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Wir Sternenkinder: Das Dodekaeder
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eBook860 Seiten12 Stunden

Wir Sternenkinder: Das Dodekaeder

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Über dieses E-Book

Der Roman umfaßt einen Zeitraum von über sechzig Jahren. Die Geschichte beginnt mit der Geburt eines Mädchens und endet im Jahre 2000. Aus der Sicht von Großmutter, Tochter und Enkel werden die Lebensschicksale vieler Menschen geschildert, bevor sie wieder zu dem vergehen, aus dem sie alle entstanden sind - zu Sternenstaub.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum31. Mai 2015
ISBN9783738026689
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    Buchvorschau

    Wir Sternenkinder - Alexander Neumeyer

    Prolog

    Dieser Roman entfaltet vor uns das Schicksal dreier Generationen, aber dennoch beleuchtet er nur einen einzigen Tag im Leben der Menschheitsgeschichte.

    Wasser oder das Ikosaeder

    Als Ilse geboren wird schüttet es wie aus Eimern. Die vom Himmel herabstürzenden Wassermassen prasseln auf die Ziegel des Hausdaches, strömen in überlastete Regenrinnen und mit Getöse durch enge Fallrohre. Kurz darauf verschwindet das Naß gurgelnd im Erdreich. Unweit entfernt taucht das feuchte Element bald wieder auf und ergießt sich, als halbwegs gebändigte Flut, in den träge dahin gleitenden Rhein.

    Vom Wohnzimmer dröhnen zwölf Schläge der Standuhr ins Schlafzimmer hinauf. Aus den Fenstern sieht man keine zwei Meter weit. War es beim Einsetzen der Wehen draußen noch hell gewesen, ist es mittlerweile stockdunkel geworden. Die Mutter hatte sich vor Monaten mit dem Vater auf den Namen Ilse verständigt, falls das Kind ein Mädel werden sollte und Heinrich, wenn ihnen ein Bub geboren würde. Die Namen sind keineswegs originell, aber brav folgt man dem Brauch, Vornamen aus dem verwandtschaftlichen Umfeld zu wählen. Eben deswegen heißen die Kinder oft Ilse, Karin, Heinrich oder auch Rudolf. Überdies herrscht im Deutschen Reich seit ein paar Jahren die Mode, einen neugeborenen Knaben Adolf zu nennen. Nach den höllischen Schmerzen ist Hedwig total erschöpft, aber auch sehr erleichtert, daß das winzige Wesen in ihren Armen gesund aussieht. Die Hebamme beglückwünscht Frau Schmid zu ihrem ersten Kind. Während ihres langen Berufslebens hat sie bereits zahllose Geburten gemeistert. Ihre sachliche doch freundliche Art wirkt stets beruhigend auf die angespannten Nerven gebärender Mütter.

    Der Vater des Säuglings ist weit weg, er schippert gerade auf einem Boot flußabwärts in Richtung Holland. Von Beruf Rheinschiffer arbeitet er als Matrose auf dem Kahn ´Minerva´. Der Besitzer des Schiffes ist sein Vater, ein Partikulier, denn so nennt man alle Schiffsführer, die weniger als vier Kähne ihr eigen nennen. Schon seit vielen Generationen ist die Familie Schmid in diesem Gewerbe tätig, allerdings könnte niemand mehr angeben, welcher Vorfahre diese Tradition begründet hatte. Der Partikulier und sein Sohn werden erst in zwei Wochen nach Hause kommen und dann endlich erfahren, daß mit der Geburt alles gut gegangen ist. Jedoch erwartet die Schiffer auch ein kleiner Wermutstropfen, hofften sie doch von Anfang an, ein Stammhalter werde das Licht der Welt erblicken. Gegenüber Hedwig hatten sie dies jedoch, aus einem gewissen Taktgefühl heraus, nie erwähnt.

    Der Säugling blickt, umschlungen von einem wärmenden Handtuch, mit inhaltsleeren Augen in die ungewohnte Welt. Zwar können Kinder von Geburt an ausgezeichnet hören, reagieren auf Töne und Laute, das scharf erkennende Sehen müssen sie aber erst noch üben.

    Kaum hat die Hebamme das Neugeborene wieder behutsam an sich genommen, fällt seine Mutter in einen unruhigen Schlaf. Die Augen des Säuglings füllen sich im Traum mit Leben. Es macht ein paar unbeholfene Schritte in Richtung Tür. Da ist die frischgebackene Mutter plötzlich selbst das Kind. Die Tür öffnet sich. Ein fremder Mann tritt ein. Er sieht schmutzig aus. Aus seiner fahlen Gesichtshaut ragen schwarze Bartstoppeln. Die fremde Gestalt flößt dem kleinen Mädchen Angst ein. Der Unbekannte beginnt zu sprechen. Hedwig fängt an zu weinen. Wie aus dem Nichts erscheint ihre Mutter. Die Mutter sieht noch erstaunlich jung aus und lächelt sie an. Hedwig vernimmt das Wort Vater. Die Gestalt hebt sie hoch und drückt sie an sich. Direkt vor Hedwigs Nase quellen aus dem Gesicht mit den ekeligen Bartstoppeln die Augen hervor. Aus den Augen sickert Wasser, immer mehr Wasser. Es rinnt in zwei kleinen Bächen an dem Mann hinunter, und überschwemmt die Holzdielen des Zimmers. Das Wasser schmeckt unangenehm salzig. Sie schreit und streckt ihre Arme nach der Mutter aus, aber die ist verschwunden. Sie hört Worte, deren Bedeutung sie nicht versteht: ´Verfluchter Krieg´. Der Fremde streichelt sie, will sie beruhigen, doch sie schreit weiter und versucht, sich seiner Umklammerung zu entwinden. Der Mann stellt sie mit seinen rauhen Händen vorsichtig zurück auf die Füße. Das Wasser ist schlagartig verschwunden. Sie rennt los. Um sie herum wachsen jetzt zierliche Bäume und der Dielenboden hat sich in Erde verwandelt. Sie läuft bergauf entlang fein säuberlich gereihter Rebstöcke. Grell scheint die Sonne und brennt ihr aufs Gesicht. Sie blickt nach oben, sieht zwischen grünem Laub Büschel von gelblich reifen Beeren hängen. Mit beiden Händen greift das Kind zu, stopft sich die süß schmeckenden Früchte in den Mund, soviel wie eben hineinpassen. Hedwig kaut, der Rebensaft sickert aus ihrem Mund, über ihre Lippen, tropft auf ihr Kleid, auf die braune bröselige Erde. Da steht erneut der fremde Mann vor ihr. Aber diesmal hat sie keine Angst, sie erkennt ihn sofort, es ist ihr Vater. Er ruft sie beim Namen, und sie schaut blinzelnd zu ihm auf. Er ruft abermals ihren Namen. Langsam kommt Hedwig zu sich. Sie schwitzt, hat Durst und sieht das schmale Gesicht der Hebamme über sich, hört die Frau sagen: „Sie haben lang geschlafen Frau Schmid, es wird Zeit, ihrem Kind die Brust zu geben."

