Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Natürlich Kuhtopie!: Topis Zuflucht
Natürlich Kuhtopie!: Topis Zuflucht
Natürlich Kuhtopie!: Topis Zuflucht
eBook466 Seiten5 Stunden

Natürlich Kuhtopie!: Topis Zuflucht

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Der Dritte Weltkrieg ist ausgebrochen, Ressourcen sind weltweit knapp, es mangelt am Nötigsten, überall herrschen Tod und Zerstörung.
Wirklich überall? NEIN!
In einem abgelegenen, 200 Jahre alten Bauernhaus, irgendwo in Bayern, hat "Topi" sich ihre eigene kleine Zuflucht geschaffen. Mit Kühen, Hühnern und anderen tierischen Mitbewohnern sowie ihrem einsiedlerischen Nachbarn, der schon alt war, als sie noch zur Schule ging, kann sie es ganz gut aushalten. Zunächst fehlt es ihr an nichts. Das Blatt wendet sich, als ihr Nachbar und alle anderen Menschen sich von jetzt auf gleich buchstäblich in Luft auflösen. Plötzlich ist sie ganz alleine mit ihrer Lieblingskuh und dem Rätsel um das Verschwinden der Menschheit.

Mit gesundem Galgenhumor, ungenierter Kritik an der modernen Gesellschaft, aber auch dem nötigen Ernst, befasst sich das Buch mit dem Thema: "Was wäre wenn..."
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum13. Jan. 2021
ISBN9783740721985
Natürlich Kuhtopie!: Topis Zuflucht
Autor

Justa L. Goblin

Justa L. Goblin ist eine begabte Hobbyautorin, mit Freude am Schreiben. Die Büroangestellte hatte rein aus Jux angefangen eine Kurzgeschichte aufzuschreiben, die ihr durch den Kopf ging. Mit jeder Seite, jeder unerwarteten Wendung, jeder Wortspielerei ergab sich eine weitere. Die Geschichte wurde länger und länger. Ganz unverhofft hatte sie am Ende die spannend-humoristische "Weltreise eines Bodyguards"-Trilogie geschrieben und konnte immer noch nicht aufhören, ihre Gedanken zu Papier zu bringen. Neue Geschichten mit ganz eigenen Charakteren entstanden. Ihre zweite Buchreihe "Natürlich Kuhtopie!" beginnt Anfang 2021 mit dem Erscheinen des ersten Bandes "Topis Zuflucht". Dabei handelt es sich um eine leicht düstere Utopie, die bei aller Ernsthaftigkeit doch einen gewissen Galgenhumor bereithält. Voraussichtlich Ende 2021/Anfang 2022 wird es dann mit einem weiteren Projekt über- äh, außerirdisch...

Ähnlich wie Natürlich Kuhtopie!

Titel in dieser Serie (1)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Dystopien für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Natürlich Kuhtopie!

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Natürlich Kuhtopie! - Justa L. Goblin

    Für meine Mutter und meine Oma

    Inhaltsverzeichnis

    Prolog

    Teil 1

    Mitte März

    Ende März bis Mitte April

    Ende April / Anfang Mai

    Mitte Mai bis Mitte Juni

    Ende Juni / Anfang Juli

    Mitte Juli

    Ende Juli bis Mitte August

    Zweite Augusthälfte

    September bis November

    Dezember

    Teil 2

    Januar

    Anfang Februar

    Mitte Februar

    Anfang bis Mitte März (vermutlich)

    April

    Anfang Mai

    Mitte bis Ende Mai

    Juni bis August

    September / Oktober

    November / Dezember

    Teil 3

    Januar

    Februar

    März

    April

    Juli

    August

    September / Oktober

    Ende November

    Dezember

    Teil 4

    Januar

    Anfang bis Mitte Februar

    März

    Ende April

    Anfang bis Mitte Mai

    Mitte bis Ende Mai

    Anfang bis Mitte Juni

    Ende Juni

    August

    November

    Dezember

    Teil 5

    Januar

    Februar

    März

    April

    Anfang Mai

    Mitte Mai

    Fremde Federn

    Verschreiber

    Hinweis am Rande

    Prolog

    Vor dem Krieg

    Vor dem Krieg wohnte ich unter der Woche in einem topmodernen dreistöckigen Haus, mit jeglichem vorstellbaren baulichen Luxus, am Rande einer mittelgroßen Stadt. Diese Villa hatte unter anderem eine Photovoltaikanlage auf dem Dach, Highspeed-Internet, einen Wintergarten mit Whirlpool, riesige Glasfronten, einen Großbildfernseher im Hauptbadezimmer sowie eine Sauna und ein Kinozimmer im Keller.

    Der Garten war winzig und von allen Seiten einsehbar, ebenso wie der ausladende Balkon und das komplette Haus an sich. Rundherum standen mehrgeschossige Häuser mit vielen Fenstern. Jeder Nachbar bekam alles von jedem anderen mit, sobald die Fenster offen waren oder man sich im Freien aufhielt. Es war unmöglich, seine Ruhe zu haben oder sich zurückzuziehen, vergebliche Liebesmüh, seine Privatsphäre schützen zu wollen.

