Ensembles vertieft, nahm er zunächst nicht wahr, dass aus dem Wohnzimmer kommend ein Tablett heran schwebte. Einen Moment hielt es dann bewegungslos über dem Tisch inne, um dann mit einer sanften Abwärtsbewegung die endgültige Parkposition einzunehmen. Augenblicklich verbreitete sich der Duft gebratenen Specks, der seine Vorfreude auf das Mahl deutlich erhöhte. Auch der Anblick des Spiegeleis, das auf den Punkt gebraten war, genauso wie er es schätzte, ließ ihm, wie man so schön sagt, das Wasser im Munde zusammen laufen. Das Ganze wurde abgerundet durch ein Glas frisch gepressten Orangensaft, einem Kännchen Kaffee mit der dazugehörigen Kaffeesahne, einem Brötchen in einem kleinen Brotkorb sowie einem weiteren Teller mit jeweils einer Scheibe Wurst und Käse. Dazu ein Schälchen mit zwei Stücken Butter. Das sah alles wirklich gut aus. Um dieses Mahl mit einem i-Tüpfelchen zu versehen, rief er: „Musik. Augenblicklich erklang der Sound einer Big-Band. Wie zu erwarten, war ihm auch dieses Stück unbekannt. Doch es gefiel ihm und er sah daher keine Veranlassung, eine andere Begleitmusik zu wählen. Also machte er sich ans Werk und goss als erstes eine Tasse Kaffee ein, dessen aromatischer Duft auch den allerletzten Rest von Müdigkeit vertrieb. Er hatte sich für heute noch einiges vorgenommen.

    Als er sein Frühstück beendet hatte, stand die Sonne bereits so hoch am Himmel, dass auch der letzte Rest von Schatten auf der Terrasse vertrieben war. Zudem hatte sie an Kraft gewonnen und verbreitete zunehmend Wärme, die er allerdings noch nicht als unangenehm empfand. Trotzdem zeigten sich bereits erste kleine Schweißperlen auf seiner Stirn, die sich jedoch in Grenzen hielten, da ein leichter, kühler Wind ständig einen Teil der Feuchtigkeit mit sich nahm. Der alte Mann stapelte nun sein Frühstücksgeschirr auf das Tablett, das sich, nachdem der Tisch vollständig abgeräumt war, unverzüglich auf den Weg zur Küche machte. Während im Hintergrund die Big-Band in dezenter Lautstärke ihr Werk verrichtete, lehnte sich der alte Mann in seinem Sessel zurück, um so in entspannter Haltung die Aussicht auf den vor ihm liegenden Park zu genießen. Plötzlich überkam ihn das Verlangen nach einer Zigarette und so formulierte er seinen Wunsch dem unsichtbaren Dritten gegenüber. Er rauchte nicht viel, nur hin und wieder

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