    Wie erwartet, kehren zwei Wochen nach diesem Ereignis Vater und Großvater des Neugeborenen aus Holland zurück. Es ist Mitte April. Der scheußliche Dauerregen hat sich verzogen, und seit Samstag strahlt die Sonne wieder vom Himmel. Alle spüren ihre zunehmende Kraft. Es ist Sonntag, um ganz genau zu sein, Sonntagnachmittag. Etliche Personen sind bei Kaffee und Kuchen im Wohnzimmer des unscheinbaren Hauses versammelt, denn das neue Mitglied der Familie muß selbstverständlich gebührend gefeiert werden. Am Vormittag war die Taufe gewesen, wobei der Pfarrer Ilses nacktes Köpfchen mit reichlich geweihtem Wasser begossen hatte. Diese Prozedur war von dem Kind nicht gut aufgenommen worden und es hatte mit einem herzerweichenden Gebrüll reagiert. Jetzt sitzt die engere Verwandtschaft, dicht gedrängt, an dem ausladenden Holztisch, genießt einen der raren Momente der Muße und nutzt das gemütliche Beisammensein, um über Gott und die Welt zu plaudern. Der Vater von Hedwig, obwohl von Beruf Winzer, kennt sich trotzdem in den Belangen der Rheinschiffahrt aus. Der Rebenhang, der ihm gehört, hatte nie so viel Ertrag abgeworfen, daß davon eine ganze Familie satt geworden wäre. Deshalb fuhr er, einzig unterbrochen von den vier unseligen Kriegsjahren, seit eh und je in der kalten Jahreszeit als Heizer auf Schleppbooten, eine Knochenarbeit. Er ist heilfroh, in den Sommermonaten diese Schinderei nicht mitmachen zu müssen. Gerade wendet er sich mit vollem Mund an den Vater seines Schwiegersohnes: „Hei´rich, sach mal wie´s de´ momen´an die Auf´ra´sla´e? Über das Gesicht des Angesprochenen huscht ein zufriedenes Grinsen, ein Gesicht in dem Wind, Kälte, Sonne und Regen längst ihre sichtbaren Spuren hinterlassen haben, obwohl es noch keine sechzig Lenze zählt. Als er Kurt antwortet, sieht man bei ihm oben rechts eine Zahnlücke. „Ich kann mich nich´ beklagen. In den letzten Jahren hatten wir selten längere Liegezeiten wegen fehlender Ladung und die Frachtraten sind auch stabil geblieben. Ich überleg´ mir g´rad´, unseren Kahn mit ´nem Antriebsmotor auszustatten, so wär´n wir endlich von die Schleppboote unabhängig. Letztes Jahr hab´ ich bereits eine mit Petroleum betriebene Ankerlier auf´m Kahn installiert. Inzwischen hat Kurt seinen Kuchenhappen vollständig zu Brei zerkaut. Er schluckt ihn schnell hinunter, um deutlicher reden zu können. „Warum hast du einen solchen Ankermotor nich´ schon viel früher einbauen lassen? Auf uns´ren Schleppbooten werden schon länger dampfgetriebene Ankerliers eingesetzt. Heinrich runzelt nachdenklich die Stirn. Er starrt auf seine Kaffeetasse, hebt sie hoch, trinkt aber keinen Schluck. Er setzt die Tasse abrupt wieder ab und erwidert bedächtig, jedes Wort abwägend: „Ja Kurt, eine solche Entscheidung mußte reiflich überlegt werden. Immer schon haben die großen Reedereien unsereiner die tüchtigsten Matrosen weggeschnappt, da wir ihnen halt keine Aufstiegsmöglichkeiten bieten können. Otto, mein ehemaliger zweiter Matrose, der noch bei meinem Vater als Schiffsjunge angefangen hat´, war nich´ sonderlich helle, aber stets fleißig und ehrlich. Als dann die schlimmen Jahre kamen, unzähl´ge Männer ihre Arbeit verloren, wär´ Otto unweigerlich auf der Straße gestanden, hätt´ ich ihn damals entlassen und statt seiner ´ne Ankerlier eingebaut, um ´ne Arbeitskraft einzusparen. Jetzt brummtse, die Wirtschaft, und ´ne Arbeit zu finden, is´ kein Problem mehr. Kurt nickt beifällig. Während Heinrich erzählte, hatte er sich einen weiteren Bissen in den Mund geschoben. Erneut könnte er nur nuschelnd sprechen und zieht es diesmal vor, ganz zu schweigen. Heinrich hat sich dagegen warm geredet, ansonsten eher mundfaul, ist er heute ausnahmsweise in der Stimmung, seine Gedanken auch anderen mitzuteilen. Die Frauen und der frischgebackene Vater, die sich mit dem Dorfpfarrer unterhalten haben, sind mittlerweile verstummt und hören Heinrich ebenfalls zu. Dieser spricht, nach einer kurzen Pause, weiter: Anfangs war ich ja ziemlich skeptisch, ob dieser Hitler seine vollmundigen Versprechen wahr macht, aber ich muß zugeben, der Mann hat mich angenehm überrascht. Hedwig wirft ein, man lese in den Zeitungen von der Produktion neuer Panzer, Geschütze und Jagdflugzeuge, sie befürchte deshalb, es könne noch einmal zu einem verheerenden Krieg kommen. Heinrich wischt solche Schwarzmalerei mit einer energischen Handbewegung beiseite und erwidert barsch: „Ach Quatsch, das halt´ ich für ausgeschlossen. Wir besteh´n nur auf unserem guten Recht. Einzig und allein wegen der militärischen Aufrüstung haben´s die Franzmänner hingenommen, daß wir uns das Rheinland zurückholten. Die verdammten Reparationszahlungen sind wir, dank dem Führer, nu´ gleichfalls los. Ich denk´, ohne militärische Stärke hätt´ das nich´ geklappt. Kurt, der die letzten Weltkriegsjahre bis zum bitteren Ende als Soldat an der Westfront mitmachen mußte, war bei dem Wort Krieg unmerklich zusammengezuckt. Eben hat er seinen Mund leer geräumt und möchte jetzt auch wieder was sagen: „Verdammter Krieg! Lieber würd´ ich nochmals zehn Jahre am Hungertuch nagen, bevor ich erneut Soldat werden müßt´. Wem die Granaten, die Schrapnells um die Ohren gepfiffen sind und wer die Gasangriffe überlebt hat, wird nie wieder solch ein Inferno riskieren. Hitler war, genauso wie ich, im Krieg ein einfacher Gefreiter. Er hat auch im Dreck der Schützengräben gelegen. Deshalb sag´ ich euch, der will nich´ noch mal so´n Gemetzel! Da schaltet sich unvermittelt der junge Pfarrer in das Gespräch ein: „Wir dürfen jedoch keinesfalls vergessen, wie Herr Hitler vehement gegen unsere Mutter Kirche hetzt und unseren Heiland verleugnet. Ich traue diesem Atheisten nicht über den Weg, obschon der Heilige Vater in Rom neulich ein Abkommen mit ihm geschlossen hat. Die Mutter von Hedwig, die ebenfalls Ilse heißt und der zu Ehren die Enkelin heute Vormittag den gleichen Namen erhielt, ist ausgesprochen fromm. Sie hat, als strenggläubige Katholikin, stets das Zentrum gewählt. Auf ihren eindringlichen Wunsch hin war der Priester auch zum Kaffee gebeten worden. Aber jetzt ermahnt sie den Kirchenmann: Hochwürden, nachdem sogar Prälat Kaas und die deutschen Bischöfe den Nationalsozialisten die Hand gereicht haben, sollten Sie nich´ gar so mißtrauisch sein. Bestimmt erbarmt sich unser allmächtiger Herrgott und leitet den Führer bald auf den Pfad des Glaubens zurück. Die Schwester von Heinrich hält den Zeitpunkt nun für gekommen, ebenfalls ihre Meinung anzubringen. Sie ist unverheiratet und versorgt seit dem frühen Tod ihrer Schwägerin den brüderlichen Haushalt. „Ich find´ es ausgesprochen schad´, daß man den Kaiser verjagt hat. Und nach einem unüberhörbaren Seufzer verkündet sie resignierend: „Ach wär´ das schön, wenn wir noch unser´n Wilhelm hätten. Die Runde diskutiert weiter, über die politischen Verhältnisse, kommt dann aber bald auf die alltäglichen Nöte zu sprechen. Kurt fragt Heinrich, wann er denn gedenke, seine Zahnlücke schließen zu lassen. „Ooch, erwidert dieser gedehnt, das kann warten. Ich mußte letzten Winter einen großen Teil meiner Ersparnisse für ´ne dringende Instandsetzung des Schiffes verwenden. Es wär´ doch unverantwortlich, unser Bares für solch´ ´ne Nebensächlichkeit zu verschwenden. Hans, der frischgebackene Vater, ist unterdessen aufgestanden. Er geht voller Elan hinüber zur Wiege. Dort liegt der Täufling unter einer schützenden Wolldecke und brüllt sich gerade nach Kräften die Seele aus dem Leib. Hans hebt sein Töchterchen hoch, wiegt es bedächtig in den Armen. Aber dieses Schaukeln zeigt bei dem Säugling nicht die gewünschte Wirkung, es plärrt ohrenbetäubend weiter. Mit leicht genervtem Gesichtsausdruck erhebt sich Hedwig, nimmt ihrem Mann das Kind vorsichtig aus den Armen und geht mit dem Schreihals nebenan in die Küche. Die entstandene Unruhe benützt Kurt, um zum Aufbruch zu mahnen. „Komm Ilse, sagt er ungeduldig zu seiner Frau, „unser Zug fährt in ´ner knappen Stunde. Bis zum Bahnhof laufen wir mindestens dreißich Minuten. Mit bekümmerter Miene erwidert sie auf das Drängen ihres Mannes: „Ach du meine Güte, ich hab´ gar nich´ auf die Uhr geschaut. Die Zeit is´ mal wieder rasend schnell vergangen, aber wir treffen uns ja eh so selten. „Da hast du ein wahres Wort gesprochen, liebe Schwiegermutter, meint Hans. „Besonders die letzten zwei Monate hat dich Hedwig arg vermißt. Ich konnt´ in der langen Zeit nur ´nen einzigen Tag hier sein. Es war wie verhext, wir hatten ständig nur Frachtaufträge zwischen Duisburg und Rotterdam. Die Miene von Ilse verdüstert sich kurz, als sie antwortet: „Ich weiß, ich weiß. Hedwig hätt´ mich gern öfters bei sich gehabt. Aber Sieglinde bekam, wie ihr wißt, fast zur selben Zeit ´nen Sohn und es sah ganz danach aus, daß sie das Kind verliert. Ihr Mann reist als Vertreter ja auch dauernd durch die Gegend und is´ deshalb nur selten zu Haus´. Meine ältere Tochter war vollkommen auf sich allein gestellt. Ihr habt ja, Gott sei Dank, Henriette. Bei diesem Satz greift Ilse dankbar nach einer Hand von Henriette und hält sie fest umschlossen. Heinrichs Schwester fühlt sich geehrt, man merkt ihr aber deutlich an, wie verlegen sie wird, denn selten würdigt jemand ihren Einsatz für die Familie. „Eine Mutter, sagt Henriette bescheiden, „kann man schwer ersetzen. Jedoch versteh´n Hedwig und ich uns ausgezeichnet. Heinrich unterbricht seine Schwester, da ihm das Ganze zu sehr ins Sentimentale abzugleiten droht: „Ich möcht´ euch ja beileibe nicht drängen, aber ich denk´ es pressiert langsam, wenn Kurt und Ilse den Zug noch ohne Hetze erreichen wollen. Wie wär´s, wenn Hans euch zum Bahnhof begleitet? Kurt antwortet, das sei zwar gut gemeint, aber unnötig, zumal sie keinerlei Gepäck zu tragen hätten und ergänzt: „Überhaupt war´s schon ausgesprochen nett, daß ihr uns vom Bahnhof abgeholt habt. Hans, so meint er weiter, solle besser zuhause bei Hedwig bleiben, die ihn in letzter Zeit doch wirklich selten gesehen habe und bestimmt nicht glücklich darüber wäre, wenn er seine knapp bemessene Freizeit nun mit den Schwiegereltern verplemperte. Man einigt sich nach kurzem hin und her, daß Heinrich die beiden zum Zug begleiten wird.

