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Wilde Zeiten - 1970 etc.: Zeitreise-Roman Band 2
Wilde Zeiten - 1970 etc.: Zeitreise-Roman Band 2
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eBook449 Seiten5 Stunden

Wilde Zeiten - 1970 etc.: Zeitreise-Roman Band 2

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Über dieses E-Book

Was war das für eine Zeit, damals, Anfang der 1970er Jahre, als der graue Schleier aufbrach? Uns Jungen gingen die alten Autoritäten gewaltig auf den Sack. Hatten sie aus dem Kriegsdesaster gelernt? Wir wollten leben, einfach nur leben: Liebe, Freiheit, Musik hören, auf Festivals feiern, Reisen, andere Kulturen kennen lernen. Noch immer wurde Schreckliches aus Vietnam berichtet. Noch immer regnete es Bomben unserer US-Freunde über dieses geschundene Land. Waren das überhaupt Freunde? Alles im Namen der Demokratie? Wir hatten das Gefühl, von allen belogen zu werden. Eine heuchlerische, verkorkste Gesellschaft. Eine lieblose, noch immer viel zu prüde Gesellschaft – mit endlosem Konsumzwang. Dem wollten wir uns entziehen.

Für uns wurde der Aufbruch eine Frage des inneren Überlebens. Wir wurden rebellisch und hofften auf die Befreiung durch die Macht der Liebe. Wer liebte, konnte nicht Krieg spielen – dachten wir. Und so hieß unser Motto "Make Love – Not War!" Die Organisation in politischen Gruppen, Vereinigungen und Parteien folgte auf dem Fuß – bald schon würde die Revolution alles Alte und Verkommene beseitigen.

Unsere Hoffnung hielt uns aufrecht. Sich anpassen und beugen war nicht unsere Sache. Noch nicht. Unsere Visionen erreichten Blüten. Unsere Illusionen kämpften mit der Realität. Wir hofften und bangten. Vieles geriet durcheinander: Wertvorstellungen, Arbeitsmoral, Kulturelle Ansprüche. Es änderten sich Sprache, Musik und die gesellschaftliche Atmosphäre als es hieß, man wolle mehr Demokratie wagen. Konnte die Verheißung erfüllt werden?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum14. Dez. 2018
ISBN9783742769398
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    Buchvorschau

    Wilde Zeiten - 1970 etc. - Stefan Koenig

    1970 - Aufbruch & Liebe & Musik & Terror

    Karin feuerte mich an. „Ich liebe dich." Ich war kurz vorm Kommen. Raketen zischten am Europacenter hoch. Eine knallte ein paar Fenster weiter gegen die von uns frisch eroberte Chefetage. Ein sexy Sternenregen ergoss sich, während auch ich fast am Explodieren war und Karin die Situation stöhnend untermalte. Ein tolles Schauspiel.

    Sie liebt mich. Sind solcher Art Liebesgeständnisse eigentlich immer der speziellen Situation geschuldet? Ist es Schauspielerei? Ich weigerte mich, den Gedanken zu vertiefen. Einen Moment hielt ich inne und sagte: „Ich dich auch. Für immer und ewig."

    Draußen böllerte es ununterbrochen. Vor etwa zehn Minuten war das neue Jahrzehnt angebrochen. Wir hatten die Siebziger Jahre mit unserer ungeplanten wilden Liebesnacht rasant eingeläutet. Mitten in Westberlin. Hoch über den Dächern der Stadt. Drei Etagen unter uns würden unsere gleichaltrigen Partygäste der Center-Disco bis in den frühen Morgen tanzen – wir hörten sie nicht, aber wir wussten es. Alle Pärchen würden jetzt noch weitere Male anstoßen, sich umarmen, gegenseitige Versprechungen ins Ohr flüstern und Mumm trinken.

    Mumm war in. Was würde ihnen und uns das neue Jahrzehnt bringen? Hätten wir Jungen den Mumm, weiterhin für eine neue Gesellschaft Rabatz zu machen und unsere Freizeit für die große Freiheits-Revolution und gegen das Geld-Establishment zu opfern? Was würde aus der Hippie-Kultur werden? Was aus der Friedenssehnsucht der Blumenkinder in California, einer hoffnungsvollen Sehnsucht, die auch in unserem noch immer viel zu grauen Land um sich griff?

    Es war eine Stunde vor Mitternacht, als wir von der Uni-Silvester-Fete abgehauen waren. Sie fand unter dem Motto „Sieg dem Vietcong! statt. Das war ehrenhaft und politisch korrekt. Aber es war uns zu voll, zu viel Gedränge. Und zu qualmig, denn Rauchen war eine übliche Form der wortlosen Kommunikation – so „in wie die Räucherstäbchen und der bekannte süßliche Duft aus den gedrehten Joints. Uns war es an diesem Silvesterabend zu viel des Guten. Wir husteten beim Abtanzen um die Wette – und wir sehnten uns nach Zweisamkeit. So hatten wir zufällig auf dem Nachhauseweg statt in die Wohngemeinschaft in die geheime 21. Etage des Europacenters – in die verlassene Chefetage – gefunden.

    Jetzt schossen sprühende Leuchtraketen aus Ost und West in Berlins kalte Winternacht. Das bunte Feuerwerk erreichte uns scheinbar mühelos in Westberlins höchstem Stockwerk. Gerade ging ein Lichterregen über der benachbarten Gedächtniskirche nieder. Was für ein Anblick!

