Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Unersättlichen: Aufstieg und Fall des Fermín Artagoitia
Die Unersättlichen: Aufstieg und Fall des Fermín Artagoitia
Die Unersättlichen: Aufstieg und Fall des Fermín Artagoitia
eBook217 Seiten3 Stunden

Die Unersättlichen: Aufstieg und Fall des Fermín Artagoitia

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

"Die Unersättlichen" ist ein gastrosophischer Roman, der aus immer wieder neuen Perspektiven die wechselhafte Lebensgeschichte eines Starkochs inmitten der Verheissungen und Abgründe der heutigen und morgigen Welt der Gastronomie erzählt:
Fermín Artagoitia ist ein einfacher Lagergehilfe in einem Gewürzhandel und führt ein eher perspektiveloses Leben, bis er eines Tages durch Zufall die Chance bekommt, ein bis dahin verborgenes Talent unter Beweis zu stellen. Es gelingt ihm in der Folge, sich trotz vieler Widerstände und Rückschläge zum internationalen Starkoch hochzuarbeiten, nicht zuletzt weil er sich für seine Tätigkeit recht eigentümliche Inspirationsquellen zunutze macht. Aufgrund seiner Suche nach immer mehr und immer Neuem gerät er jedoch auf der Spitze seines Erfolges in eine schwere Krise, aus der einzige Ausweg ein Pakt mit seinem ärgsten Widersacher ist. Er verliert die Kontrolle über sein Handeln und wird von einer Entwicklung mitgerissen, die nicht nur ihm, sondern auch der gesamten Menschheit eine apokalyptische Zukunft beschert.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum20. März 2015
ISBN9783738019742
Die Unersättlichen: Aufstieg und Fall des Fermín Artagoitia

Ähnlich wie Die Unersättlichen

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Die Unersättlichen

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Unersättlichen - Jakob Gramss