    Am Abend finden sich die Hausbewohner nochmals in der guten Stube im Erdgeschoß zusammen. Nachdem Henriette und Hedwig die Reste des Abendbrotes abgeräumt haben, setzen sie sich zu den Männern an den Tisch. Jede hat eine Handarbeit auf den Knien. Hedwig strickt an einem Jäckchen für ihre Tochter und Henriette stopft, mit Hilfe eines hölzernen Fliegenpilzes, löchrige Socken von Hans. Da steht Heinrich auf, quert das Zimmer und steuert auf den funkelnagelneuen Rundfunkempfänger zu. Ursprünglich wollte er sich einen solchen überflüssigen Gegenstand nie ins Haus holen. Als aber ein Gerät zu einem Preis auf den Markt gekommen war, den sich praktisch jeder leisten konnte, da hatte er dem Wunsch seiner Schwester widerwillig nachgegeben und das unter dem Namen ´Volksempfänger´ vertriebene Radio gekauft. Er sucht nun ohne Hast nach einem Sender. Der Lautsprecher krächzt und pfeift. Endlich ertönt eine sonore Stimme aus dem Äther, sie kündigt ein Konzert der Wiener Philharmoniker an. Hedwig ist begeistert, möchte es sich unbedingt anhören. Henriette ist einverstanden. Heinrich brummt irgendwas Unverständliches und kehrt zu seinem Stuhl und seinem Bier zurück. Während die Töne des unsichtbaren Orchesters Hedwigs Ohren umschmeicheln, strickt sie eifrig weiter. Die Gedanken der jungen Mutter schweifen zurück zu ihrer Hochzeit vor rund einem Jahr.

    Im Großen und Ganzen war es eine eindrucksvolle Hochzeit gewesen. Sie waren mit einigen Familienangehörigen und den Trauzeugen in die benachbarte Kreisstadt gefahren. Dort sprach der Standesbeamte die üblichen Worte. Wobei er sich bei seiner Rede an das Brautpaar, zum Kummer Hedwigs, etwas zu sehr beeilte. Aber dies war verständlich, hatte doch das nächste Paar bereits vor der Tür gewartet, um gleichfalls in den Hafen der Ehe gelotst zu werden. Anschließend kehrte die Hochzeitsgesellschaft in das Dorf der Brauteltern zurück. Die kirchliche Trauung war erst für den nächsten Tag anberaumt. Und obwohl dem Gesetz nach bereits ein Paar, verbrachten Braut und Bräutigam die anstehende Nacht getrennt, so wie es die katholische Moral verlangte. Hans nächtigte mit seinem Vater in der Dorfgaststätte, die auch Gästezimmer vermietet. Im Anschluß an die kirchliche Zeremonie waren sämtliche Bewohner des Ortes zum Mittagessen in eben jene Gastwirtschaft geladen worden. Danach hatte man zu den Klängen eines Ziehharmonikaspielers ausgiebig getanzt, nicht wenig getrunken, viel gelacht, derb gescherzt und so ganz nebenbei auch manche neue zarte Bande geknüpft. In der folgenden Nacht waren die Rollen dann vertauscht worden, Hedwig schlief mit Hans im komfortabelsten Fremdenzimmer der Gaststätte, während ihr Schwiegervater sein Quartier im Hause der Eltern nahm. Ihr Jungmädchentraum einer Hochzeitsreise nach Wien ließ sich leider nicht verwirklichen. Erstens wäre das zu teuer geworden und zweitens mußten Hans und sein Vater dringend zurück auf ihr Schiff, da längst eine neue Ladung auf Beförderung wartete. Hedwig ging der Tradition gehorchend klaglos mit auf den Kahn.

    Die Philharmoniker haben ihr Konzert beendet. Die Löcher in den Socken sind gestopft und das Jäckchen steht kurz vor seiner Vollendung. Alle Anwesenden sind müde. Kaum daß die altehrwürdige Standuhr neunmal geschlagen hat, wird der Volksempfänger abgeschaltet und man geht zu Bett.

    Vor der Ehe hatte es für das junge Paar nur wenige Gelegenheiten gegeben, sich gründlicher zu beschnuppern. Es war rasch gegangen. Auf dem alljährlich stattfindenden Schifferball vor annähernd zwei Jahren waren sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben gegenübergestanden und hatten sich spontan ineinander verliebt. Weil Hedwigs Vater ein halber Rheinschiffer ist, wird er nebst Familie seit langem zu diesem Ball geladen. Übrigens die einzige größere Festivität, die er noch regelmäßig mitmacht, wenn man einmal von dem obligatorischen Besuch des örtlichen Winzerfestes absieht. Möglicherweise hätte er sogar diesen Ball in den letzten Jahren gemieden, wenn nicht seine Frau auf der Teilnahme rigoros bestanden hätte. Ilse ging es dabei keinesfalls um ihr eigenes Amüsement, sondern darum, ihre Töchter angemessen unter die Haube zu bringen. Die Verlobung von Hans und Hedwig war ohne viel Federlesens zügig beschlossen und gefeiert worden. Bis zur Hochzeit hatten sie sich nur ein paar Mal für einen knappen Tag gesehen, schwerlich genug um den anderen mit allen seinen Eigenheiten, Wünschen und Vorstellungen einigermaßen kennenzulernen. Dies mußten sie in der Ehe langsam erst nachholen. Auf dem Schiff war das Paar tagsüber höchst selten für sich allein und des Nachts, in dem engen Bett vorne am Bug des Kahns, schliefen sie bereits nach kurzer Zeit erschöpft ein. Außer sie waren damit beschäftigt, ihr frisches Verlangen füreinander zu befriedigen. Weil aber der Schiffsjunge Fritz unmittelbar gegenüber in seiner Koje lag, einzig getrennt durch zwei dünne Sperrholzwände, widmete sich Hedwig nur ungern mit Leidenschaft der Liebe. Sehr zum Leidwesen ihres Ehemannes.

    Heute, in der niedrigen Kammer unter dem Dach des Hauses, sind die Eheleute noch etwas länger wach. Glücklicherweise schläft ihr Töchterchen fest und friedlich in einer Wiege am Fußende des Bettes, nachdem sie zwei Tage zuvor, des Nachts, unentwegt gegreint hatte. Der von den verzweifelten Eltern zu Rate gezogene Doktor hatte aber beruhigt und nur schmerzhafte Blähungen diagnostiziert. Hedwig schmiegt ihren Kopf mit den dichten braunen Haaren an die blanke Brust von Hans. „Weißt du, beginnt sie leise, mich plagt da so´n schreckliches Gefühl, daß es bald zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommt. In den letzten Wochen hab´ ich ausgiebig Zeit gehabt, Radio zu hören. Dieser Minister Goebbels wetterte dauernd gegen den jüdischen Bolschewismus und das Ausland, das dem deutschen Volk seinen Lebensraum verweigert, wie er sich ausdrückte. Hans lächelt überlegen in das Dunkel hinein und meint: „Das is´ doch bloß Propaganda. Der Goebbels möcht´ halt das Volk beeindrucken und gleichzeitig die ausländischen Regierungen einschüchtern. Ich hab´s längst bemerkt, mein Schatz, du bist sehr ängstlich. Allein wieviel Gedanken hast du dir schon während der Schwangerschaft gemacht, ob unser Kind auch ja gesund zur Welt kommt. Dann deine ständige Furcht, wir könnten vielleicht mit unserem Boot kentern. Oder deine Sorge, daß ich bei Glatteis auf dem Gangbord des Kahns ausrutsch´, über´s Besteck fall´ und ins Wasser stürze. Hedwig läßt sich durch solcherlei Reden mitnichten beruhigen. Sie hebt leicht den Kopf, schaut ihrem Mann in die Augen und wendet mit Nachdruck ein: „Du bist aber tatsächlich einmal ausgerutscht und wärst um Haaresbreite in den eisigen Fluß gestürzt, ich hab´s genau gesehen und einen riesigen Schreck bekommen. Hans merkt, daß sich seine Frau auf diese Weise nicht beschwichtigen läßt und versucht, die Sache etwas geschickter anzupacken. „Natürlich freu´ ich mich, wenn du so um mich besorgt bist. Wär´s anders, müßt´ ich ja befürchten, du liebtest mich gar nicht. Aber meinst du nich´, wir sollten diesen schönen Tag erfreulicher ausklingen lassen? Und uns nich´ durch düstere Gedanken die Stimmung versauen. „Hast ja recht, lenkt Hedwig ein. Ihr Kopf sinkt auf seine Brust zurück. „Der Tag war wirklich wunderbar. Bitte verzeih´, aber ich werd´ die Angst vor einem neuen Krieg einfach nicht los, ich weiß auch nicht warum. Nach kurzem Schweigen, währenddessen Hans versucht seine Frau durch Liebkosungen abzulenken, unterbricht Hedwig abrupt die Stille: „Da fällt mir übrigens eine Geschichte aus meiner Schulzeit ein. Wir hatten damals einen Lehrer, von Anfang an war der mir nicht geheuer. Warum, hätt´ ich nicht mal erklären können, denn zu uns Schülern war er eigentlich immer recht nett. Ich hatt´ sogar mal einen Albtraum wegen ihm, worin er mir als Vampir erschien. Plötzlich tauchte der Lehrer von Heut´ auf Morgen nicht mehr auf, seinen Unterricht übernahm ein anderer. Die Erwachsenen taten völlig ahnungslos, als ob sie nicht wüßten, was passiert sei. Aber nach und nach bekamen wir Schüler alles heraus. Der Lehrer hatte seine Frau samt seinen drei Kindern mit einer Pistole erschossen, die er aus dem Krieg mitgebracht haben soll. Hans fröstelt, er will unbedingt das Thema wechseln. Mit gespielter Fröhlichkeit beginnt er: „Hab´ ich dir schon mal von meinem Jugendtraum erzählt, Automobilmechaniker zu werden? Hedwig hebt erneut den Kopf und blickt ihren Mann erstaunt an. „Wie bist du denn auf diesen Wunsch verfallen?, fragt sie. „Damals, in meinem Schifferinternat, gab´s einen technikbegeisterten Pfarrer, der mit einem wohlhabenden Kaufmann befreundet war. Dieser Kaufmann besaß als einer der Ersten im Ort ein eig´nes Automobil. Der Pfarrer überredete seinen Freund, uns Schülern die Benzinkutsche mal vorzuführen. Ich hab´ mir den Motor ganz genau angeschaut, dann den Mann gefragt, ob er ihn auch reparieren könne. Der Kaufmann schüttelte seinen Kopf und erklärte lachend, hierfür gäb´s doch Spezialisten, sogenannte Automobilmechaniker. Da beschloß ich, eines Tages Mechaniker zu werden. Als ich in den nächsten Ferien aus dem Schifferkinderheim auf unseren Kahn zurückkehrte und freudig mein Berufsziel kundtat, versetzte mir Vater eine schallende Ohrfeige. Dann meinte er, ich soll´ mir solch dumme Flausen schleunigst aus dem Kopf schlagen. „Und, hast du versucht, ihn umzustimmen, als du mit der Schule fertig warst?, will Hedwig wissen. Hans lacht ein wenig bitter. „Du kennst doch meinen Alten, das wär´ völlig zwecklos gewesen. Überdies fühlte ich mich, kaum daß ich die Schiffsjungenzeit hinter mich gebracht hatte, für unseren Kahn mitverantwortlich. Außerdem wär´ Vater, nach dem Tod von Großvater, finanziell nich´ über die Runden gekommen, wenn er zwei fremde Matrosen hätt´ beschäftigen müssen. „Also bist du eigentlich ungern Rheinschiffer?, meint Hedwig betrübt. „Das möcht´ ich so keineswegs behaupten. Das Schifferleben hat seine Vorzüge. Wir kommen viel rum. Du kannst den ganzen Tag in meiner Nähe sein. Und in einigen Jahren, wenn der Kahn uns gehört, bin ich sogar mein eigener Herr. „Mir gefällt´s auch, wenn wir ständig zusammen sind, erwidert Hedwig. „Was machen wir aber, wenn Ilse in die Schule geht? Ich mag gar nicht daran denken, unsere Tochter in ein Schifferkinderheim stecken zu müssen. Das paßt mir überhaupt nicht! Jedoch kaum weniger schlimm fänd´ ich´s, mit Ilse an Land zu bleiben und dich dann nur noch alle paar Wochen zu sehen. Hans atmet tief durch. „Das kannst du glauben, mir würdest du genauso fehlen, denn die Trennung schlüge mir mächtig auf´s Gedärm, der Schiffsjunge hat während deiner Abwesenheit ´nen Saufraß zusammengekocht, versucht Hans die Unterhaltung ins Spaßige zu ziehen. Hedwig lächelt süß-säuerlich. „Ja, darauf bin ich stolz, das mit dem Kochen hab´ ich tatsächlich schnell hingekriegt. Ich hätt´ nicht gedacht, wie viel schwieriger das auf´m Schiff is´. Allein schon die Planung der Einkäufe, dauernd überlegen zu müssen, wo man welche Sachen günstig erwerben kann. Dann die Schlepperei der Lebensmittel zum Kahn. Die Geschäfte in den Städten liegen ja meist weit weg von den Häfen. Das alles is´ wirklich mühselig und zeitraubend. Ich hab´ mir schon überlegt, ob es nicht ´ne große Erleichterung wär´, wenn wir uns ein Fahrrad anschaffen würden. Ich könnt´ auf dem Rückweg die vollen Einkaufstaschen an den Lenker hängen und die schweren Kartoffelsäcke auf dem Gepäckträger transportieren. Hans, stets bemüht die Wünsche seiner Frau ernst zu nehmen, stimmt zu. Darüber hinaus zwackt ihn das schlechte Gewissen, sein grober Scherz von eben ist ihm noch etwas unangenehm. „Das is´ gar keine schlechte Idee, aber kannst du überhaupt Fahrrad fahren?, will er skeptisch wissen. „Ich kann´s lernen, das wär´ sicher kein Problem. „In Ordnung, dann sprech´ ich bei nächster Gelegenheit mit Vater." Hedwig ist Hans für sein Verständnis dankbar. Jetzt wird sie langsam müde, sie gähnt herzhaft. Kurze Zeit später entschlummert sie in den Armen ihres Mannes und fährt im Traum stolz auf einem Fahrrad umher. Hans schläft ebenfalls ein, äußerst zufrieden mit sich und der Welt