    Selbst wenn hohe Sichtschutzzäune oder eine entsprechende sichtbehindernde Bepflanzung in dieser Nachbarschaft erlaubt gewesen wären, hätten sie nicht das gewünschte Ergebnis gebracht. Da hätte ich schon ein großes Zeltdach über mein komplettes Grundstück inklusive Haus breiten müssen. Anders wäre der Einblick aus den oberen Geschossen der Nachbarn nicht abzuwehren gewesen.

    Nicht nur die Außenbereiche wurden von diesen aufmerksamen Mitmenschen stets mit einem wachen Auge beaufsichtigt. Wenn ich nackt in meinem eigenen Haus herumlief – bei geschlossenen Fenstern und weitgehend zugezogenen Gardinen wohlgemerkt – dauerte es nicht lange, bis sich jemand darüber beschwerte.

    Warum die Leute mir zu den Fenstern hereinsahen, um meine störende Nacktheit zu bemerken, konnten sie mir nicht beantworten. Ich fragte jedes Mal danach, bekam aber nie eine befriedigende Antwort auf meine unverschämte Frage. Das täte ja schließlich nichts zur Sache, sagten die lieben Nachbarn. Wichtig sei nur, dass ich in meinem Haus nicht nackt zu sein hätte, weil sie sich von diesem Anblick gestört fühlten. Meine Erwiderung „Dann glotzen Sie mir nicht zu den Fenstern rein. Kümmern Sie sich lieber um Ihre eigenen Angelegenheiten!", sorgte für Unmut.

    Vermutlich wäre die Sichtbelästigung deutlich anders eingestuft worden, wäre ich dreißig Kilo leichter und ein paar Jahre jünger gewesen. Eine stark übergewichtige Enddreißigerin war ein schrecklicher Anblick, wenn man nichtsahnend den Nachbarn hinterherspionierte.

    Der einzige Grund, warum ich in diesem streng überwachten, rundum modernisierten Stammsitz meiner hochwohlgeborenen Familie seit zwei Jahren wohnte, war die reine örtliche und finanzielle Notwendigkeit. Von dem „von zwischen meinen vier schrecklichen Vornamen und dem überlangen Nachnamen konnte ich mir leider nichts kaufen. Das „alte Geld war längst aufgebraucht, ein paar Schulden aus der aufwändigen Renovierung des Prestigeobjektes, in dem ich hauste, hatte ich zusammen mit der Immobilie geerbt.

    Das notwendige Budget für meinen Lebensunterhalt und den Erhalt des riesigen Kastens musste ich erst mal verdienen. Der dazu notwendige, leidlich uninteressante Laborjob führte mich montags bis freitags in ein nur wenige Kilometer entferntes Saatzuchtinstitut. Die Strecke war zu Fuß zu bewältigen oder mit dem Fahrrad. Seit die Benzinkosten und Mietpreise immer weiter in den Himmel geschossen waren, blieb mir nichts anderes übrig, als diese Wohnmöglichkeit auszuschöpfen. Ein Haus dieser Größe und Lage alleine zu unterhalten und zu bewohnen, machte allerdings keinen Spaß.

    Ebenso wenig wie mein toller Name mit allem, was dazu gehörte. Passend zu den hochtrabenden Vornamen, die seit Generationen auf der väterlichen Seite meiner Sippe weitergereicht wurden, geschah das Gleiche mit dem Besitz und den Erwartungen an die Nachkommen. Ich war mit sämtlichen Namen der wichtigen alten Damen bedacht worden, ebenso wie mit deren Vorstellungen, wie ich zu sein, mich zu benehmen und was ich zu leisten hätte. Mein Name spricht bereits Bände – und das, was ich daraus gemacht habe, auch.

    Ich heiße laut Geburtsurkunde Theodora Ottilie Pauline Irmgard von Steinbrück zu Hochfluss. Nichts davon passt zu mir, auch wenn man versuchte, mich an Theodora zu gewöhnen. Darauf reagiere ich bis heute nicht. Auch nicht auf Dora und schon gar nicht auf Dorle. Kotz, würg, Brechreiz. Theo hätte ich mir eingehen lassen, aber da war ich leider die Einzige.

    In den ersten sechs Jahren meines Lebens probierte die mütterliche Seite meiner Familie verschiedene Varianten, Kombinationen oder – aus allgemeiner Sicht vertretbare – Abkürzungen des einen oder anderen meiner Vornamen als Rufnamen an mir aus. Nichts davon setzte sich durch.

    Sobald ich in die Schule kam und schreiben lernte, hatte sich das Problem in kürzester Zeit quasi von selbst erledigt. Aufgrund der unfassbaren Länge meines Namens und der noch unbegreiflicheren Hässlichkeit und des Hänsel-Potenzials schrieb ich auf meine Schulzeichnungen und Hefte einfach nur: T.O.P.I.

    Das passte zu mir und blieb hängen. Ein schöner Name, dem beim Ruf nach mir oft noch ein gehörter Vokal vorausging, wie in „Oh Topi, was hast du dir dabei nur wieder gedacht? oder „Uh! Topi, das ist doch eklig!