    Ich musste meine Aufmerksamkeit wieder auf Karin lenken, unbedingt. Das gebot nicht nur die ritterliche Höflichkeit, die man uns allerdings in Sachen Sex in der Tanzstunde nicht beigebracht hatte. Auch da war das Thema galant umgangen worden. Den ersten entsprechenden Hinweis hatte mein Schulfreund Pit ein Jahr zuvor von seiner Gaby erhalten, wie er damals entrüstet berichtet hatte.

    „Mach ein bissi langsamer. Noch nicht! Noch nicht kommen! Konzentrier‘ dich mal ein bissi mehr auf mich!", hatte Gaby ausgerufen. Und er sagte, das hätte leider etwas abtörnend gewirkt. Musste man beim Sex nicht auch Egoist sein, wenn alles klappen sollte?

    Sex = Egoismus = Kapitalismus? Auch diesen Gedanken scheuchte ich sofort hinweg.

    Nun galt es. Ich war hochkonzentriert und versuchte den Feuerwerksreigen zu ignorieren. Gleich musste die Erlösung kommen, und auch ich sollte endlich meine Rakete abschießen. Wir kamen gleichzeitig – ich und eine anonyme Silvesterrakete, die ihren silbernen Sprühregen im Moment meiner Erlösung genau in Richtung des großen Panoramafensters, vor dem Karin und ich uns liebten, ergoss. Karin stöhnte, ich stöhnte.

    Puh, welch einen Kraftakt uns die Natur abnötigte, um – wenn es darauf ankam – Nachwuchs zu zeugen. Aber das sollte noch Zeit haben, hofften wir, viel Zeit. Karin nahm die Pille. Ich vertraute Karin; aber konnte man der Pille vertrauen? Hin und wieder sollte es zu TroPi-Kindern gekommen sein, Kindern, die sich trotz Pille auf den Weg durch diese enge Öffnung in die weite Welt machten.

    Ich schnaufte und küsste Karin erschöpft. Leidenschaftlich erwiderte sie den Kuss.

    „Bist du auch ge …?"

    „Ja klar, sagte Karin. „Ich bin etwas vor dir gekommen.

    Konnte ich das überprüfen? Ach, die Sache mit dem weiblichen Orgasmus musste noch näher erforscht werden. Irgendwann. Von irgendwelchen Forschern.

    So lagen wir halbnackt, vor Erregung glühend, auf dem dicken Florteppich jener einsam und verlassen daliegenden Chefetage, die wohl erstmals solch einen menschelnden Jahreswechsel erlebt hatte. Auf diesem einladenden Teppich hatten es die hohen Herren des Establishments gewiss noch nie getrieben – höchstens in Gedanken. Aber konnten wir es wirklich wissen? Wie viele Male hatte vielleicht einer der hier residierenden Manager seine Sekretärin verführt und machtbesessen geknallt? Macht und Sex. Männliche Skrupellosigkeit und weibliche Sehnsucht. Gegenseitige Ausnutzung oder Missbrauch von Lohnabhängigen? Ich wollte nicht daran denken, nicht jetzt.

    „Es ist gut, dass auch Chefetagen keine Tagebücher schreiben", sagte ich. Karin hatte mir gestern erzählt, dass sie kein Tagebuch mehr schreibe. Das sei kindisch. Ihre politische Arbeit erfordere ihre ganze Kraft und man dürfe sich nicht in belangloser Privatheit verzetteln. Ich war mir sicher, dass diese Chefetage unser Geheimnis bewahren würde – bis in alle Ewigkeit, unvergessen.

    „Tagebücher schreiben nur völlig unterbeschäftigte Kindsköpfe", sagte Karin. Da wusste ich noch nicht, dass sie mich gerade anlog.

    Wir schmiegten uns aneinander und schauten hinaus in die hell erleuchtete geteilte Stadt, deren Himmel in diesen Minuten im Feuerwerksreigen vereint war. Wir drückten uns noch enger aneinander, glücklich, überglücklich. Ohne Sekt, ohne formelles Prost Neujahr, ohne unsere WG-Freunde; das war schon merkwürdig. Hätten wir wenigstens einen kleinen Transistorradio, wie er gerade trendy war. Ein paar Melodien. Abseits der Gedanken zum Jahreswechsel und all den guten Vorsätzen, die jetzt langsam mein Hirn zu fluten begannen. Nur ein paar Songs. Vielleicht unsere Liebeshymne „Je t’aime … moi non plus. Oder „Love is love von Barry Ryan. Oder „Hey Jude" von den Beatles aus 1968.

    Und jedes Mal, wenn's weh tut/Hey Jude, dann halt ein/Trag' nicht die Welt auf deinen Schultern/Du weißt ganz genau, es ist ein Narrenspiel/Sich seine Welt unnötig kälter zu machen/Na na na, na na, na na na/Hey Jude, enttäusch' mich nicht/Du hast sie gefunden, nun geh' und hol sie dir/Denk' dran, lass sie hinein in dein Herz/Dann kann's los geh'n - mach's jetzt besser.

    So genossen wir auch ohne Mucke unsere Zweisamkeit und unser kleines Abenteuer auf diesem hohen Turm der Konsumgesellschaft. Nur das Böllern von draußen war unsere Begleitmusik.