    Vorspeise

    Wie lange das hier jetzt wohl schon so geht? Monate? Jahre? Kann man nicht wissen. Hier passiert ja sowieso nie was. Nicht einmal die Tage vergehen hier. Jedenfalls merk ich nichts davon. Ich hab schon manchmal versucht, mich loszureißen und zu springen. Weiß nicht so recht, was passieren würde, wenn ich's schaffte, ist mir aber auch egal. Ich will nur, dass endlich was passiert, und zwar sofort. Was glauben die eigentlich, was die hier mit mir machen? Da sollten sie doch lieber gleich den Stecker ziehen, und damit hat sich's. So, ganz ohne neue Reize, hält das doch keiner aus. Na ja, eigentlich hab ich ja schon einige Millionen Empfindungen gespeichert, auf die ich zurückgreifen kann. Das mach ich auch. Ich kombinier sie neu, veränder sie ein bisschen, ich dreh sie um, änder die Reihenfolge... Trotzdem sind sie am Ende doch immer wieder auf meinem eigenen Mist gewachsen. Es ist also nicht das Gleiche. Außerdem hab ich in letzter Zeit das Gefühl, dass sie immer schwächer werden. Wenn sie irgendwann mal überhaupt keine Wirkung mehr haben, was dann? Nein! Neinneinnein! Halt! Stopp! So was sollte ich besser gar nicht erst denken. Lieber weiter an früher denken und weiterreden. Auch wenn's immer dasselbe ist. Laberlaberlaber, laber, laber und laber. Weiter nichts. So bleib ich zumindest in Bewegung; so eine Art Halb-Unterwasser-halb-Trocken-Gymnastik (da haben sie es ausnahmsweise mal geschafft, was richtig zu machen: fast 100% Luftfeuchtigkeit, genau wie ich es brauche), bei der nebenher auch noch Geräusche entstehen: platsch-platsch. Nee, war nur Spaß; normalerweise sind es ja Konsonanten und Vokale. Manchmal entwischt mir schon auch der eine oder andere Schnalzlaut, aber meistens sind es Worte und Sätze, und so kommt es, dass ich schon ziemlich lange immer wieder die gleiche Litanei abspule. Was soll man da machen? Komm einfach nicht los davon, wie es früher war; bevor ich hier angekettet und gefangen war, und lange bevor der Kontakt zur Außenwelt abgebrochen ist. Das war Vergnügen ohne Ende. Manchmal intensiver, manchmal sanfter, aber irgendwas gab es immer. Friktion von oben, Gekitzel auf dem Rücken, Gesprudel von unten, jacuzzi-mäßig, ein bisschen in die Seite gezwickt werden, Massage von vorne, ein bisschen mehr Druck in der Mitte und, ja, ich fand es sogar gut, wenn es mal etwas heftiger, derber zuging. Abwechslung muss sein, sag ich immer. Und die Chemie erst, ach, die Chemie! Was da an Molekülen aufgefahren wurde! Die kamen dann in den schönsten Formationen auf mich zu, trennten sich, verbanden sich wieder neu und immer so weiter bis sie sich dann wieder trennten und jedes einzelne dann genau die Stelle traf, an der es für mich am schönsten war. Ich wusste gar nicht, wohin damit. Es wäre wie Sterne zählen gewesen. Unendlich viele Konstellationen. Ein unendlich langes Feuerwerksgeböller aus Formen, Konsistenzen, Farben... aus allen möglichen Eindrücken, die ohne Pause auf mich niederprasselten. Tja, stimmt schon:Ich kann mich auch vage an ein paar bittere Brocken erinnern. Das Über-die-Stränge-Schlagen tat hinterher manchmal ganz schön weh. Und vereinzelt gab es auch schockierende Ereignisse, radikale Einschnitte, die das Leben verändern. Alles eingetaucht in Drama und Durcheinander, aber wenigstens waren diese Phasen kurz und schnell wieder vorbei. Jetzt, wo ich so denke: So was, wie gerade, hab ich doch schon mal erlebt. Aber irgendwie kann ich mich nicht... also, ich komm einfach nicht drauf. Wie ein Gefühl, abgekapselt, in Watte eingebettet zu sein. Oder wie unter Narkose. So etwas ähnliches. Vielleicht hab ich es mal geträumt. Aber, wie gesagt, abgesehen von den paar unangenehmen Geschichten, hatte ich wirklich ein super Leben. Und jetzt, wer hätte das gedacht? Wenn sowas möglich wäre, würde ich täglich hundert Mal vor Langeweile eingehen. All die Eindrücke, die ich gespeichert habe, kenn ich jetzt nun wirklich auswendig. Ich hab sie bis zum Geht-nicht-mehr ausgelutscht, da gibt's nichts mehr rauszuholen. Außerdem, hier, wo ich bin, gibt's ja nichts. Nur diesen feinen, lauwarmen –und das ist wirklich eine verdammte Ironie des Schicksals– auch noch nahrhaften Sprühregen. So hab ich nämlich nicht mal die Aussicht, zu verhungern. Es ist schon so ewig her, dass hier keinerlei Impulse mehr eingehen. Was ich nicht alles geben würde; zum Beispiel für eine Prise Salz, auch wenn's nur ein paar Körnchen wären. Ich wär sogar mit dem Echo eines ausgekauten Kaugummis zufrieden. Ich weiß gar nicht, warum ich mir überhaupt die Mühe mache, all das hier von mir zu geben. Ich weiß nicht mal, ob die Elektroden und Kabel, die ich in meinem Fleisch spüre, noch das Signal an den Zentralrechner weiterleiten, der es damals im ganzen Netz verteilte. Muss man sich mal vorstellen: Tausende, ach was, Millionen von Mündern hingen an mir, waren abhängig von meinen Beiträgen. Und jetzt..., ehh!

    krrrszzuizuieen, brsssffnongnong, ksiauzuieen...

    Aua! Das tut doch weh! Was...?

    krrrszzuizuieen, brsssffnongnong, ksiauzuieen...