    Die erwartungsvollen Verwandten verstanden in der Regel meine Erklärungen, dass ich mir durchaus etwas dabei gedacht hatte und mein Forscherdrang auch eklige Sachen abdeckte, nicht einmal im Ansatz. Aber das war mir nach einer gewissen Zeit schlichtweg egal.

    Mit Abitur, Diplom und schließlich drei Doktortiteln hatte ich zwar nicht die Träume der Sippe von einer gut betuchten, standesgemäßen Heirat und der Produktion legitimer Erben erfüllt, mich aber wenigstens nicht als das rundum unwürdige Kind meiner nicht standesgemäßen Mutter erwiesen.

    Als einziges dunkelhaariges Wesen in einer sonst blonden Abstammungslinie, war ich ohnehin das geborene schwarze Schaf. Im wörtlichen sowie im übertragenen Sinn. Sobald es mir möglich gewesen war, hatte ich mein Glück in der Ferne gesucht und über fünfzehn Jahre beinahe überall auf der Welt gelebt. Nur nicht zu Hause.

    Wie dem auch sei. Als letzter noch lebender Spross meiner Familie, in direkter Linie, hatte ich dennoch alles Althergebrachte geerbt, nachdem der Plan meines äußerst liebenswerten Vaters, mich zu enterben, durch seinen ungeplant spontanen Unfalltod vereitelt worden war. So hatte ich wenigstens eine kleine Entschädigung dafür erhalten, dass dieser nette Zeitgenosse mir meine Kindheit und noch vieles mehr versaut hatte.

    Wäre das nicht sehr väterliche A….loch damit durchgekommen, hätten meine entfernten Cousinen geerbt. Die waren allesamt fünfzehn bis fünfundzwanzig Jahre älter als ich, hatten standesgemäß geheiratet und teils Erben produziert. Ach ja, und sie sahen mich seit meiner Geburt als das letzte Stück Dreck an – genau wie mein lieber Herr Papa das getan hatte. Sie ließen mich von klein auf bei jeder Gelegenheit, zu der ich ihnen hatte begegnen müssen, deutlich spüren, dass ich weit unter ihrem Niveau war. Nur meiner Mutter gegenüber hatten sie sich noch herablassender und ekelhafter verhalten.

    Als diese Cousinen dann auf ihrer Beerdigung Betroffenheit geheuchelt hatten – wohl in der Hoffnung etwas von der alleinstehenden, kinderlosen, letzten Erbin absahnen zu können –, hätte ich am liebsten um mich geschlagen. Wahlweise mit einer großen Axt!

    Mein erster Weg nach der Beerdigung meiner Mutter, die alles von ihrem Mann geerbt hatte und es nun mir hinterließ, führte mich zu einem Anwalt für Erbrecht. Die verwandtschaftlichen Geier zweiten, dritten, vierten oder noch höheren Grades würden nichts bekommen. Die Kinder meiner engsten Freunde, deren Nenntante ich von jeher war, würden erben. Sie waren für mich mehr Familie, als es die sprichwörtliche „bucklige Verwandtschaft" je gewesen war. Zumindest war die Erbfolge so geplant und juristisch festgelegt. Aber erstens kommt es immer anders und zweitens als man denkt.

    Neben dem Stadthaus, das aus der Linie meines biologischen Vaters stammte, hatte ich auch noch ein über zweihundert Jahre altes Bauernhaus aus der Familie meiner Mutter geerbt. Es lag eine gute Stunde weit weg mitten in der Pampa. Der nächste Nachbar war einen halben Kilometer entfernt und das großzügige Kerngrundstück, das als Garten fungierte, war von einer drei Meter hohen und mehrere Meter breiten Hecke, sowie dichtem Brennnessel- und Dornengestrüpp umgeben.

    Das Häuschen verfügte über fünf Wohnräume auf zwei Etagen, eine Wohnküche mit Holzfeuerherd, zwei Kachelöfen, eine geräumige Vorratskammer, einen ummauerten Keller und einen kleinen Spitzboden. Und natürlich gab es einen angeschlossenen Stall, mit Heuboden darüber.

    Vom Flur im Erdgeschoss aus kam man rechts in den Stall, links ins Wohnhaus mit Küche und Wohnzimmer. Beide Räume waren miteinander verbunden und durch die Küche kam man direkt in die Speisekammer. Die Treppe hoch gab es vier Zimmer, von denen nur drei vom Flur aus erreichbar waren. In das vierte kam man nur durch ein anderes Zimmer. Diese beiden kleinen, verbundenen Räume teilten sich einen Kachelofen. Die zwei größeren, separaten konnten vom Kachelofen zwischen Wohnzimmer und Flur über regelbare Schächte mit beheizt werden.

    Im oberen Flur führte eine Leiter durch eine Klappe zum Spitzboden. Ganz unten befand sich ein Keller mit zwei Räumen, der unter dem Wohnzimmer lag. Eine Falltür führte hinunter. Stall und Küche waren nicht unterkellert.

    Fließendes Wasser gab es keines, dafür einen Brunnen zum Grundwasser-per-Hand-Hochpumpen in der Küche, einen weiteren im Stall und einen Bach am südlichen Rand des Grundstücks, hinter dem Haus. Aus diesem Bach gewann ich Strom, durch ein kleines Wasserrad mit Dynamo. Die Speicherbatterie reichte locker, um Laptop-, Handy- und Werkzeugakkus zu laden.