    2. Kapitel

    Am nächsten Morgen, noch vor Tagesanbruch, begibt sich der um Ilse erweiterte Familienkreis zurück auf die ´Minerva´. Der große Strom erwartet sie. Auf seiner Oberfläche trägt er mit stoischer Geduld die Sorgen und Wünsche der Schifferleute einer ungewissen Zukunft entgegen. Hans löst in der gleichen Woche sein Versprechen ein, er bittet seinen Vater um ein Fahrrad für Hedwig. Heinrich lehnt diesen Wunsch rundweg ab. Er hält ein Fahrrad für absolut überflüssig. Es kommt zwischen ihnen zu einem handfesten Krach. Hans würde seiner Frau liebend gern so einen Drahtesel selber kaufen, aber daran ist bei seinem mageren Lohn überhaupt nicht zu denken. Bereits die nötigsten Anschaffungen für Ilse haben seine Geldbörse weit mehr als erträglich strapaziert. Und wenn nicht freundlicherweise Henriette mit einem Teil ihrer Ersparnisse ausgeholfen hätte, wären sogar diese Ausgaben über seine finanziellen Kräfte gegangen.

    Hedwigs Arbeit verdoppelt sich fortan. Sie muß neben ihren Hausfrauenpflichten zusätzlich ihre Tochter versorgen. Zwar haben die jungen Eltern ihre eigene winzige Behausung am Bug des Schiffes, aber tagsüber hält sich Hedwig hauptsächlich in der Roef auf, in der verhältnismäßig geräumigen Wohnung ihres Schwiegervaters am Heck des Kahns. Dort gibt es auch eine ansehnliche Küche mit allen Einrichtungen und Gerätschaften, wie man sie gleichermaßen an Land findet. Wobei einschränkend gesagt werden muß, daß an Bord des Schiffes kein elektrischer Strom vorhanden ist und die Schifferfrau deswegen auf einen Kühlschrank verzichten muß. Alles, was leicht verdirbt, wird in einem mit Fliegengitter versehenen Schrank unterhalb des Steuerstuhls aufbewahrt. Da ist es im Sommer schattig und der Schrank wird vom Fahrtwind ausreichend belüftet.

    Hedwigs Männer leisten schwerste körperliche Arbeit, essen entsprechend viel, am allerliebsten Fleisch und Wurst. An den jeweiligen Einkaufstagen bringt sie deshalb regelmäßig einen Braten auf den Tisch. Am folgenden Tag gibt es dann Gulasch. Sollte immer noch Fleisch übrig sein, wird es luftdicht mit Fett eingerieben und in den Fliegenschrank gelegt. Solchermaßen behandelt vergammelt es nicht so leicht.

    Der tägliche Abwasch wäre kein Problem für Hedwig, wenn da nicht die Sache mit dem Wasser holen wäre. Bei voller Fahrt ist das Schöpfen des Rheinwassers äußerst kraftraubend. Hedwig ist zu stolz, die Männer um Unterstützung anzugehen. Kommt Hans zufällig vorbei, packt er selbstverständlich mit an, ebenso der blutjunge Schmelzer. Aber in der Regel haben beide anderswo genug zu tun. Auch Hedwigs Schwiegervater ist schwer beschäftigt, steht während der Fahrten überwiegend an der Haspel, dem mächtigen Steuerrad des Kahns. Mehrmals rief er ihr, als sie sich anfangs beim Wasserholen ungeschickt anstellte, halb aufmunternde, halb spöttische Worte zu, die sie erst recht anspornten, niemanden um Hilfe zu bitten.

    Aber von allen ihren Pflichten ist das Waschen die mühseligste Arbeit. Zwar hatte es Henriette bei ihrem Bruder erreicht, daß Hedwig eine Waschmaschine als Hochzeitsgeschenk erhielt, aber dieser massive Holzbottich, der von Hand mühselig mit heißem Wasser befüllt werden muß und eine Kurbel zum Herumwirbeln der schweren nassen Kleidungsstücke besitzt, erleichtert die Plackerei nur unwesentlich. Beim Trocknen der Wäsche an Deck des Schiffes muß frühzeitig bedacht werden, welche Ladung der Kahn am Waschtag führt. Hat man Kohle an Bord, ist es wenig ratsam, die schneeweißen Bettbezüge und Bettlaken aufzuhängen.

    Auf Booten, auf denen keine Frau mitfährt, ist es üblich, daß der Schmelzer kocht. Hans und Heinrich mußten die letzten beiden Monate das dürftige Ergebnis des in dieser Kunst ungeübten Schiffsjungen hinunterwürgen. Deswegen sind sie dankbar, wieder Hedwigs Kochkünste genießen zu dürfen. Aber der Mensch gewöhnt sich rasch an veränderte Gegebenheiten, besonders wenn sie positiver Art sind. Das Lob für ihre schmackhafte Küche wird bald seltener und bleibt schließlich ganz aus.

    Viel Zeit verbringt Hedwig auch mit Putzen. Der Boden und die holzverkleideten Wände der Roef werden von der Schifferfrau regelmäßig mit der Wurzelbürste bearbeitet. Für das Reinigen der Kajüte und der niedrigen knapp über dem Wasserspiegel gelegenen Toilette im Schiffsbug ist hingegen der Schmelzer verantwortlich. Der Schiffsjunge muß natürlich auch seine eigene Kleidung in Ordnung halten. Doch Hedwig näht ihm manchmal einen abgerissenen Knopf an oder flickt einen Riß in seinem Hemd. Solche Gefälligkeiten muß sie aber vor den Augen ihres Schwiegervaters sorgfältig verbergen, denn er vertritt die Ansicht, man setze dem Jungen damit nur unnötige Flausen in den Kopf.