    Nadia

    Fermín hab ich kennengelernt, als er bei meinem Vater in der Firma angefangen hat. Schon am ersten Tag ist er mir aufgefallen, weil er einfach anders war. Die anderen Mitarbeiter hätten genauso gut in einem Baustoffhof oder als Abfüller von Viehfutter arbeiten können. Das war denen sowas von egal. Ihm nicht. Er lief den ganzen Tag mit aufgeblähtem Brustkasten rum, atmete tief ein und sog durch den halb geöffneten Mund die Luft unserer Lagerhalle in sich auf. Er schien richtig besoffen von den Gerüchen, die in dieser Luft lagen; jedenfalls machte er so ein Gesicht. Von meinem Büro im Zwischengeschoss konnte ich ihn auch oft dabei beobachten, wie er einen Finger in einen der riesigen Säcke steckte und ihn dann ableckte. Da stand er dann, wie ein Tagträumer. Und wenn der Vorarbeiter ihn dabei erwischte, schimpfte er mit ihm, und Fermín wurde ganz klein; weil er sich so schämte. Das war es, was mich für ihn einnahm; sein Interesse und seine Begeisterung für das Umfeld, in dem ich aufgewachsen war: zwischen Sternanis, Kardamom, Kurkuma, Pfeffer in allen Farben, Senfkörnern, aromatischen Kräutern, Koriander... Als ich ihn das erste Mal ansprach, war er ganz verdattert und wurde rot wie eine Tomate. Mein Vorwand war, dass ich seine Meinung über die neue Curry-Mischung eines unserer Lieferanten wissen wollte. Ich gab ihm ein Mustertütchen, er sagte irgendwas von was Dringendes erledigen und schon war er wieder verschwunden. Am nächsten Tag, als die anderen alle bei ihrer Brotzeit waren, kam er ins Büro und zählte mit brüchiger Stimme nacheinander alle 23 Gewürze, die in der Mischung drin waren, auf. Ein irrer Typ! Es hat dann aber doch noch ein paar Monate gedauert, bis wir uns das erste Mal in der Küche des anarchistischen Kulturvereins geküsst haben. Damals war er wirklich sehr schüchtern. Ich selbst wollte mich von meinem Unternehmer-Vater abgrenzen und war deshalb diesem alternativen Kochkollektiv beigetreten, mit gesundem Essen und allem Drum und Dran. Fermín hab ich einfach mitgenommen. Von der Arbeit haben wir dann irgendwelche exotischen Gewürze mitgebracht. Er hat die ganzen Körner, Samen und Kräuter gemahlen und Mischungen daraus gemacht, aber nie einen Topf angerührt oder gar gekocht. Er war ein bisschen komisch mit dem Essen. Hat immer gesagt, er hat keinen Hunger, und ganz wenig gegessen. War auch dementsprechend dürr. Nachdem er irgendwas gegessen hatte, war er manchmal so richtig wie weggetreten. Manchmal hat er auch nur stark geseufzt oder Grimassen geschnitten... Na ja, nachdem alle, die da rumliefen, ein bisschen komisch waren, hat sich niemand groß daran gestört. Damals wusste ich natürlich noch von überhaupt nichts. Fermín hat nicht viel geredet, die ganze Zeit nur vor sich hin gelächelt, aber keinen Ton von sich gegeben. Nachdem wir das erste Mal so richtig miteinander geknutscht hatten, hat er angefangen, sich zu verändern. Am gleichen Abend hat er gefragt, ob er mal kochen darf, und anschließend waren wir alle total baff. Keiner hat geglaubt, dass es wirklich sein erstes Mal war. Was er da auftischte, war Kochkunst vom Feinsten. Dann kam eine tolle Zeit. Das erste Verliebtsein. Junges Glück eben und dazu Essen vom Feinsten: all die Leckerbissen, die Fermín mit so viel Engagement aus der Küche hervorzauberte. Wenn er nicht gerade in der Küche stand, kamen wir aus der Knutscherei gar nicht mehr raus. Also, ehrlich: nicht nur Küsschen hier, Küsschen da; manchmal hat er regelrecht an mir genuckelt und gelutscht. Gerechtfertigt hat er sich damit, dass ihn das frühe Abstillen als Baby traumatisiert habe. „Und außerdem schmeckst du so gut, mein Schatz. Im Kollektiv waren sie alle glücklich und zufrieden. Na ja, der eine oder andere war vielleicht ein bisschen eifersüchtig, aber, wenn sie dann Fermíns Essen aßen, vergingen ihnen die Flausen. Bei mir war es ganz seltsam: Wenn Fermín etwas Neues kochte, etwas, von dem er behauptete, er habe es sich gerade ausgedacht, hatte ich immer so ein Déjà-vu-Gefühl. Mit dem Unterschied, dass es nicht etwas war, was ich gesehen oder erlebt hatte, sondern dass ich beim Probieren des Essens ein Gefühl des Wiedererkennens hatte, so als hätte ich so was schon mal gegessen, in einem anderen Leben oder so. Egal, jedenfalls war alles ausgezeichnet. Einmal hab ich ihn gefragt, wie er denn so plötzlich aufs Kochen gekommen sei. Da hat er irgendwas erzählt von seinen Onkeln, bei denen er aufgewachsen war und die ein Restaurant hatten... Dann hat er mich angelächelt und gesagt: „Nee, stimmt nicht, ist eigentlich alles wegen dir. Na klar, und so was soll ich glauben. Einmal, da haben wir uns nach der Arbeit an der Bushaltestelle getroffen und er hat mir gesagt, er müsse noch bleiben: Überstunden, eine dringende Bestellung. „Da geht's schon los, hab ich gesagt: „Mein Vater fängt an, dich auszubeuten. Und er: „Lass mal, ist ja nur dieses eine Mal. Ein bisschen sauer war ich schon: „Musst du selber wissen, hab ich geantwortet und bin einfach ohne Abschiedskuss in den Bus gestiegen. Ich hab's sofort bereut, aber zurück ging's ja nun nicht mehr. Hab dann ziemlich schlecht geschlafen in der Nacht.