    Dieses vollkommen veraltete Hexenhäuschen ohne modernen Luxus war mein liebster Ort auf der ganzen Welt. Dort verbrachte ich meine Wochenenden, seit ich wieder in Deutschland lebte. Was allerdings bedeutete, dass ich ein Auto unterhalten und zumindest den nötigsten Diesel für diese Strecke einmal in der Woche hin und zurück zusammenkratzen musste. Jeden Tag von dort zu pendeln war unmöglich. Nicht nur die Benzinpreise, sondern auch die Rationierung des knappen Gutes zwangen mich dazu, in der Nähe meines Arbeitsplatzes zu wohnen, also in dem verhassten Monstrum von Stammsitz, der den Großteil meiner Kindheit geprägt hatte.

    Wäre das Stadthaus als Mehrfamilienhaus mit separaten Wohneinheiten nutzbar gewesen, hätte ich mir wenigstens durch Vermietung etwas dazuverdienen können. Oder Wohnraum gegen Treibstoff oder andere knappe Ressourcen tauschen können. Leider war das so, wie das Haus beschaffen war, nicht möglich. Es gab zwar zwei Küchen und vier Bäder, aber keine vernünftige Abtrennung zwischen den Wohneinheiten – weder durch separate Stromzähler noch durch Mauern – und keine Möglichkeit, in die oberen Stockwerke zu gelangen, ohne die unteren durchqueren zu müssen.

    Sämtliche Umbaupläne mit Außentreppen oder Aufzügen, die ich dem Amt vorgelegt hatte, um eine entsprechende Trennung und Nutzung zu ermöglichen, waren vehement abgelehnt worden. Ich konnte nicht genügend PKW-Stellplätze vorweisen, um ein Mehrfamilienhaus daraus machen zu dürfen. Und Außentreppen hätten das Straßenbild der noblen Gegend ruiniert…

    Eine große WG zu gründen, wäre für mich der Horror schlechthin gewesen. Noch weniger Privatsphäre und noch weniger Abstand zum nächsten Nachbarn. Also wohnte ich alleine auf beinahe dreihundert Quadratmetern, verteilt auf drei Stockwerke, plus Keller und Dachboden; versuchte, dem Staub und Verfall Einhalt zu gebieten, die steigenden Kosten zu begleichen und das Beste daraus zu machen.

    Je deutlicher sich die weltpolitische Lage zuspitzte und das Nahen des nächsten Weltkrieges immer offensichtlicher wurde, brachte ich alles Nützliche, Tauschbare und für mich Wertvolle nach und nach in mein Haus auf dem Land. Zwei der fünf Zimmer und der halbe Stall standen innerhalb kürzester Zeit randvoll.

    Im hellen Wohnzimmer zog ich über den Winter Sämlinge heran, die an den Wochenenden Landluft schnuppern durften. In meinem Landhaus hortete ich in Keller und Speisekammer leere Gläser, Zucker, Essig, Öl und Salz, um die Früchte meiner Arbeit haltbar machen zu können.

    Alles, was ich in meinem winzigen Stadtgarten im Jahr zuvor kultiviert hatte, war schon vor Kriegsbeginn, mit zunehmender Rationierung, jeweils kurz vor Erreichen der vollen Reife verschwunden. Immer wenn ich von der Arbeit kam, fehlte wieder eine Gurke, eine Zucchini, eine Rispe Tomaten oder eine große Handvoll Beeren. Irgendein Schnorrer holte sich, was ich gesät, gehegt und gepflegt hatte.

    Als ich meine Pflanzen zum Schutz vor Plünderern in Eimern, Wannen und Kisten samt Erde in den Wintergarten und das Haus brachte, wurden Scheiben eingeschlagen, um dran zu kommen. Da fehlten dann nicht mehr nur Früchte, sondern ganze Stauden.

    Keiner meiner sonst so aufmerksamen Nachbarn konnte mir sagen, wer sich da bei mir bedient hatte und wer eingebrochen war. Dass ich die kaputten Fenster anschließend mit Holz vernagelte und mit allem Greifbaren abdichtete, bemerkten sie wiederum sofort und beschwerten sich, wie furchtbar das aussah. Wenigstens hielt das einigermaßen die Kälte des anschließenden Herbstes und Winters fern. Und – ganz wichtig! – durch das Holz konnte mir keiner mehr hineinsehen.

    So merkten meine umgebenden Mitmenschen nicht, dass das Haus immer leerer wurde und die wenigen verbliebenen, sperrigen Möbel als zusätzliche Barrikaden vor die vernagelten Fenster geschoben waren. Meinen Wagen belud ich in der integrierten Garage und legte Decken über das Frachtgut, ehe ich freitags so schnell wie möglich aufs Land fuhr. Einen Teil der evakuierten Möbel und einige hübsche Staubfänger konnte ich auf dem Weg ins Wochenende gegen einige Rollen Maschendrahtzaun und ein paar Hühner plus Hahn eintauschen.