    Der Sommer ist angebrochen und mit ihm die angenehmste Jahreszeit auf dem Schleppkahn. Kein gefährliches Eis auf dem Gangbord, keine tückischen Nebelschwaden über dem Wasser. Die ´Minerva´ liegt sicher vertäut im Rotterdamer Hafen und wartet darauf, eine Ladung Erz zu übernehmen, das der Partikulier zu den Hüttenwerken ins Ruhrgebiet bringen soll. Jedoch wurde ihm heute Morgen von der Hafenverwaltung mitgeteilt, daß sich das Verladen der Fracht verzögern werde. Sämtliche Kräne seien ausgebucht, hieß es. Deswegen geht es heute auf dem Schiff relativ geruhsam zu.

    Am frühen Vormittag hatte Hedwig wie geplant in der Stadt eingekauft. Seit sie auf dem Kahn mitfährt, ist sie bereits mehrmals in Rotterdam gewesen. Die Metropole nahe am Meer gefällt ihr ausgesprochen gut. Überhaupt mag sie die Holländer gern. Der Menschenschlag mit seiner unkomplizierten und fröhlichen Art, Scherzworten selten abgeneigt, liegt ihr sehr. Zwar versteht Hedwig nur einen Teil, von dem was gesagt wird, doch der Tonfall und die Gesten der Hände helfen die Worte richtig zu interpretieren. Zum Mittagessen hatte sie fangfrische Scholle serviert. Anschließend war Heinrich an Land gegangen, um sich an der Schifferbörse über die aktuellen Notierungen der Frachtraten zu informieren und die letzten Neuigkeiten aus der Welt der Schiffahrt zu erfahren. Nachdem Hans gut gelaunt ausnahmsweise seiner Frau beim Abwasch geholfen hat, machen es sich die jungen Eheleute auf zwei Stühlen gemütlich, die sie auf das von der Sonne beschienene Deck unmittelbar vor den Steuerstuhl gestellt haben. Im Schatten, neben Hedwigs Füßen, liegt Ilse auf einer mehrfach gefalteten Wolldecke und spielt still vergnügt mit ihren eigenen Zehen. Während im Hintergrund das monotone Hämmern des Rost klopfenden Schmelzers, das unangenehme Quietschen und Gerassel der sich drehenden Kräne, das mahlende Geräusch rangierter Güterwagen und von weitem gelegentlich das heisere Dröhnen einer Schiffssirene an ihre Ohren dringt, döst Hans, trotz der beachtlichen Geräuschkulisse, entspannt vor sich hin. Hedwig strickt derweil unverdrossen Anziehsachen für ihr Töchterchen. Ihr Kahn liegt, wegen der bevorstehenden Beladung, direkt am Kai. Zwei breite Holzplanken verbinden die Steuerbordseite mit dem Ufer. Plötzlich ertönt von dort ein wildes Geschrei. Hedwig unterbricht ihre Arbeit und blickt in Richtung des Aufruhrs. In diesem Moment flitzt ein dürrer buntscheckiger Hund aus einer nahen Lagerhalle und rennt schräg auf die ´Minerva´ zu. Hinter ihm her, mit heftig fuchtelnden Armen, eine Reihe von Schauerleuten. Der verängstigte Hund, von den Männern beinahe eingekreist, sieht kein anderes Schlupfloch als die Planken der ´Minerva´. Mit einem Satz saust er darüber hinweg und ist augenblicklich irgendwo zwischen den fein säuberlich aufgeschossenen Tauen verschwunden. Der ungewöhnliche Lärm hat Hans aus seinem Halbschlaf gerissen. Er bekommt gerade noch mit, wie das Tier auf den Kahn flüchtet. Etwas benommen steht er auf und geht zu jener Stelle, an der er eben noch den Hund verschwinden sah. Tatsächlich entdeckt er ihn nach einigem Suchen und will den Köter über die Planken zurück ans Ufer scheuchen. Doch das Hündchen hat die Gefahr an Land nicht vergessen. Es wetzt, seinem Instinkt gehorchend, in Richtung Heck, dicht an Hans vorbei. Dieser schnellt herum und verfolgt, mit sichtlich mehr Energie und aufsteigendem Ärger, den gerissenen Bastard. Der Schiffsjunge hat seine Reparaturarbeiten am Bug unterbrochen und schließt sich, froh über die Abwechslung, der Verfolgungsjagd eifrig an. Gemeinsam wollen sie das Mistviech in die Zange nehmen, moralisch unterstützt von einer johlenden Schar am Kai stehender Arbeiter. Allein Hedwig empfindet die Jagd weder als ärgerlich, geschweige denn unterhaltsam. Ihr tut das Hündchen schlichtweg leid. Aber wie intensiv Schmelzer und Matrose auch suchen, das Tier ist und bleibt unauffindbar. Es hat sich irgendwo äußerst geschickt verkrochen. Verdrossen geben die Zwei ihre Suche vorerst auf. Die Schauerleute am Ufer haben das Interesse an dem Spektakel mittlerweile verloren. Sie wenden sich wieder den Tätigkeiten zu, für die sie bezahlt werden. Hans ist zu seinem Stuhl zurückgekehrt und der Schiffsjunge klopft weiter den Rost von den eisernen Spanten. „Schatz, beginnt Hedwig, „wär´s denn nicht möglich, den Hund zu behalten, falls wir ihn fänden? Natürlich vorausgesetzt, niemand erhebt Anspruch auf ihn. Du könntest doch bei den Hafenleuten mal nachfragen. Deutlich sieht man Hans an, was er von diesem Vorschlag hält. Doch zögert er, die ihm blödsinnig erscheinende Grille seiner Frau rundweg abzulehnen. Stattdessen erwidert er: „Ich denk´ du hast genug zu tun. Warum willst du dir wegen so ´nem Bastard noch mehr Arbeit aufhalsen? Hedwig läßt nicht locker: „Ach, das bißchen mehr an Arbeit ist nicht der Rede wert. Der Hund wär´ außerdem nützlich, er könnte helfen das Schiff zu bewachen und später für Ilse ein Spielkamerad werden. Hans denkt an seinen Vater, an dessen wahrscheinliche Reaktion auf diesen Wunsch. Nach der Niederlage mit dem Fahrrad will er so bald keinen neuen Streit mit seinem Boss vom Zaun brechen und gleich gar nicht wegen solch einer Lappalie. Daher sagt er ausweichend: „Ich werd´ mich mal im Hafen umhören, ob irgendjemand weiß, wem der Köter gehört." Umgehend macht er sich auf den Weg. Das Motiv für diesen unerwarteten Elan ist die vage Hoffnung, den Eigentümer zu finden. Trotz gründlicher Nachforschungen ergibt sich aber nicht der geringste Hinweis auf ein Herrchen oder ein Frauchen. Alle, die der Matrose befragt und die von der Existenz des Tieres überhaupt wissen, antworten immer das Gleiche: Der Keuterboer sei vor ungefähr einer Woche urplötzlich hier im Hafen aufgetaucht und in den Hallen und an den Kais, auf der Suche nach Eßbarem, herumgestreunt.

    Hedwig bringt Ilse derweil unter Deck, stillt den Säugling, legt ihn trocken und anschließend schlafen. Danach nutzt sie die Abwesenheit ihres Mannes, um in Ruhe nach dem Tier zu suchen. Bald findet sie das völlig verängstigte, am ganzen Leib zitternde Hündchen zusammengekauert unter einem Stapel Schmutzwäsche, den sie heute Früh hinter dem Treppenaufgang der Roef abgelegt hatte. Unter dem kurzhaarigen abwechselnd braunen und weißen Fell zeichnen sich deutlich die Rippen ab. Offensichtlich hatte das Tier in letzter Zeit nur unzureichend Nahrung gefunden. Mit ruhiger Stimme redet Hedwig auf den vermutlich noch nicht lange dem Welpenalter entwachsenen Hund ein. Vielleicht hatte er mit weiblichen Wesen in seinem bisherigen Hundeleben weniger schlechte Erfahrungen gemacht, denn es gelingt ihr relativ schnell, ihn zur Aufgabe seines Versteckes zu bewegen. Wobei sicherlich auch der verführerische Duft einer dicken Scheibe Wurst nicht unerheblich dazu beiträgt. Er kommt geduckt herangekrochen, ganz vorsichtig, jederzeit bereit blitzartig den Rückzug anzutreten, falls es die Situation erfordern sollte. Nach einer Weile ist das Vertrauen des jungen Rüden zu Hedwig so weit gewachsen, daß er sich behutsam streicheln läßt. Er beschnuppert ihre Füße und leckt mit seiner dünnen rosafarbenen Zunge die Finger ihrer rechten Hand ab, die eben noch die Wurst gehalten haben. Mit seinen pechschwarzen Augen, den abgewinkelten spitzen Ohren und der gescheckten länglichen Hundeschnauze, sieht er wie ein drolliger Kobold aus. ´Ja´, denkt Hedwig, ´Kobold wär´ ein passender Name für dich.´ Als Hans knapp zwei Stunden später auf das Schiff zurückkehrt, ist er schlecht gelaunt, denn er befürchtet, daß seine Frau den Köter inzwischen gesucht und möglicherweise gar aufgespürt hat. Dann würde es verdammt schwer werden das Viech wieder von Bord zu jagen. Und tatsächlich präsentiert ihm seine Frau voller Freude Kobold. „Du hast sogar schon einen Namen für den Hundskrüppel, ist seine unwirsche Reaktion. Hedwig, ob dieser ruppigen Begrüßung verschnupft, hatte keinesfalls erwartet, daß er ihr beim Anblick des Hündchens vor Begeisterung um den Hals fallen würde, aber etwas mehr Tierliebe hätte sie sich von ihrem Mann dann doch gewünscht. Hans merkt, daß er einen Fehler begangen hat, und versucht seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. „Ob der Hund auf dem Kahn bleiben kann, darf ich nich´ entscheiden. Du weißt ganz genau, mein Vater hat darüber das letzte Wort. „Das mußt du nicht extra betonen, erwidert Hedwig gereizt, „aber du könntest mich wenigstens dabei unterstützen ihn zu überreden, daß ich den Hund behalten darf. Hans, dem jeglicher Streit zuwider ist, befindet sich in einer verzwickten Lage. Die Idee seiner Frau gefällt ihm ganz und gar nicht, dennoch sieht er sich genötigt Hedwigs Partei zu ergreifen, um sie friedlich zu stimmen. Möglicherweise wird er so abermals den Zorn des Alten auf sich ziehen.