    Wir streichelten uns und knutschten. Im Vergleich zur winterlichen Außentemperatur war es hier warm, doch im Vergleich mit unserer nachlassenden Energie –zusehends geschmälert von unserem nicht weniger energiezehrenden Nachspiel – wurde es langsam kühler und wir begannen zu frösteln.

    „Cheri, flüsterte ich Karin ins Ohr, „bevor wir frieren, sollten wir gehen.

    „Ja, ich freue mich jetzt auf ein Schlückchen Sekt zuhause."

    Ob sich Tommi und Rosi, Rolf und Quiny, und mein treuer Freund Richy noch immer auf der TU-Party rumtrieben?

    „Wenn wir es schaffen, bleiben wir noch wach, bis die ganze Mannschaft kommt, um mit ihnen anzustoßen, ansonsten ..."

    „Fortsetzung, Coco?" Karin sah mich schelmisch-keck an.

    Ich musste lachen. „Wenn ich bis dahin zaubern kann, gerne."

    Ich nannte sie seit unserer gemeinsamen „Je t‘aime-Liebeshymne einfach nur „Cheri. Und Karin sagte nur noch gelegentlich Kara zu mir, lieber nannte sie mich seit Kurzem „Coco".

    „Kara haben dich die Girls von deiner Bier- und Badeclique genannt. Hieß dein Lieblingsbier damals nicht Karamalz?"

    Ich nickte.

    „Coco, die Zeit ist passé. Kara ist Vergangenheit."

    „Die meisten nennen mich aber immer noch so. Ist ja auch okay, denn Coco können sie ja wohl kaum sagen, ohne dass du ihnen auf die Finger klopfst!"

    Der 90er Bus kam und wir stiegen am Kudamm, Busstation Gedächtniskirche, gegenüber vom neonbeleuchteten KaDeWe, ein. Der Bus war leer. „Prost Neujahr!", sagte ein ziemlich junger Busfahrer, was wir erstaunt erwiderten. Für so viel Freundlichkeit waren Westberlins Busfahrer eigentlich nicht bekannt. Der Mann trug eine bunt gecheckte Weste und an seinem rechten Handgelenk baumelten die kurzen Strippen eines farbigen Handreifes, wie man ihn in Jamaika trug.

    Völlig untypisch, dieser Busfahrer. Das musste jene berühmte Ausnahme sein, die die Regel bestätigt. Oben im Doppeldeckerbus saßen wir ganz vorn und schauten uns die kurfürstliche Prachtstraße mit ihren glitzernden Schaufenstern an.

    Karin stupste mich an. „Weißt du, was mir gerade einfällt? Ab heute steht dir beim Solidaritätsverband im Krankheitsfall Lohnfortzahlung zu. Wenn du mal krank wirst, kriegst du trotzdem Kohle. Wusstest du das?"

    „Ja, hab‘ ich auch vor ein paar Tagen gelesen." Da gab es im Tagesspiegel eine Neujahrsrubrik: Was sich 1970 ändert. „Du weißt aber schon, dass ich kein Angestellter bin. Ich sammle die Altkleider als Kleinunternehmer für einen gemeinnützigen Verein und bin weder sozialversichert, noch habe ich auf irgendwas einen Anspruch. Hier geht es ganz allein um Unterstützung des vietnamesischen Befreiungskampfes, antwortete ich mit hochpolitischem Unterton. „Aber gut, dass sich was ändert!

    Es stimmte, allmählich tat sich was in Grauland. In diesem Fall konnte man es als arbeitnehmerfreundliches Zugeständnis bezeichnen. Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter war eine neue, von den Gewerkschaften erkämpfte soziale Errungenschaft. Nun standen zumindest sie und die Angestellten nicht mehr im Regen, sondern erhielten sechs Wochen lang ihren Lohn weiter ausbezahlt.

    „Willst du unter so ungesicherten Umständen weiter für den Solidaritätsverband arbeiten?"

    „Cheri, ich baue den Verband hier in Westberlin gerade erst auf, bin noch ganz am Anfang. Ich kann doch nicht gleich etwas fordern, wenn noch nicht einmal der erste Eisenbahnwaggon mit Klamotten beladen ist!"

    *

    Während wir unsere Busgespräche führten, zofften sich Rolf und Quiny auf der Uni-Fete. Das reihte sich wohl ein in jenes derzeit recht bekannte Neujahrs-Szenario – auch oder gerade für uns Freigeister: Jahreswechsel hieß allzu oft auch Partnerwechsel. Quiny hatte eine Stunde vor Mitternacht im studentischen wie im nichtstudentischen Gewimmel Rolf aus den Augen verloren. Zum Abhotten zog es sie auf die Tanzfläche. Da traf sie auf Wolle, einen lange begehrten Jugendfreund, der sie antanzte und gestand, dass er froh sei, nun endlich für sie frei zu sein. Den Neujahrstrunk gönnten sich die Zwei einsam aber gemeinsam. Als Rolf die beiden auf der Suche nach Quiny in einer dunklen Ecke entdeckte, knutschend und fummelnd, war das Ding gelaufen.

    „Was soll das denn? Sieht so die freie Liebe aus?"

    Quiny sah ihn kühl an und sagte: „Genauso ist es. Ich liebe Wolle."

    Wolle lächelte mild und meinte, sie hätten gerade etwas beschlossen. „Wir ziehen zusammen und bleiben bis März in Berlin." Danach wollten sie mit seinem Bulli nach Torremolinos und für ein Jahr als Hippies leben.