    Mit Hilfe einer stabilen Konstruktion aus abgesägten Haselnusshölzern wurde der Maschendrahtzaun zu einem verschiebbaren Gehege für das wertvolle Federvieh. So konnten die Vögel, sobald es warm genug wurde, gut geschützt vor Füchsen und Mardern, jede Woche an einem anderen Teil der Wiese scharren und das Ungeziefer dort fressen. Ihr Haus für die Nacht und zum Eier legen stand auf Rädern – auf vier alten hölzernen Wagenrädern, die ich in einem überwucherten Gebüsch auf meinem Grundstück gefunden hatte. Für die kalten Monate kam das gackernde Volk in einen abgesicherten Bereich des Stalles, der mit einem Wassertrog und einem Futterspender ausgerüstet war.

    Als dann gleich in den ersten Wochen des Krieges die Stadt, in der ich gelebt hatte, zu einem einzigen großen Krater wurde, bedauerte ich den Verlust nicht allzu sehr. Meine Freunde lebten zum Glück in anderen Ortschaften oder waren rechtzeitig geflohen und ich war in meinem Landhaus gewesen, als es knallte. Alle Menschen, die mir noch etwas bedeuteten, waren zunächst in Sicherheit.

    Der Angriff geschah samstagnachts. Die Explosion hatte man selbst bis zu meinem weit entfernten Bauernhaus noch gehört und das Licht des Feuerballs deutlich gesehen. Innerhalb eines Augenblicks war alles vorbei. Ich wollte gar nicht wissen, was für eine Lenkrakete, Drohne oder Abwurf-Ladung welcher Nation da niedergegangen war. Mein automatischer Messenger verriet es mir trotzdem. Ebenso wie das Ausmaß der Zerstörung und die Zahl der Toten. Eine einzige Sprengladung hatte gereicht, um hunderttausend Menschen ins Jenseits zu befördern und eine ganze Stadt auszuradieren. Nicht einmal Ruinen blieben übrig, nur ein großer Krater. Die Menschheit entwickelte sich wirklich weiter, zumindest was die Waffentechnik anging. Waffen aller Art waren dieser Tage das Einzige, was man ohne Probleme bekommen konnte.

    Die Inflation war zu diesem Zeitpunkt an einem Punkt angekommen, dass sich Arbeiten gehen lange nicht mehr lohnte. Selbst mit den Bezugsmarken, die man anstatt des gewohnten Gehaltes bekam, war es schwierig, das Nötigste zu bekommen. Einer stahl vom anderen, in der Hoffnung, über die Runden zu kommen. Bereits im letzten Jahr vor dem eigentlichen Krieg hatte sich die Knappheit an Allem durch verschiedene Embargos, Handelssperren, Missernten, schwindende Rohstoffe, Wirtschaftskrisen, Fehlplanung und sonstige Engpässe so gesteigert, dass es sich keiner mehr leisten konnte, großzügig zu sein.

    Die Kriminalität stieg, die Menschlichkeit nahm im gleichen Maße ab wie die verfügbaren Ressourcen. Wer die Möglichkeit hatte, etwas anzubauen oder einzutauschen, ergriff sie. Wer das nicht konnte, setzte Gewalt oder Hinterlist ein, um es sich zu besorgen. Der Kontakt zu anderen Menschen wurde ein zunehmendes Risiko. Auch wegen biologischer Kampfstoffe, die in Form von aggressiven Viren eingesetzt wurden. Manche befanden sich im Trinkwasser, andere wurden von Mensch zu Mensch übertragen, mit langen Inkubationszeiten, die maximale Ansteckungs- und Wirkungsraten garantierten.

    Ein weit abgelegenes Haus irgendwo im Nirgendwo zu haben, das an keine Wasserversorgung, Kanalisation, Telefonleitung oder Stromversorgung angeschlossen war und in keinem Bebauungsplan oder Navi-Straßennetz auftauchte, war ein Segen. Das Wertvollste, was man nur besitzen konnte. Kein Fremder würde dorthin kommen, oder auf Verdacht den weiten Weg auf sich nehmen. Kein Amt hatte meinen Besitz auf dem Schirm, ob ich noch lebte, war von offizieller Seite vermutlich nicht geklärt. Nur meine engsten Freunde und der einzige Nachbar fünfhundert Meter weiter – ein alter Einsiedler, dem ich als Kind selbstgemachte Marmelade gebracht hatte – wussten von meiner lebendigen Anwesenheit in meinem Haus in meinem geheimen Garten.

    Die großen, alten Bäume um das Haus herum waren dicht genug, das verwitterte, bemooste Schindeldach vor Satelliten oder anderen Luftbilderfassungen zu verbergen. Die nächste kleine Ansiedlung in Form von vier Häusern und einer Wirtschaft war fünf Kilometer entfernt. Zwischen dort und mir gab es nur Wiesen, Felder, Wald und Seen. Meine dichte Hecke, die massenhaft vorhandenen Brennnesseln, dickes Brombeer- und Himbeergestrüpp und das stabile, mit Efeu bewachsene Zufahrtstor taten ein Übriges, um meine kleine Zufluchtsstätte zu verbergen.