    Heinrich kehrt am späten Nachmittag von der Schifferbörse zurück und lehnt wie erwartet Hedwigs Wunsch, lauwarm unterstützt von Hans, kategorisch ab. Da zeigt die umgängliche Hedwig eine bemerkenswerte Hartnäckigkeit. Unbeeindruckt von dem barschen Nein des Schiffsführers argumentiert sie geschickt für den Verbleib des Tieres. „Schwiegervater, ich kann mich noch lebhaft erinnern, wie du mir im Januar, bei der Feier von Henriettes sechzigstem Geburtstag, erzählt hast, daß die Freude immens groß war, als dein Vater einen Pudel mit aufs Schiff brachte und euch Kindern zum Geschenk machte. „Das stimmt, brummt Heinrich ärgerlich, „aber ich hab´ dir da nur den erfreulichen Teil der Geschichte erzählt. Denn eines Tages kam das traurige Ende. Wir spielten mit dem Hund Fangen, unser Pudel ging über Bord und is´ abgesoffen. Henriette und ich mußten´s ohnmächtig mit anseh´n. Der Kahn fuhr im Schleppkonvoi zu Berg. Wir konnten unmöglich abstoppen, um das Tier mit Hilfe des Nachens aus dem Strom zu fischen. Meine Schwester hat ´ne Woche lang geflennt. Ich fühlte mich ebenfalls furchtbar elend. Den Anblick, wie unser Hund verzweifelt gegen die Strömung ankämpfte, bis er entkräftet unterging, werd´ ich mein Lebtag nicht vergessen. „Danke für die Warnung, meint Hedwig ganz praktisch, „also acht´ ich d´rauf, daß Kobold während der Fahrten immer angebunden bleibt. Ich schlag´ deswegen vor, wir spannen ein dünnes Drahtseil längs der Schiffsmitte und befestigen daran die Hundeleine mit einem Karabinerhaken. So hat Kobold ausreichend Bewegungsfreiheit. Damit der Hund aber nicht aus Versehen ins Wasser fällt, passen wir die Länge der Hundeleine entsprechend an. Das Drahtseil kann auch der zukünftigen Sicherheit Ilses dienen. Ich bastle ein Geschirr für sie und hak´ unser Kind dann mit einer zweiten Leine ebenfalls am Seil fest. So brauch' ich nicht ständig hinter ihr her zu sein, wenn sie anfängt, auf dem Deck herumzukrabbeln." Dieser Vorschlag gefällt Heinrich. Seine Bedenken schwinden und schließlich gibt er seinen Segen zu der herrenlosen Promenadenmischung.

    Zwei Tage nach diesem Ereignis ist die ´Minerva´ flußaufwärts unterwegs. Kobold gewöhnt sich außerordentlich rasch an das Bordleben, weswegen Heinrich vermutet, der Hund könne von einem anderen Schiff stammen. „Wahrscheinlich wurd´ er absichtlich ausgesetzt", meint er grimmig. Hans kann sich nur schwer mit Kobold anfreunden. Im Gegensatz dazu sind das Hündchen und Heinrich bald unzertrennlich. Kobold liegt meistens unterm Steuerstuhl, wenn Heinrich an der Haspel steht. Der Vorschlag Hedwigs mit dem Drahtseil wird von Hans ohne zu murren verwirklicht, wohl aber eher wegen der größeren Sicherheit für sein Töchterchen.

    Den ganzen Sommer und Herbst hindurch kehrt die ´Minerva´ nicht mehr nach Rotterdam zurück. Der Partikulier erhält ständig nur Frachtladungen zwischen Ruhrort und dem Oberrhein. Mal sind es Kohlen für Basel, ein anderes Mal Maschinenteile oder Rohstahl nach Mannheim und Ludwigshafen. Auf der Rückfahrt zu Tal hat das Schiff überwiegend Kies, ab und an auch Düngemittel geladen. Völlig neuartig ist ein Transportauftrag, den Heinrich im Herbst erhält. Er soll mit seinem Kahn mehrere Panzerwagen von Duisburg nach Speyer verbringen. Daß über viele Monate hindurch der Kahn nicht mehr bis nach Wesel am Niederrhein gelangt, stört allein den Schiffsjungen, denn er stammt von dort. Dagegen kommen Hans und Heinrich aus einem Dorf am Mittelrhein in der Nähe von Bad Salzig, einem Städtchen südlich von Koblenz gelegen. So hat die Familie Schmid während dieser Monate öfters Gelegenheit, ihrem festen Wohnsitz für eine Nacht einen Besuch abzustatten.

    Die oberhalb von Bad Salzig gelegene Rheingebirgsstrecke zwischen St. Goar und Bingen ist der gefährlichste Stromabschnitt des gewaltigen Flusses. Hier hat sich der Rhein über Jahrmillionen durch das Schiefergebirge gewühlt und trennt seither den linksrheinischen Hunsrück vom rechtsrheinischen Taunus. Trotz ihrer latenten Angst das Schiff könnte eine Havarie erleiden, ist Hedwig beim Durchqueren dieses Rheinabschnittes jedes Mal aufs Neue von dem Gedanken fasziniert, wie das geschmeidige Wasser selbst hartes Gestein auf Dauer bezwingt. Die Männer sind in diesen Stunden hochkonzentriert und verschwenden auf irgendwelche philosophische Betrachtungen natürlich keinen Gedanken. Da ihr Kahn bergauf wie bergab von einem Dampfboot gezogen werden muß, hängt die ´Minerva´ zusammen mit anderen Kähnen während der Fahrten an einem langen Schleppstrang aus Stahl.

    Jetzt, auf ihrer Fahrt bergauf, muß die Zahl der Anhänge des Schiffsverbandes auf der Höhe der Reede von Bad Salzig von fünf auf zwei reduziert werden. Es ist schon spät am Nachmittag und der Kapitän des Schleppbootes möchte unbedingt vor Einbruch der Dunkelheit Bingen erreichen. Alle Kähne auf einmal zu ziehen, dafür ist sein Boot auf diesem Streckenabschnitt zu schwach und die Strömung zu stark. Der Dampferkapitän gibt mit der Schiffsglocke ein erstes Signal. Gleich darauf verlangsamt er das Tempo. Die Stahlstränge von Schiff zu Schiff entspannen sich. Anschließend werfen auf sein Kommando hin die letzten drei Kähne ihre Schleppstränge der Reihe nach ab. Dieses Manöver erfordert Können und Erfahrung. Heinrich hatte es bei Beginn der Reise in Ruhrort durch geschickte Verhandlungen mit dem Kapitän erreicht, daß sein Boot am Ende des Schiffskonvois fuhr, und darf nun den Schleppstrang zuerst abwerfen. Aufgrund der Trägheit ihrer großen Masse macht die ´Minerva´ noch eine gute Minute Fahrt bergauf. Diese physikalische Eigenschaft nutzt der Schiffsführer geschickt aus, um seinen Kahn aus der Fahrrinne heraus, Richtung Steuerbord in die Nähe des Ufers zu lenken. Dabei muß er auf zahllose andere Boote achtgeben, die in diesem Bereich gleichfalls auf Reede liegen, während sie alle auf die Rückkehr ihrer Schleppdampfer warten. Vorne am Bug stehen Hans und der Schiffsjunge Fritz. Sie warten auf einen Zuruf ihres Chefs, um im richtigen Moment den schweren Stockanker, mitsamt der sich rasant abspulenden Ankerkette, ins Wasser rauschen zu lassen. Es ist jedesmal ungewiß, ob der Anker am Flußgrund rechtzeitig greifen wird, der hier nicht sandig ist, sondern größtenteils aus nacktem Felsen besteht. Finden die Ankerarme keinen Spalt, in dem sie sich verkeilen können, wird das Schiff unweigerlich flußabwärts getrieben und läuft Gefahr, mit anderen Kähnen zu kollidieren. Doch das Manöver gelingt auch diesmal. Der Nachen wird an das Schiff herangezogen und Heinrich rudert mit Hans gemeinsam ans Ufer. Auf der Heckbank, ihnen gegenüber, sitzt Hedwig mit Ilse im Arm. Fritz und Kobold müssen an Bord bleiben. Sie sollen das Schiff bewachen. Nachdem das Beiboot am Ufer sicher vertäut ist, begibt sich die Familie auf den Weg nach Hause. Rechtzeitig zum Abendessen gelangen sie in ihr Dorf. Genau aus diesem Grund wollte Heinrich als Letzter im Konvoi fahren. So haben die Schifferleute genügend Zeit gewonnen, daß sie einen Abend und eine Nacht lang ihr festes Heim genießen können.