    „Ich wünsche dir Frieden und eine reine Seele!", sagte er zu Rolf, der sich samt reiner Seele umdrehte und wortlos im Dunst aus Räucherstäbchen und Zigarettenqualm verschwand.

    Karin und ich erfuhren hiervon erst am nächsten Mittag, dem Neujahrstag. Aber im Moment saßen wir noch ahnungslos im Bus und sprachen über unsere eigene Jahresplanung. Karin wollte statt Urlaub zu machen lieber die proletarische Weltrevolution im Sinne Mao Tse-tungs in Westberlin vorantreiben. Vielleicht mit Claudia Roth oder Rio Reiser.

    Ich wollte im Sommer eher einen VW-Bus anschaffen und vier volle Wochen lang durch Südfrankreich und Nordspanien düsen. Natürlich hatte mich zudem der Ehrgeiz in finanzieller und politischer Hinsicht gepackt. Mit Altkleidersammlungen konnte unser Verein in wenigen Monaten immerhin einige hunderttausend Mark zusammenkriegen und sie in Form von Medizintechnik an die vietnamesische Botschaft in Ostberlin übergeben. Wir ließen unsere Planungen erstmal offen.

    Draußen verstummte die Knallerei; es wurde zusehends ruhiger. Plötzlich hörten wir die Stimme des Busfahrers über den Lautsprecher. „Ich wünsche uns allen ein glückliches und friedvolles Neues Jahr und jetzt schalte ich mal meinen Privatsender ein, verehrte Fahrgäste!" Es knackste und dann hörten wir einen Radio-Moderator mit der Teilansage: „… und hier eine Aufnahme vom Simon & Garfunkel-Konzert im Central Park". Und wir hörten »The Sound of Silence«.

    Dann rief der Fahrer unsere Haltestelle aus: „Olivaer Platz!"

    Beim Aussteigen winkten wir ihm zu und er winkte zurück. Ob das ein verkappter Hippie war?

    Der nächste Morgen begann spät mittags. Rolf hatte kein Auge zugemacht und schäumte vor Unverständnis und Wut und sah zum Heulen aus. Er fluchte über seine noch vor wenigen Stunden hochgeliebte Quiny und entdeckte plötzlich all jene Eigenschaften an ihr, die ihn eigentlich schon immer gestört hatten – alles unwichtige Kleinigkeiten, die ihm plötzlich einfielen, um sich den Abschied von ihr leichtzureden. Nach einer weinerlichen Dauerschleife von rund sechzig Minuten, versuchte ich Rolf mit einer Grundsatzdiskussion auf eine andere Spur zu bringen.

    Wir fragten uns, ob wir eine Wohngemeinschaft oder schon eine Kommune waren. „Kommune war „in. Kommunarden geisterten durch Presse, Funk und Fernsehen. Tommi, der manchmal einen auf christlich machte, stand der Sache skeptisch gegenüber. Ich erklärte ihm, dass genau das die Form des Zusammenlebens der Ur-Christen gewesen sei.

    „Ach so. Alles teilen, egal wer was verdient."

    „So in etwa", antwortete Karin.

    Wir lebten jetzt alle zusammen, Tommi und Rosi, Rolf, Richy, Karin und ich – Quiny fiel wohl ab sofort weg und musste nur noch ihre Sachen abholen. Beppo, unser LKW-Fahrer, noch aus Frankfurter Zeiten, war im Herbst ausgezogen, weil frisch verliebt, und hatte Richy Platz gemacht. Richy, schlank und schlau, war weit entfernt von jedweder Liebelei; wir vermuteten, er würde in seinem jungen Leben ausschließlich einer Liebesheirat Raum geben. Das aber dann mit sofortiger Wirkung.

    Tommi stand gut im Futter, war aber nicht dick; noch trug er seine Haare relativ kurz und sah aus wie eben ein typischer Postgewerkschaftler aussah. Seine Freundin, die achtzehnjährige Rosi, ein hellhäutiges, schlankes Blondinchen, trug ihre Haare schulterlang.

    Rolfs wochenlange Bemühungen, sich eine Mähne stehen zu lassen, scheiterten merkwürdiger Weise bei jedem neuen Frisörbesuch, was eine lange, ebenso merkwürdige Entschuldigung des Gescheiterten, hinter sich herzog.

    Darüber machte sich mit intellektuellem Humor mein alter Schulkamerad Richy regelmäßig lustig, der als Einziger von uns wallend lange Christushaare trug; dazu hatte er die passenden Jesus-Gesichtszüge, was ihm eine dauerhaft lächelnde Milde und eine gewisse Würde verlieh. Er konnte so schön leise und immer überzeugend reden. Auch wenn er sich über etwas belustigte, klang es nie gemein oder gar gehässig. Im Gegenteil, es klang wie ein zarter göttlich-köstlicher Hinweis.

    Meinen 181 Zentimetern standen Karins zierliche 164 Zentimeter gegenüber. Meine gelegentlich mit Wasserstoffperoxyd aufgeplusterten dunklen Haare wurden von einem Schnauzer und manchmal von einem Vollbartversuch ergänzt und umrandeten meine allzu scharf geratene Nase, unter der – dem Herrgott sei’s gedankt – kein typisch männliches schmallippiges Plappermaul zugange war. Mit meinen Lippen war ich sehr zufrieden und Karin auch. Karin trug ihre volle, brünette Haarpracht halblang und hatte verführerische Kurven, die sie ohne Gewissensbisse einsetzte, um irgendwelche abstrusen Sympathisanten für ihren Großen Vorsitzenden Mao Tse-tung zu gewinnen.