    Das Haus lag am hintersten Ende des Grundstücks. Man musste an der nördlichen Hecke entlang die komplette Länge durchqueren, an strategisch gepflanzten hohen Baumgrüppchen und aufgeschütteten Hügelbeeten vorbei, um zu ihm zu gelangen. Vom Haupttor aus sah man kein Gebäude. Von irgendeiner Straße aus erst recht nicht. Die kleinen Teerstraßen endeten einen Kilometer vor meinem Tor. Die einzige Zufahrt stellte ein rundum eingewachsener Feldweg dar. Außer mir benutzten den nur mein einziger Nachbar, dessen Felder und Weiden an mein Land angrenzten, und ein Milchtanklaster, der dort unter der Woche ein paar Mal vorbeifuhr.

    Nun musste ich nicht mehr unter Menschen, mein Fehlen würde niemandem auffallen, meine Daueraufträge liefen munter weiter, bis das Geld alle war. Vermutlich würde ich früher oder später für tot erklärt werden, wenn die Ämter es irgendwann bewerkstelligen sollten, wieder einen Überblick zu bekommen. Da nicht nur mein Haus und die Firma weg waren, für die ich gearbeitet hatte, sondern auch das Einwohnermeldeamt, die Führerscheinstelle und die komplette Stadtverwaltung sowie die Stadt selbst, konnte das eine Weile dauern. So wie es überall im Land und auf der Welt aussah, würde es sogar noch länger als eine Weile dauern. Eine kleine Ewigkeit womöglich.

    Mein neues Leben als vermutlich Totgeglaubte begann im Frühling. Alles begann zu sprießen, die Natur hielt genug bereit, wovon ich mich ernähren konnte und da meine Oma, die hier während meiner Kindheit gelebt hatte, eine leidenschaftliche Gärtnerin gewesen war, hatte ich gewisse Vorteile.

    Es war professionelles Gerät vorhanden und sie hatte mir sehr viel beigebracht in der Zeit, die ich bei ihr verbracht hatte. Das waren viele glückliche Wochenenden und Schulferien gewesen. Ich hatte schon immer die beengte Stadt gehasst – ebenso wie meinen Vater, der sich dort aufhielt – und das weite Land geliebt – genau wie meine Oma.

    In einer Stadt konnte man zurechtkommen, wenn man es musste. Aber leben? Das war für mich kein Leben. Lebendig fühlte ich mich zwischen Bäumen und Beeten, unter einem Himmel, den man bei Nacht klar sehen konnte, ohne störendes Licht oder Smog. Auf einer grünen, wilden Wiese inmitten von summenden Insekten. Das war ein Lebensstil, den ich mir schon immer gewünscht hatte. Und nun hinderte mich nichts mehr daran. Die Welt war ohnehin am Ende, Geld zu verdienen oder einen Stammsitz zu erhalten, gab es nicht mehr. Alles, was ich besaß, war hier. Keine Zwänge für Frau Dr. Dr. Dr. Theodora Ottilie Pauline Irmgard von Steinbrück zu Hochfluss mehr, die war soeben verstorben und das Geschlecht derer von Steinbrück zu Hochfluss damit endgültig ausgestorben. Nun gab es nur noch Freiheit für Topi!

    Eine meiner ersten Amtshandlungen in meinem neuen, unabhängigen Dasein bestand darin, den großen vierrädrigen Handkarren mit zwei Kommoden voller Blurays und DVDs zu beladen und mich auf einen zehn Kilometer-Marsch zu begeben. Die Filme und Möbelstücke waren der vereinbarte Preis für die junge Milchkuh und ihr erstes Kalb, die ich abholen ging.

    Auf dem Rückweg würde die Kuh den Wagen ziehen. Ohne Ladung wäre er um einiges leichter und notfalls konnte das kleine Kälbchen auf dem Wagen mitfahren, wenn der Marsch zu anstrengend wurde. Seine Mutter würde es gerne ziehen, nahm ich an. Ein altes Ochsengeschirr, das in der Scheune gewesen war, würde dafür zum Einsatz kommen.

    Mais, Kartoffeln, Sonnenblumen, Getreide, Bohnen und einiges mehr lagen zur Aussaat parat. Zusammen mit dem ganzen Gemüse, das im großen, hellen Wohnzimmer zum Teil schon zu Jungpflanzen heranwuchs, würde ich garantiert keinen Hunger leiden. Ein paar Eier als Ergänzung, hin und wieder ein junges Huhn und nun die Milch der Mutterkuh. Mir würde es gut gehen. Ein praktisch veranlagter Mensch, ohne Luxusphantasien, hatte in diesen Zeiten die besten Karten.

    All die geltungssüchtigen Managertypen und Firmenchefs würden sich umsehen, wenn sie in ihren Villen und Penthäusern plötzlich ohne Strom, Wasser, Heizung und Nahrung dasaßen und wertvolle Gemälde oder Diamantschmuck gegen Brennholz und Karotten tauschen mussten. Ich stellte mir hämisch grinsend den überheblichen Personalchef vor, der mich zu seinem persönlichen Fußabtreter auserkoren hatte, nachdem er bei mir abgeblitzt war. Falls er nicht schon tot war – falls er nicht in der Stadt gewesen war – würde er nicht mehr viel Spaß in seinem Leben haben. Schöner Gedanke, endlich siegte die Gerechtigkeit. Ja, mit der Zeit bin ich boshaft geworden, was Menschen angeht, die mir Unrecht taten oder es sogar gezielt darauf abgesehen hatten, mir zu schaden.