    Schon mit dem ersten Zug im Morgengrauen sind sie wieder auf dem Weg zu ihrem Kahn. In dem Abteil Dritter Klasse sitzen außer ihnen zwei Bauersfrauen. Sie wollen Eier und den Speck geschlachteter Schweine auf dem Wochenmarkt in Bad Salzig verkaufen. Heinrich und sein Sohn nutzen die Bahnfahrt für ein kurzes Nickerchen. Hedwig kommt mit den Frauen ins Gespräch. „Was für ´n braves Kind! Is´ es ein Junge oder ein Mädel?, will die Ältere der Bäuerinnen wissen. „Ein Mädchen, antwortet Hedwig. „Oh, wie gern hätt´ ich auch ein Mädel gehabt, aber dann sind´s halt drei Buben geworden, sagt sie lachend und fährt fort: „Mittlerweile sind meine Jungs erwachsen. Mein Gott, wie die Jahre vergeh´n. Ich erinner´ mich noch, als ob´s gestern gewesen wär´, als sie auf allen Vier´n durch die Stube gerobbt sind. „Meine Tochter kann sich seit drei Wochen vom Rücken auf den Bauch dreh´n, verkündet Hedwig stolz. „Genießen Sie die Zeit. Sobald die Kinder größer werden, wachsen mit ihnen auch die Sorgen, belehrt die Landfrau und erzählt: „Mein Ältester ist in die NSDAP eingetreten, dauernd schwätzt er davon, daß bald bess´re Zeiten für uns Bauern anbrechen werden. Ich bin ja schon froh, wenn wir nich´ nochmals so ´nen fürchterlichen Krieg durchmachen müssen und keine Besatzer mehr im Land haben. Die beschlagnahmten damals nämlich, gleich nach dem Friedensschluß, uns´ren einzigen Ackergaul. Das war´n harter Schlag! Meine Jungs mußten die Verzweiflung ihres Vaters miterleben. Seitdem hassen sie die Franzosen. „Ich find´s vollkommen richtig, wenn das deutsche Bauerntum gestärkt wird, schaltet sich die jüngere Landfrau in das Gespräch ein und meint: „Was macht ein Volk, das keine Menschen mehr hat, die die Äcker bestell´n und Wies´n mäh´n? Jahrhunderte hat´s unendlich viel Schweiß und entsetzliche Müh´n gekostet, das Land urbar zu machen. Die Städter zerbrechen sich nie den Kopf darüber, wer sie täglich satt macht. Nur wenn sie hungern müssen, dann fällt´s ihnen plötzlich ein, daß man ja auch die Bauern braucht. „Das stimmt allerdings, pflichtet ihr die Ältere mit einem Kopfnicken bei. „Wohin fahr´n Sie denn?, will die jüngere Bäuerin nun neugierig von Hedwig wissen. „Wir sind auf dem Weg zu unser´m Kahn und haben nur einen kurzen Besuch Zuhaus´ gemacht. In zwei Stunden wird das Dampfboot aus Bingen zurückkehren und schleppt uns weiter bis Ludwigshafen. „Sie besitzen ein eigenes Schiff?, fragt die Ältere interessiert. „Mein Schwiegervater is´ Partikulier, ihm gehört die ´Minerva´ , gibt Hedwig bereitwillig Auskunft. „Da kommen Sie bestimmt viel ´rum, meint die Jüngere. „Nein, nein, so´n Zigeunerleben wär´ nichts für unsereiner. Ich wach´ lieber morgens auf und weiß, wo ich bin, wendet die ältere Landfrau, während sie energisch ihren Kopf schüttelt. Heinrich ist mittlerweile aus seinem Schlummer erwacht und rügt seine Schwiegertochter: „Red´ nich´ so viel. In diesem Moment kommt der Zug heftig ruckelnd zum Halten. Hans, durch das grelle Quietschen der Zugbremsen unsanft geweckt, nimmt seiner Frau die Tochter ab. Hedwig soll ungefährdet, die steilen Trittbrettstufen hinab, auf den Bahnsteig gelangen. Alle haben es nun eilig ihren Geschäften nachzugehen. Frau Schmid verabschiedet sich hastig von ihren Reisebekanntschaften. Außer Hörweite der Bauersfrauen belehrt Heinrich seine Schwiegertochter: „Vielen Leuten erscheint unsere Lebensweise anrüchig, deshalb sag´ ich Fremden ungern, daß wir Schiffer sind. Zu oft hab´ ich mir dumme Sprüche anhören müssen. Hedwig sieht Heinrich ungläubig an. „Ach, ich denk´ nicht, daß die Bäuerin vorhin ihre Bemerkung abfällig gemeint hat. An Land, beim Einkaufen, werd´ ich öfters gefragt, woher ich komm´. Wenn ich dann von unserem Kahn erzähl´, fragen die Leut´ eher interessiert nach. Heinrich meint mit leichter Bitterkeit in der Stimme: „Das is´ typisch für die Leut´, eigentlich rümpfen sie ihre Nase über uns, sobald sie aber mitkriegen, daß man Eigner eines Bootes is´, dann beneiden sie einen. Kurz darauf gelangt die Familie ans Ufer. Das Beiboot wird losgebunden und nach einigen Dutzend Ruderschlägen werden sie von Kobold freudig bellend an Bord begrüßt.

    Das Aufnehmen der Lastkähne durch das Schleppboot ist für alle Beteiligten eine körperlich anstrengende und gefährliche Arbeit. Hedwig steht an Deck. Ängstlich beobachtet sie ihren Mann, wie er neben der motorisierten Ankerlier kniet. Hans muß die Zündung richtig einstellen. Sollte ihm dabei ein Fehler unterlaufen, könnte beim Starten des Petroleummotors die Handkurbel mit Wucht zurückschlagen und ihm womöglich dabei den Arm brechen. Der Motor springt nach ein paar vergeblichen Versuchen qualmend und stotternd an. Mit Hilfe seiner explosiven Kraft holt Hans ohne die Hilfe des Schiffsjungen den Anker problemlos ein. Fritz wirft derweil der Mannschaft des sich vorsichtig nähernden Raddampfers eine Leine zu. Ein Matrose des Dampfers bindet daran den eisernen Schleppstrang fest. Mühsam ziehen Hans und Fritz den Strang anschließend zu sich herüber und wickeln ihn, in der Form einer großen Acht, backbords um zwei Poller am Bug ihres Schiffes. Nachdem der Schleppdampfer auf diese Weise nach und nach seine drei gestern zurückgelassenen Anhänge eingesammelt hat, ist der erste Teil der Arbeit vollbracht. Bevor aber der Schleppverband Fahrt aufnehmen kann, steht Fritz vor einer weiteren schweißtreibenden Tätigkeit. Die ´Minerva´ wurde diesmal an die zweite Stelle im Schiffskonvoi gehängt. Der längere Eisenstrang des hinter der ´Minerva´ fahrenden dritten Kahns muß vom Schiffsjungen mit dem Wolf, einem dreiarmigen Wurfanker, aus dem Fluß gefischt werden und in einen extra Hacken, dem Brittelhacken, an der Schiffslängsseite eingelegt werden. Würde man das unterlassen, bestünde die Gefahr, daß der Strang bei Drosselung der Fahrt über den Flußgrund schleift, an einem Felsengrat hängen bleibt und schlimmstenfalls reißt. Nachdem zuletzt ein Lotse an Bord gegangen ist, kann die Reise endlich fortgesetzt werden. Über St. Goar, an der sagenumwobenen Loreley vorbei und weiter nach Bacharach, gelangt die zweite Hälfte des Schiffskonvois auf der Höhe von Aßmannshausen zum Binger Loch. Die Lotsen kennen auf dieser Strecke alle Tücken des Stromes. Sie wissen, aus langjähriger Erfahrung, an welchen Stellen im Fahrwasser eine felsige Untiefe lauert, die bei der geringsten Unachtsamkeit den Schiffsboden aufreißen kann. Etliche Male muß der Schleppverband vom linksrheinischen zum rechtsrheinischen Ufer und zurück wechseln, damit in den engen Flußschleifen der Gebirgsstrecke kein Schiff des Verbandes von der mächtigen Strömung ans Ufer gedrückt wird. Der Lotse, Heinrich und Hans stehen gemeinsam an der Haspel. Der Druck des vorbeiströmenden Wassers auf das Ruderblatt ist gewaltig. Nur mit vereinten Kräften können sie den Kahn auf Kurs halten. Das Binger Loch ist ein teuflisch enges Nadelöhr. Als Hedwig das erste Mal diese Passage mitmachte und die Anspannung der Männer erlebt hatte, fragte sie hinterher Hans, welche Besonderheit es mit dieser Stelle des Rheines auf sich habe. „Bis zum siebzehnten Jahrhundert versperrte hier eine quer über die ganze Flußbreite verlaufende Felsenbarriere knapp unterhalb des Wasserspiegels jedem Schiff das Weiterkommen. Dann sprengte man ein schmales Loch in die Felsen, das in den darauffolgenden zweihundert Jahren Stück für Stück auf dreißig Meter verbreitert wurde", erklärte er ihr.

    3. Kapitel

    Der Winter setzt diesmal früh und außerordentlich heftig ein. Bald bilden sich die ersten Eisschollen auf dem Fluß. Sollte das Thermometer noch weiter fallen, wird man gezwungen sein in einem Hafen Schutz zu suchen. Ansonsten könnte womöglich der Eisgang das Schiff beschädigen. ´Kein Wunder´, denkt Hedwig, ´daß man gefrorenes Wasser als Eis bezeichnet, denn schließlich kann es in diesem Zustand sogar Eisen verbiegen. Was für ein außergewöhnlicher Stoff!´ Während sie so ihren Gedanken nachhängt, tritt Hans an ihre Seite. Zärtlich legt er seinen Arm um ihre Schultern. „Weshalb starrst du die ganze Zeit in den Fluß?, will er wissen. Hedwig spricht leise, als sie ihm antwortet: „Das is´ jetzt der zweite Winter, den wir gemeinsam erleben. Die Eisschollen des vorigen Winters drifteten in die Nordsee. Dort sind sie geschmolzen, und ihr Wasser is´ teilweise verdunstet. Monate später is´ davon als Regen sicherlich auch etwas am Bodensee vom Himmel gefallen. Aus dem See floß das Regenwasser in den Rhein. Eventuell treibt´s zu Eis erstarrt g´rad´ erneut an uns vorbei. Ihr Mann lacht und sagt: „Wir werden hoffentlich noch etliche Jährchen auf dem Rhein herumschippern und leider immer wieder mit Eis zu kämpfen haben. Hedwig ist die Reaktion ihres Mannes viel zu nüchtern. Sie meint leicht melancholisch: „Vielleicht begegnen wir irgendwann einem dieser Wassertropfen nochmals, doch könnten wir ihn nicht wiedererkennen, weil alle Tropfen gleich aussehen. Hans schüttelt den Kopf. „Du beschäftigst dich ja mit komischen Einfällen. Solche Gedanken kämen mir nie in den Sinn." Hedwig lächelt betrübt und schweigt. Langsam wird ihr klar, daß man mit Hans besser nur über praktische Dinge redet.