    Zeit für Wohngemeinschaften

    Eine Woche vor Jahreswechsel war Jean-Francois, genannt Frankholz, zu Besuch gekommen. Ich ahnte bereits, dass er bleiben würde. Und so war es auch. Er war ein typischer Franzose, trug Cordhose und stets Hemd, manchmal ein Jackett, und er war wirklich nett und konnte gut kochen. Seine Brille und seine etwas gelockten wirren Haare machten aus ihm einen ausgeflippten Akademiker, der stets auf Durchreise und auf der Suche nach der Weltformel schien. Nun also waren wir eine Siebener-WG, und wenn wir alles teilen würden, wären wir eine Siebener-Kommune. Darüber mussten aber erst noch einige klärende Diskussionen geführt werden. Wir hatten Zeit und wir ließen uns zur Klärung Zeit.

    Jeder hatte eine Arbeit und wir beschlossen, vorerst zu gleichen Teilen in eine Gemeinschaftskasse einzuzahlen. Der Betrag für die Miete war nach Zimmergröße gestaffelt. Die Gemeinschaftsräume wurden zu gleichen Teilen aufgeteilt. Blieben noch Strom, Telefon und Lebensmittel.

    Die Zimmeraufteilung ging problemlos. Wir hatten ja bereits spontan bei Einzug entschieden, und jeder war zufrieden gewesen. Wenn nun jemand neu in die WG aufgenommen wurde, stand natürlich nicht jeder Raum zur Disposition sondern nur der frei gewordene. Tommis Freundin Rosi stellte dieses „Naturprinzip", wie Rolf es einmal getauft hatte, in Frage. Tommi und ich hatten ihr Paroli geboten, aber jetzt – bei sieben Personen – sahen wir ein, dass wir neu aufteilen mussten, und es kam uns beiden gar nicht so ungelegen. Tommi und Rosi zogen gemeinsam in eines der großen Zimmer, Karin und ich in das andere.

    So kamen wir alle problemlos in der Fünf-Zimmer-Wohnung unter. Als Gemeinschaftsraum mit Fernseher und sauteurer Blaupunkt-Stereoanlage diente uns der riesig große Flur, der mit unserer Gemeinschaftsküche eine räumliche Einheit bildete und gar nicht wie ein Flur wirkte.

    Während wir heiß über Rolfs gescheiterte Beziehung, über Besitzansprüche, Egoismus, Neid und Eifersuchtsprobleme diskutierten, bereitete der oberbayrischen Stadt Laufen, der Quiny entstammte, eine Anti-Kriegsparole Kopfzerbrechen. Ein Unbekannter – oder war es gar ein heimliches und heimisches Revoluzzerweib? – hatte mittels gut haftender Farbe einen Kampfspruch aufs alte Stadttor gesprüht. Nachdem der Bürgermeister Anzeige wegen Sachbeschädigung gestellt und die Polizei ergebnislos nach dem Täter gefahndet hatte, beschäftigten sich jetzt auch die Stadträte mit dem Spruch auf der geschichtsträchtigen Pforte:

    Vietnam 150.000 Tote – Amis raus!"

    In einem Antrag an den Rat hatte der evangelische Ortspfarrer Dr. Hohenberger, 47 Jahre alt, gefordert, die Parole nachträglich zu genehmigen und als improvisiertes Mahnmal „gegen einen der schmutzigsten Kriege der Menschheit zu erhalten. Pfarrer Hohenberger: „Ein solches Mahnmal fehlte leider bisher in Laufen. Jetzt haben wir eins. Noch dazu kostenlos! Davon jedoch wollten die ehrenwerten konservativen Stadtväter nichts wissen. Der Antrag wurde einstimmig abgeschmettert. Quiny hätte den Stadträten gewiss literweise Bier über die Seppelhosen gekippt … hätte, hätte, Fahrradkette.

    *

    „Hier werden Sie von Willy Brandt gefahren!" Mit diesem Slogan an der Windschutzscheibe sollte auf Vorschlage eines stern-Reporters der Namensvetter des Bundeskanzlers, Taxifahrer Willy Brandt aus Bonn, für sein Unternehmen werben. Um die Wettbewerbsgleichheit nicht ins Schleudern zu bringen, verzichtete der Droschkenbesitzer jedoch auf diese Art von Public Relation. Nachher würde vielleicht der Kanzler mit der Parole „Hier regiert Sie ein Taxifahrer" werben; wir Ex-Frankfurter lachten uns schepp, wie man in unserer Heimatstadt so schön sagte – aber wie konnten wir damals wissen, dass Jahre später tatsächlich ein Taxifahrer als Außenminister regierte?

    Dass der im vergangenen Oktober neu gewählte Bundeskanzler Gas gab und die als „Zone" verpönte DDR anerkennen wollte, machte uns Mut. Entspannungspolitik konnte die Kriegshetzer entwaffnen. Entwaffnend freundliche Ostpolitik konnte dem inneren wie äußeren Frieden nur nützlich sein. Für viele Erzkonservative war das aber zunächst verwunderlich. Doch große Teile der Bevölkerung waren des langen Wartens auf ein Zeichen der überfälligen Grenzöffnungen müde und wollten endlich eine realistische Politik.