    Um zwei meiner Kollegen tat es mir hingegen ehrlich leid, aber so ist Krieg eben. Meine Großmutter hatte zwei Weltkriege überlebt und mir genug davon erzählt, um ein klares Bild zu vermitteln. Sie war mehr als einmal nur haarscharf mit dem Leben davongekommen. Von ihren zahlreichen Geschwistern hatte nur ein Bruder ebenfalls beide Kriege überlebt, um ein Jahr später an einer widerwärtigen Krankheit elend zu Grunde zu gehen, die er sich auf den Schlachtfeldern Afrikas eingefangen hatte. Man konnte zusehen, wie ihm das Fleisch am Körper verfaulte und in großen Brocken von ihm abfiel. Es muss furchtbar gestunken haben und er hatte trotz Morphium höllische Schmerzen zu leiden gehabt.

    Ab da war meine Oma alleine, bis meine Mutter Ende der 1940er geboren wurde. Die handfeste Witwe hatte sich alleine um den schreienden Säugling und den Hof gekümmert.

    „Ich hoffe, vor dem nächsten Krieg bin ich tot! Sowas will ich nicht noch einmal erleben müssen. Und meinen Nachfahren wünsche ich es auch nicht", hatte meine Oma mehrfach gesagt. Naja, zum Großteil hatte sich dieser Wunsch erfüllt. Sie selbst und ihr einziges Kind waren bereits Jahre vor dem neuen Kriegsbeginn gestorben. Nur ich war noch übrig und versuchte, mich von Kriegsschauplätzen, möglichen lohnenden Angriffszielen und von der durchgedrehten Menschheit an sich fern zu halten.

    Meine Mutter war in den sechziger Jahren mal von einem Lehrer mit einem Verweis bedacht worden, weil sie auf das Aufsatzthema „Was würden Sie im Kriegsfall zur Verteidigung Ihres Vaterlandes beitragen? geschrieben hatte: „Garnichts! Ich würde so schnell es geht flüchten, in ein Land, in dem kein Krieg herrscht.

    Ihre Begründungen waren gut argumentiert, in sich schlüssig und vollkommen logisch aufgebaut gewesen, die Rechtschreibung gut und das Schriftbild einwandfrei. Trotzdem hatte es eine Bomben-Sechs und einen Verweis gegeben. Themaverfehlung und Insubordination!

    Ich glaube, meine Mutter war ein bisschen stolz auf mich, als ich in der Oberstufe einen ähnlichen Aufschrei – inklusive Note Sechs – verursachte, weil ich es gewagt hatte, in einem Aufsatz mit der Fragestellung „Was halten Sie davon, wenn… tatsächlich meine ehrliche Meinung zu schreiben. Mein Schriftbild war Scheiße und die Orthographie eine Katastrophe, Kommas kannte ich gar nicht. Dafür war die Darlegung, wie wenig ich davon hielt, „wenn…, aus meiner Sicht sehr unterhaltsam und klar gewesen.

    Meine Mutter bat die Lehrerin um eine Kopie meines Aufsatzes, als sie zu ihr in die Sprechstunde zitiert wurde. Die giftige Lehrerin kochte mit hochrotem Kopf fast über, als sie nach dem Gespräch den Raum verließ. Meine Mutter hakte mich Tränen lachend unter und bat mich darum, in solchen Fällen meine wahre Meinung doch bitte zumindest so lange für mich zu behalten, bis ich mein Abi in der Tasche hätte.

    Diesen Gefallen tat ich ihr sogar bis kurz vor Ende meines Kernstudiums. In der Diplomarbeit brachte ich es jedoch nicht über mich, mich der offenkundigen Meinung des zuständigen Professors anzupassen, sondern beharrte auf meinem Standpunkt. Damit bestand ich gerade eben noch so. Die Richtigkeit meiner umfassenden Versuche und Forschungsergebnisse konnte er nicht widerlegen, nur meine Schlussfolgerungen als fehlgeleitet darstellen. Eine Nachkorrektur durch ein unabhängiges Gremium, die ich verlangte, verbesserte meine Note auf eine Eins Minus. Der Professor tobte. Wenn dieser Professor gewusst hätte, dass ich viele Jahre später mit meiner Schwarzmalerei recht behalten sollte, wäre die Bewertung womöglich anders ausgefallen. Was jetzt ohnehin keine Rolle mehr spielte.

    Der Herr hatte vermutlich nicht mehr die Möglichkeit bekommen, seinen Irrtum einzusehen. Bis bekannt wurde, was tatsächlich geschehen war, hatte sich die Weltbevölkerung von mehreren Milliarden auf ein paar Tausend reduziert und befand sich technisch gesehen beinahe zurück im Mittelalter. Innerhalb weniger Tage war die moderne Welt, wie wir sie gekannt hatten, untergegangen. Nichts davon war mehr übrig.

    Aber lassen Sie mich nicht vorgreifen. Ich möchte der Reihe nach erzählen, wie es so schnell so weit mit der Menschheit bergab gehen konnte.