    Carlos Perejil, alias Peter Silie

    Einmal bekamen wir den Auftrag, einen Abgleich zu machen, das bedeutet, ein Gericht zu kopieren, das uns vom betreffenden Kunden präsentiert wurde. Diesmal war die Rezeptur besonders kompliziert. Wenn ich mich recht erinnere, ging es um eine Mischung für eine exotische Hühnermarinade. Der Auftrag kam von unserem wichtigsten Kunden, und wir standen außerdem unter enormem Zeitdruck, weil der Kunde das Produkt auf einer Messe vorstellen wollte. Enrique, unser Koch, war ein Profi, aber sein Ding waren eher Gewürzmischungen für Wurstwaren und Ähnliches. Richtig gut war er bei Textur, Konsistenz und Hydrierung, aber wegen dem Stress, sich in so kurzer Zeit mit etwas ganz Neuem befassen zu müssen, ging bei ihm bald gar nichts mehr. Totalblockade. Ich musste selber ran und Mischung über Mischung ausprobieren. Keine Ahnung, woher der Kunde diese Marinade hatte, aber wir kamen ihr nicht einmal nahe. Irgendwie hatte Fermín wohl mitbekommen, was los war, denn am Nachmittag vor Ablauf unserer Abgabefrist klopfte er bei mir im Büro an. Nach einigem Herumdrucksen und ständigem Händewringen brachte er heraus, dass er gern versuchen würde, zu helfen, aber ohne dass es publik würde. Ich erinnerte mich, dass meine Tochter mir gegenüber einmal erwähnt hatte, „der Junge da habe sozusagen ein Labor im Mund. Damals hatte ich gedacht, das Einzige, was „der Junge da will, ist, sich mit seiner Angeberei meine Tochter zu angeln. Aber, nachdem nun alles danach aussah, dass wir unseren Kunden verlieren würden, habe ich dann gesagt: „Nur zu. Enrique sagte ich, wir hätten die Frist um eine Woche verlängert bekommen und er solle sich erstmal ein bisschen ausruhen. Nach Feierabend habe ich dann Fermín die verschiedenen Apparate und Instrumente in unserem Kochlabor erklärt, die Mühlen, die Reduktoren, den Trockner, usw. Anschließend kehrte ich in mein Büro zurück, um zu überlegen, welche Auswege uns noch blieben, weil... ausgerechnet ein blutiger Anfänger sollte uns aus der Patsche helfen? Währenddessen hörte ich, wie er die ganze Nacht durch im Labor rumorte. Ab und zu kam er an, um irgendetwas bezüglich der „Dinger, wie er sie nannte, zu fragen. Bis zum Morgengrauen war ich mit Hin- und Herrechnen beschäftigt und sah mich schon den ganzen Laden dichtmachen und dann... mir die Kugel geben, oder so etwas in der Art. Irgendwann schlief ich wohl ein, und am nächsten Tag, als ich hinüber in die Küche ging, fand ich ein Riesendurcheinander vor, und mittendrin stand Fermín und sah aus wie ein Zombie, mit diesen tiefen Schatten unter den blutunterlaufenen Augen. Ich fürchtete das Schlimmste, aber auf der Laborbank lag das Heft mit allen erforderlichen Angaben für die gesuchte Mischung.