    Mein guter altsozialdemokratischer Vater Otto schrieb in einem Brief Anfang Januar: „Mein lieber Sohn, es wird Zeit, dass man verhandelt. Das finde ich gut an unserer neuen Regierung. Jedem Vernünftigen muss klar sein, dass man die Existenz eines zweiten deutschen Staates nicht wegwischen und übersehen kann …"

    Ich hätte ja gerne gewusst, welcher Partei meine Eltern im September letzten Jahres bei der Bundestagswahl ihre Stimme gegeben hatten. Ob sie Willy Brandts SPD gewählt hatten? Als ich Vater gefragt hatte, berief er sich auf das Wahlgeheimnis: „Das nehme ich ernst!"

    Mutter sagte, dass sie nach dem Wahlgang traditionsgemäß ins Wirtshaus gegangen seien. „Weißt du, was ich da gewählt habe? Rippchen mit Sauerkraut!"

    Otto schrieb noch etwas zur neuen Ostpolitik, was ich gut fand: „Brandt macht eine Politik des Realismus. Das ist längst überfällig. Auch die Aussöhnung mit den Russen. Wir haben denen viel Leid zugefügt. Und der ostdeutsche Staat ist ein Produkt des Nazi-Krieges. Man muss das anerkennen, man muss den Tatsachen ins Auge sehen."

    Tja, den verdammten Tatsachen ins Auge sehen. Das fällt manchmal schwer. Insbesondere, wenn es um die Liebe geht. Irgendwann später rief Quiny an. Erst war Rolf am Apparat. Ein Gedöns machte der! „Blöde Schlampe! – Wortbrüchiges Luder! – Untreues Weib! – Bleib wo der Pfeffer wächst!", brüllte er in den Hörer. Ich befürchtete, dass er unseren teuren neuen Telefonapparat auf den Boden pfeffern könnte und machte ihm ein Handzeichen, mich ran zu lassen und sich zu beruhigen.

    „Mach mal auf Entspannungspolitik!", rief ich ihm zu. Er zog eine Fratze, gab mir den Hörer und verzog sich in sein Zimmer, ließ aber die Tür einen Spalt offen.

    „Kannst du Rolf bitten, dass er meine Sachen zusammenstellt, damit ich sie morgen abholen kann?, fragte Quiny. Ihre Stimme zitterte ein wenig. „Weißt du, im Moment kann ich nicht vernünftig mit ihm reden.

    „Ich versuch‘ mein Bestes, beruhigte ich sie. „Ich bin jedenfalls da. Vielleicht hat Rolf morgen eine Verabredung …. Das sagte ich besonders laut in Richtung der angelehnten Tür. „Dann braucht ihr euch nämlich nicht zu begegnen und eure emotionalen Tretminen werden nicht scharf gemacht."

    Apropos Minen: Willy Brandt würde der DDR-Regierung Verhandlungen über eine Entschärfung der sogenannten Todesgrenze und über beidseitige Gewaltverzichts-Erklärungen vorschlagen, berichtete entrüstet ein CDU-INTERN-Pamphlet; das war so etwas wie eine stille Post für konservative Scharfmacher. Das wäre doch Verrat. Purer Verrat!

    Wie konnte Gewaltverzicht Verrat bedeuten, fragte ich mich. Was ging in diesen schwarzen Hirnen alles schief? Waren da irgendwelche Minen im Oberstübchen explodiert?

    Als Quiny kam, um ihre Sachen abzuholen, war Rolf tatsächlich unterwegs. Wolle wartete diskret unten in seinem VW-Bulli. Ich half Quiny beim Runtertragen und setzte mich noch eine Weile zu den beiden in den Bus, nachdem Wolle um die Ecke gefahren war, falls Rolf vorzeitig zurückkommen würde. Aus Wolles Transistorradio lief „Goodbye Ruby Tuesday" von den Rolling Stones:

    Es ist keine Zeit zu verlieren,/ hörte ich sie sagen./Erfülle deine Träume, bevor sie entschwinden./ Die ganze Zeit sterben./Deine Träume verlieren./Und du wirst den Verstand verlieren./Ist das Leben nicht lieblos?/Lebwohl, Ruby Tuesday,/wer könnte dir einen Namen geben,/ wenn du dich veränderst mit jedem neuen Tag?/ Ich vermisse dich immer noch.

    Gerade in diesem Moment sahen wir Rolf weit vorn zum Hauseingang unserer WG schleichen. Man sah ihm an, dass er etwas vermisste, was ihn sichtlich bedrückte. Kurz vor ihm schlich in seiner etwas schäbigen Hochwasser-Hose ein anderer Schleicher, der unscheinbare Eigentümer der Clausewitzstraße 2, unser Vermieter, Herr Brat. Erst kurz vor Weihnachten hatte er mir im Zusammenhang mit dem Selbstmord meines früheren Grundschulkameraden Joschi, der wie er Mitglied der Jüdischen Gemeinde von Westberlin war, seine eigene Leidensgeschichte erzählt. Und dass sein millionenschweres Immobilien-Erbe all das nicht wettmachen könne, was sich nachts in seinen Albträumen abspiele.