    Teil 1

    Das erste Jahr

    Der Krieg beginnt

    Mitte März

    Die Kuh, die ich mir ausgesucht hatte, um meine Hausgenossin zu werden, war mir aufgefallen, weil sie cleverer war als ihre Stallkolleginnen. Als ich sie zum ersten Mal sah, hatte sie gerade ihre Hörner benutzt, um den Elektrozaun anzuheben, der sie und ihre Herde von den verlockenderen, grüneren Wiesen trennte, die nicht für das grasende Vieh vorgesehen gewesen waren. Sie sah auch nach links und rechts, ehe sie eine Straße überquerte und schubste Kleinere zurück, wenn sie ohne zu kucken losliefen.

    Die Bäuerin war hoch erfreut, ausgerechnet dieses Tier loszuwerden und dafür noch eine große Filmsammlung für ihren Junior einheimsen zu können. Sie gab mir ein paar kleinere Stroh- und Heuballen oben drauf, nachdem meine Wahl feststand. Die schlaue Kuh machte ihr zu viele Probleme, und wenn man schon ein Mitglied der Herde – oder zwei, wenn man ihr Kalb mitrechnete – abgab, dann doch am besten ein ungeliebtes Mitglied, einen Störenfried.

    Der gezielte Kick der Hornträgerin gegen den Oberschenkel des tumben Bauernburschen, der ihr Kalb piesackte, bestärkte mich darin, das richtige Rindvieh ausgewählt zu haben. Wenn sie sich ebenso vehement und mutig gegen wilde Tiere wehrte, die ihr oder ihrem Kalb etwas anhaben wollten – oder anderen Bewohnern unserer kleinen zukünftigen Gemeinschaft –, würden wir lange Freude miteinander haben. Ein Tier mit Verstand und eigenem Kopf mag schwerer zu kontrollieren sein, aber es hat auch bessere Überlebenschancen, lernt schneller und kann im Notfall zu einer großen Hilfe werden.

    Sie enttäuschte mich nicht. Gleich als ich anfing, ihr das Ochsengeschirr anzulegen und sie vor den Wagen zu spannen, begriff sie, dass ihre Tage auf diesem Hof gezählt waren. Sie beschnüffelte mich ausgiebig, zog hier und da ein wenig den Kopf ein, aber ließ mich gewähren. Sie registrierte, wie vorsichtig ich mit den Holz- und Eisenteilen zu Werke ging, um ihr nicht weh zu tun, und das Geschirr an den richtigen Stellen auspolsterte, damit sie es bequemer hatte. Sie war doch um einiges schmaler als der kapitale Ochse auf den alten Fotografien, der das Geschirr zuletzt um 1950 getragen hatte. Auch damals war es mit Maschinen und Benzin nicht gut gestanden und man war froh gewesen, auf altbewährte Muskelkraft zurückgreifen zu können.

    Fertig verzurrt ließ sie ihren Blick über ihre alte Herde und den Hof schweifen, sah sich noch einmal zum Stall um, schüttelte den Kopf, wie in einer unangenehmen Erinnerung, und blickte dann entschlossen nach vorne. Sie schien zu sagen: „Es kann los gehen. Mal sehen, was es sonst noch so gibt". Ich strich ihr über den Kopf, nahm den Führstrick auf und ging los. Berta – wie sie vom Bauern getauft worden war – leckte ihrem Kalb über die Nase, das mit einem Strick an ihrer Seite festgebunden war, senkte den Kopf und marschierte los, mir nach.

    Die ersten Kilometer ging es hervorragend. Wir bewegten uns vornehmlich auf verwaisten Nebenstraßen und Feldwegen, kamen gut voran und uns nicht mit dem dünnen motorisierten Verkehr ins Gehege. Der Strick hing locker durch, Berta stapfte friedlich hinter mir her und das Kalb trippelte mit. Nach einer Weile merkte man dem kleinen Rindermädchen jedoch an, dass es mit seinen noch nicht mal ganz zwei Monaten weite Spaziergänge nicht gewöhnt war. Da es im Winter zur Welt gekommen war, hatte es außer dem heimischen Stall vermutlich noch nicht viel von der Welt zu sehen bekommen und nur wenig Gelegenheit gehabt, seine Muskeln zu trainieren.

    Ich blieb stehen, besah mir das Kalb, das bisher noch keinen Namen hatte und beschloss, dass es seine Kräfte ein wenig schonen sollte. Mit zwei Strohballen baute ich eine improvisierte Tritthilfe, band das Kleine von seiner Mutter los und führte es zum Karren. Es beschnüffelte den Wagen und das Stroh, machte aber keine Anstalten, dem leichten Zug am Strick um seinen Hals auf den Wagen hinauf zu folgen. Ich ging vor, um zu demonstrieren, wie das funktionierte und zog dann noch mal. Das Jungtier blinkte mich mit seinen großen Augen an und rührte sich nicht von der Stelle. Ich stieg vom Wagen herunter, stellte mich hinter das Kalb und schob leicht. Es wandte seinen Kopf über die Schulter zu mir zurück und blinkte mich wieder verständnislos an, mit Augen wie Scheinwerfern.

    „Weißt du was, dich nenne ich Blinki. Das passt zu dir." Das Kleine

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1