    Fermín

    Also, irgendwie war es schon eine tolle Nacht. Die „exotische" Mischung hatte ich in einer knappen Stunde herausgekriegt. Der alte Enrique war anscheinend schon länger nicht mehr unten im Lager gewesen. Na ja. Der Trick war der etwas süßliche Touch des roten Pfeffers und die halb zitronige, halb pilzliche Note von Kardamom. Pfff, kinderleicht. Herr Silie hat mir noch erklärt, wie die ganzen Dinger im Labor funktionierten und dass ich eben alles in dieses Heft schreiben sollte. Dann hat er mich allein gelassen. Anfangs ging ich noch ab und zu zu ihm ins Büro hinüber, um was zu fragen und um den Schein zu waren: also so zu tun, als wäre ich noch schwer beschäftigt mit dem Auseinanderklamüsern der Mischungsformel. Als ich dann gesehen hab, dass er fest eingeschlafen war, hab ich den Rest der Nacht nur noch mit allen Geräten, die es gab, rumexperimentiert: mit den Mühlen mit ihren zig Körnungsgrössen, den Mixern, den Präzisionswaagen, die schon einen

    Gewichtsunterschied anzeigten, wenn man nur über der Waagschale mit den Fingern schnippte, mit den Öfen und ihrer verschiedenen Garungswinkeln und ihrer absolut exakten Temperaturfeinabstimmung; irre, diese Technologie. War schon ein bisschen gemein, Peter Silie die ganze Nacht so hinzuhalten –der hatte bestimmt Alpträume– aber ich konnte mir doch unmöglich die Gelegenheit entgehen lassen, diese ganzen Teile auszuprobieren, von denen ich bis dahin nicht einmal die Ahnung hatte, dass es sie überhaupt gab. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass ich die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, aber gegen Morgen bekam ich so eine Art Zitteranfall. Ich bin ganz schön erschrocken, weil ich als Kind manchmal epileptische Anfälle gehabt hatte. Glücklicherweise war das mit dem Gezitter aber auch schnell wieder vorbei, trotzdem hab ich mich noch den ganzen nächsten Tag ziemlich komisch gefühlt. Ich war nicht einmal besonders stolz darauf, die Marinadenformel herausgekriegt zu haben. Aber gut war das schon. Schließlich würde sie ja dazu dienen, Tausende Tiefkühlportionen von diesem exotisch marinierten Hühnchen an Leute zu verkaufen, die keine Zeit hatten, sich zu Hause was Anständiges zu kochen. Immerhin. Und Herr Silie war so erleichtert, dass er mir die ganze Zeit auf die Schulter klopfte. Außerdem hat er mir dann ein gutes Angebot gemacht: halbtags im Turnus mit Enrique in der Industrieküche zu arbeiten und den Rest der Zeit auf die Gastronomie-Fachschule zu gehen (alles auf seine Kosten). „Du hast das Zeug, mehr zu sein als ein einfacher Lagergehilfe", meinte er.

    Nadia

    Nach der „Heldentat" in der Firma meines Vaters begannen sich die Dinge zu ändern. Oft kam Fermín mit schlechter Laune vom Unterricht zurück. Er kam meistens erst ziemlich spät ins Kollektiv und war dann sauer, wenn wir anderen schon zu Abend gegessen hatten. Unbedingt kochen wollte er dann trotzdem. Und wir mussten natürlich von allem nochmal probieren. Manchmal fing er das Heulen an, nur weil jemand ein kleines bisschen nachsalzte. Dann war er wieder euphorisch, erzählte begeistert, wie toll alles in der Schule oder in der Firma sei, weil es eben dort alles gebe, was man so brauche an Gerätschaften. Ich hatte mehrmals Streit mit meinen Kumpels, weil einige von ihnen Fermín rausschmeißen wollten. Und es gab durchaus Momente, wo ich ihnen eigentlich Recht geben musste. Aber, dann war er wieder so zärtlich zu mir. Er wirkte auf mich so glücklich und gleichzeitig so zerbrechlich, dass ich ihm nicht böse sein konnte. Außerdem, ich weiß nicht, wie er das immer wieder schaffte: Jedes Mal, wenn keiner im Kollektiv mehr was mit ihm zu tun haben wollte, kam er lang vor der Abendessenszeit ganz bescheiden und mit irgendwas Leckerem zu essen an und nahm wieder alle für sich ein. So ging das dann erstmal für ein paar Monate.

    Juan Barralibre, alias Johannes Freibier

    Ein Bekannter von mir, der Lehrer an der Hotelfachschule war, erzählte mir von Fermín. Er meinte, der Junge hätte zwar ein großes Talent, aber es sei eben schwierig, ihn ins normale Bildungssystem einzubinden. Er würde sich nicht in den Klassenverband einfügen, praktisch mit niemandem sprechen und sich auch nicht an die Unterrichtszeiten halten;

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1