    Er schien sehr großes Vertrauen in mich zu setzen, weil er mir sein hartes, grobes Äußeres im Kern als Ausdruck seiner inneren Zerbrechlichkeit offenbarte. Ohne es bei ihm auszusprechen und ohne es jemals bei meinen Mitbewohnern anzusprechen, interpretierte ich es so: Ich hatte eine Art Nervenzusammenbruch dieses alten Mannes miterlebt. Seine harte Hand, seine dauernde juristische Peitsche gegen seine Mieter waren Ausdruck einer völligen Zerrissenheit und Projektion all seiner Ängste, vielleicht auch seines Eigenhasses.

    Sein karges einsames Leben erhielt für ihn offenbar nur Sinn durch ein gnadenloses Regiment gegenüber den von ihm Abhängigen. Denn wann immer ich zu ihm kam, klagte er darüber, gegen wen und warum er schon wieder Klage einreichen müsse. Klagen bestimmten sein Leben. Später erinnerte es mich ein wenig an die Aggressionspolitik der verschiedenen israelischen Regierungen gegenüber den von ihr abhängigen Palästinensern. Es mochte ein schiefer Vergleich sein – aber so dachte ich eben.

    Ich tippte Wolle auf die Schulter. „Wollt ihr wirklich nach Spanien abzwitschern und ein Hippieleben führen? Job aufgeben und so?"

    „Wir waren eben im Reisebüro am Kudamm, Ecke Olivaer Platz, und haben uns erkundigt. Das wird toll, glaub mir. Aber wir brauchen kein Reisebüro, um unseren Traum zu verwirklichen. Wir brauchten nur den Prospekt. Wir reisen selbst", sagte Wolle.

    „Wie kamt ihr darauf?"

    Quiny sah mich verschmitzt an. „Das war meine Idee. Weißt du, Kara, im November hatte ich mit Rolf einen Streit, der sich über eine Woche lang hinzog. Eines Tages ging ich bummeln, um etwas Abstand zu gewinnen. Da stand ich plötzlich vor dem Schaufenster dieses Reisebüros. Ein übergroßes Plakat sprang mir ins Auge. Es zeigte vor einer uralten steinernen Windmühle ein lebensgroßes blondes Hippiemädchen im Bikini mit einem durchsichtigen Wickelröckchen, Blumenkränzchen im Haar, bunte Arm- und Fußbänder und im Hintergrund das blaugrüne Mittelmeer. Da standen nur drei Worte: Komm nach Torremolinos!"

    Sie war weiter gegangen und ahnte nicht, dass diese erste Begegnung mit Torremolinos das Besondere jenes düsteren November-Bummels war. Doch wieder bei Rolf und seinem Gezeter wegen irgendwelcher Nichtigkeiten angekommen, flüchtete sie sich in ihre Phantasie und sah sich im Sonnenlicht neben einer Windmühle in Spanien stehen. „Anfangs erweckte dieses Traumbild noch keine starke Sehnsucht in mir, lediglich ein paar Überlegungen: Wie sah es dort wohl genau aus? Wie groß war die Stadt? Wo lag sie genau und gab es da viele Hippies?"

    Als Quiny in unserem Gemeinschaftsraum den Weltatlas aus dem Regal nahm, fand sie jedoch kein Torremolinos auf der Spanienkarte.

    „Rolf wollte ich nicht fragen, denn ich hatte vor, mal ohne ihn für eine Weile wegzufahren. Das wusste er aber damals noch nicht. Torremolinos wird sehr klein sein, dachte ich! Nachdem mich der Gedanke an Spanien auch noch in der darauffolgenden Woche verfolgte, nahm ich mir vor, mich näher zu erkundigen."

    Am Montag nach dem dritten Advent hatte sie dann das Reisebüro betreten und ging auf die Mittdreißigerin hinter dem Beratungstresen zu. Sie war drahtig, brünett, ziemlich klein und schien keine Berlinerin zu sein, denn beim Sprechen stolperte sie eher über einen spitzen Stein.

    „Das Plakat mit Torremolinos … also, das …, also ist das was?"

    „Ich kann ihnen Spanien wärmstens empfehlen, sagte die Brünette. „Ich war selbst schon dort. Torremolinos ist ein Paradies für jugendliche Paradiesvögel. Quiny hatte sich auch die vielen anderen Plakate hinter dem Tresen angeschaut, wo es hieß: Neckermann fliegt Sie ins sonnige Italien. Daneben lockte ein türkisfarbenes Plakat mit der Aufschrift: Griechenland – ein sonniger Traum geht in Erfüllung. In den Reisebüros Westberlins, das ein abgeschiedenes Inseldasein führte, war der unkomplizierte Flug in die Sonne die gängigste und beliebteste Ware, auch wenn das Fliegen noch teuer war. Berliner traf man überall, wo auch immer man Urlaub machte.

    „Sagt mir rechtzeitig, wann ihr losfahrt. Lasst uns Kontakt halten; vielleicht besuchen Karin und ich euch in Torremolinos."

    „Klaro", sagte Wolle.

    Quiny drückte mich. „Ich halte dich auf dem Laufenden. Nur sag bitte Rolf nichts von unseren Plänen. Man muss ihm ja nicht unnötig Schmerz zufügen."

    *

    Zu all den neunmalklugen Neuparteien gesellte sich Ende Januar eine superneue Partei mit dem Kürzel DSP, das war die Deutsche Sex-Partei. Sie konstituierte sich sinniger Weise in der Hamburger Gaststätte Justizhof. Deutschlands meistpropagierter Industriezweig sollte endlich seine parlamentarische Lobby bekommen. Ihr Ziel war es, „die geschäftsmäßigen Interessen derjenigen Leute zu vertreten, die sich für die Lust einsetzen." Mit dem für Vereins-, Partei- und ähnlichen Gründungen nötigen Bierernst lieferte der sechsunddreißigjährige Parteiboss Joachim Driessen einen historischen Abriss jener Bewegung, als deren vorläufigen Höhepunkt die DSP sich gern begriff.

    „Ich sag nur: Trau keinem über Dreißig!", rief Karin in die abendliche Essensrunde.

    Unter dem Parteisymbol – einem goldenen Tropfen auf schwarz-rotem Grund – lieferte der Polit-Neuling mit dem Erscheinungsbild eines arbeitslosen Pastors ein Parteiprogramm der Öffnung nach rechts und links: Mehr Porno-Importe aus Skandinavien, Abbruch der diplomatischen Beziehungen zum Vatikanstaat und Schaffung einer „befriedigten Gesellschaft".

    Richy war mit Kochen dran, und so gab es heute Abend eines seiner Standardgerichte, wahrscheinlich weil es so einfach und billig war: Bauchfleisch mit Sauerkraut und Salzkartoffeln. Nebenbei musste ich von meinem ersten journalistischen Honorar-Auftrag für die politische Kulturzeitschrift „konkret" berichten, den ich Mitte Oktober des Vorjahres vom Chefredakteur Klaus Rainer Röhl erhalten hatte. Das hatte wohl auch etwas mit Bauchfleisch zu tun. Ich sollte nämlich von der ersten in Europa stattfindenden Pornomesse berichten.

    Damals im Oktober hatte ich nach zahlreichen telefonischen Vorkontakten die Redaktion in der Hamburger Gerhofstraße 40 besucht. Ich war dort schon einmal im Februar bei Ulrike Meinhof, der Chefkolumnistin, vorstellig geworden, erfolglos. Jetzt hoffte ich auf einen Durchbruch. Röhl war für mich, den antiautoritären Revoluzzer, eine unbestreitbare journalistische Autorität. Aber als ich ihn so in seinem Büro sitzen sah, mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem großen Eichen-Schreibtisch, freundlich lächelnd, in der Rechten eine dicke Zigarre à la Che, da atmete ich erleichtert auf. Er ist zwar eine absolute Respektperson, aber er ist auch locker drauf, dachte ich. Hier konnte ich wohl offen sein und angstfrei meine Bewerbung als zukünftiger Journalist loswerden.

    „Na, junger Mann, dann schießen Sie mal los. Was haben Sie denn bisher so gemacht außer Schule?"

    Er schien nichts von meinem damaligen Besuch bei Ulrike Meinhof mitbekommen zu haben und so wollte ich nichts verkomplizieren und sparte es aus.

    Was ich bisher gemacht hatte außer Schule? Ich berichtete ihm natürlich dennoch als erstes von meinen damaligen Schulaktivitäten als Chefredakteur zweier Schülerzeitungen, erst in der Realschule und nach mittlerer Reife und dem Wechsel ins Gymnasium als Mitarbeiter der Oberstufenzeitung.

    „Und wie ging es nach dem Abitur weiter?"

    Ich weiß nicht, ob Röhl bemerkte, wie mir das Blut aus dem Kopf wich, aber mit dieser Fragestellung, in der das Abitur versteckt war, hatte ich dummerweise überhaupt nicht gerechnet.

    Sollte meine journalistische Karriere so jämmerlich am Anfang scheitern? Nur weil ich drei Monate vor dem Abi aus politischen Gründen (Kein Mensch muss zertifiziert werden!) hingeschmissen hatte? Nur weil ich im Solidaritätsverband zur Unterstützung des vietnamesischen Freiheitskampfes praktische Solidarität und nicht nur hohle Abitur-Worte zu meiner politischen Daseinsdevise gemacht hatte? Ich ging auf die Sache mit dem Abi nicht ein, berichtete aber ausgiebig über all die Solidaritätsaktionen für Vietnam und legte ihm meine mitgebrachten Schülerzeitungs-Artikel vor. Das war zwar ein Ausweichmanöver und nicht gelogen, aber auch nicht ganz aufrichtig.

    „Wenn Sie finanziell durch Ihre Arbeit beim Solidaritätsverband abgesichert sind, dann können wir es ja mit einem ersten Honorarauftrag versuchen. Ob es später mehr wird, werden wir sehen. Trauen Sie sich zu, über die erste Pornomesse in Kopenhagen zu berichten. Wir zahlen Ihnen die Reisekosten und wenn der Artikel gelungen ist, dann landet eine Pauschale von 350 Mark auf Ihrem Konto."

    Ich schaute in die lachende Runde meiner WG-Mitbewohner. „Was lacht ihr da so hämisch?", wollte ich wissen. Natürlich wusste ich, weshalb sie lachten. Statt knallharter solider politisch-kultureller Berichterstattung sollte ich von einem Nebenfeld der gesellschaftlichen Umwälzung berichten. Das war wahrlich kein heldenhafter Erstauftrag. Aber war das überhaupt ein Nebenfeld? Das war gegenwärtig doch schon sehr prägend.

    „Ich habe das angenommen, weil es immerhin ein Einstieg war", sagte ich.

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