    Heinrich reagiert gereizt, als das vermaledeite Eis die Schifffahrt zum Erliegen bringt. Jeder Tag, an dem sein Kahn nutzlos im Hafen herumdümpelt, kostet den Partikulier eine Menge Geld. Dem Schmelzer dagegen behagen solche unfreiwilligen Liegezeiten. In seinen Reiftappen, den dicken Filzschuhen, schleppt er gerade einen Korb voll mit Kachelholz zur Roef. Er hat es keineswegs eilig. Währenddessen hüpft Kobold unternehmungslustig um ihn herum und möchte Fritz damit zu verstehen geben, daß er zum Spielen aufgelegt ist. Das zweibeinige Wesen kapiert den Wink. Es hat gegen eine kleine Unterbrechung seiner Arbeit nichts einzuwenden. Der Schmelzer stellt den Korb ab, bückt sich und kratzt von den Lukendeckeln der leeren Frachträume Schnee zusammen. Anschließend preßt er ihn mit seinen Händen zu einem festen Ball. In hohem Bogen schleudert der Schiffsjunge den Schneeklumpen in Richtung Bug. Der Hund flitzt wie der Blitz hinterdrein und möchte das weiße Ding mit der Schnauze fangen, aber es zerschellt auf dem Deck des Kahns in tausend Eiskristalle. Verdutzt schnüffelt Kobold an der Stelle des Aufschlages herum. Er kann es mit seinem Hundehirn schier nicht fassen, wo denn das herrliche Spielzeug so plötzlich abgeblieben ist. Als Fritz gerade seinen fünften Schneeball formt, steckt der Partikulier den Kopf aus der Tür der Roef. Er sieht den Schmelzer herumtollen und brüllt ihn an: „He, du fauler Nichtsnutz, wo bleibt mein Kachelholz? Soll ich mir etwa erst den Arsch abfrieren, bevor sich Euer Gnaden dazu herablassen, das Holz zu bringen? Erschrocken läßt Fritz den Schneeball aus seiner Hand fallen und greift nach dem Korb. Kobold versteht die Aufregung und das abrupte Ende dieses netten Zeitvertreibs nicht. Er bellt den Schiffsjungen aufmunternd an, aber dem ist der Spaß gründlich vergangen. „Hau ab Kobold, herrscht er den Hund an. Heinrich, der an der Tür stehen geblieben ist, ungeduldig darauf wartend sein Brennholz in Empfang nehmen zu können, pfeift nach dem Tier, und dieses zögert keine Sekunde, dem Befehl des Leitwolfes zu folgen. Friedlich trottet Kobold Fritz voraus in Richtung seines Herrn. „Braver Hund. Mit diesen Worten empfängt der Schiffsführer den Vierbeiner und tätschelt ihm den Kopf. Zum Dank für das Kachelholz erhält dagegen Fritz eine Ohrfeige. „Das nächste Mal trödelst du mir nicht herum, wenn du Holz holen sollst, schimpft Heinrich und verschwindet mit dem Korb in der Hand in seiner Behausung. Fritz ärgert sich mehr, als daß ihn die Backpfeife schmerzt. ´Leuteschinder´, denkt er. Mißmutig dreht er sich um und verzieht sich nach vorne in seine Koje. Dort schreibt er im Lichte einer rußenden Petroleumlampe, auf seinem Strohsack liegend, einen Brief an seine Eltern. Darin beklagt er sich aber mit keinem Wort über die Behandlung durch seinen Lehrherrn. Er weiß nur allzu gut was sein Vater darauf antworten würde: Lehrjahre sind eben keine Herrenjahre. So oder ähnlich würde er ihn zurechtweisen und seine Mutter würde zusätzlich bemerken, daß er froh sein solle, überhaupt eine ordentlich bezahlte Lehrstelle gefunden zu haben.

    Aber auch der längste Winter geht einmal zu Ende. Es folgt ein milder Frühling. Die von Hedwig vorgeschlagene, von ihrem Mann umgesetzte Idee des Drahtseiles bewährt sich für Kind und Hund gleichermaßen. Obwohl sich Kobold anfangs ziemlich störrisch gebärdete, sobald man ihn an die Laufleine band, lernte er mit der Zeit die Beschränkung zu akzeptieren und läßt sich mittlerweile ohne jegliches Gezerre anhängen. Liegt die `Minerva` in einem Hafen oder vor Anker, kann man den Hund dagegen unbesorgt von der Leine lassen. Ilse hatte erst im Februar laufen gelernt. Sie ist noch ein bißchen tapsig unterwegs, aber mit jedem neu anbrechenden Tag beherrscht sie die Kunst der Balance auf zwei Beinen besser. Sie ist ein fröhliches Kind und ausgesprochen genügsam. Hans ist regelrecht vernarrt in sein Töchterchen, kein Gedanke mehr an den verpaßten Stammhalter. Demgegenüber kann man manchmal an Heinrichs Verhalten, vorausgesetzt man kennt ihn gut, eine gewisse Reserviertheit gegenüber seinem Enkelkind bemerken. Dies ist jedenfalls seiner Schwester Henriette bereits aufgefallen.

    Als während der ersten Maitage, aufgrund der Schneeschmelze in den Gebirgen, der Rhein Hochwasser führt, wie beinahe jedes Frühjahr und deshalb der gesamte Schiffsverkehr zeitweilig ruhen muß, nimmt die Familie Schmid die Gelegenheit wahr, nach Hause zu fahren, da sie glücklicherweise nicht weit weg von ihrem Heimatdorf ankert. Dort führen Bruder und Schwester eine ernste Unterhaltung unter vier Augen. „Versündig´ dich nich´ an Gott, Heinrich. Egal ob Mädel oder Bub, sei doch froh, daß das Kind gesund is´. „Hast ja Recht, Henriette, brummt Heinrich griesgrämig, „aber es wär´ halt schön, wenn Hedwig bald einen Jungen bekäm´. „Wieso ist das nötig?, erwidert sie und fügt hinzu: „Deine Enkelin heiratet eines Tages womöglich einen Schiffer. Heinrich braust auf. „Hat dessen Vater aber ´nen eig´ nen Kahn, geht Ilse auf deren Schiff! „Na und. Henriette wird ungehalten. „Was wär´ daran so schlimm? Dann wird der Kahn eben verkauft. Diese Antwort bringt Heinrich endgültig aus der Fassung. „Henriette! Unser Vater, Großvater und Urgroßvater waren Rheinschiffer. Wir sollten d´rauf stolz sein. Mein Sohn hat verdammt noch mal die Pflicht, einen zukünftigen Schiffer zu zeugen. „Die einzige Pflicht, die Hans hat, is´ Hedwig gut zu behandeln und seinem Kind ein liebevoller Vater zu sein. Heinrich erkennt, daß er mit seiner Ansicht auf keinerlei Verständnis bei seiner Schwester stößt. Er verliert die Lust das Thema weiter zu erörtern und beendet die Auseinandersetzung mit der Begründung, ihm sei soeben eingefallen, er müsse am Dach des Hauses noch dringend eine Reparatur durchführen.

    Heinrich kann nicht ahnen, daß Hedwig und Hans das Thema Sohn in diesen Tagen ebenfalls bereden. „Ich glaub´, dein Vater säh´s gern, wenn Ilse ein Brüderchen bekäm´ , sagt Hedwig, als sie mit Hans alleine im Garten sitzt und für das anstehende Mittagessen Kartoffeln schält, derweil ihr Mann die Zeitung liest. Hans schaut überrascht von seiner Lektüre auf. „Willst du mir damit etwa schonend beibringen, daß wir bald erneut mit Nachwuchs zu rechnen haben, sagt er mehr erschrocken als erfreut. „Nein, nein, erwidert Hedwig lachend, „das kann ruhig noch´n bißchen warten. Wir sind jung und brauchen uns nicht zu beeilen. Erst wenn Ilse an Land bleibt, weil sie zur Schule geh´n muß, würd´ ich mir ein weiteres Kind wünschen. Ich glaub´, ohne ein kleines menschliches Wesen an Bord fehlte mir was. „Soll das etwa heißen, du langweilst dich mit mir?, empört sich ihr Mann. „Das will ich damit keinesfalls sagen, erwidert sie und streichelt versöhnlich über seinen Arm. Hans argumentiert: „Es wär´ zum jetzigen Zeitpunkt auch nicht sonderlich klug. Ich fänd´s vernünftiger mit einem weiteren Kind zu warten, bis ich mein Schifferpatent in der Tasche hab´ und mir der Vater den Kahn überläßt, denn in der Matrosenwohnung is´ es mit mehr Kindern wirklich zu eng." Die beiden sind sich einig noch abzuwarten, aber ihre Gründe dafür sind sehr unterschiedlich.

    Obwohl die Fahrtziele der ´Minerva´ ständig wechseln, gibt es dennoch eine gewisse Stetigkeit im Leben der Familie. Man steuert überwiegend dieselben Häfen und Städte an, Rotterdam, Ruhrort, Ludwigshafen, Mannheim, Karlsruhe oder Basel. Hedwig kennt sie inzwischen alle, weiß genau, wo es die günstigsten Einkaufsmöglichkeiten für bestimmte Artikel gibt. Die Tätigkeiten der Männer sind ebenfalls von festen Abläufen geprägt. Zwar ändert sich öfters die Fracht, aber meistens ist es Kohle, Erz oder Kies. Bei einbrechender Dunkelheit wird grundsätzlich geankert und bei Sonnenaufgang geht es weiter. Insofern gestaltet sich ein Arbeitstag in den Sommermonaten deutlich länger. Das Be- und Entladen des Kahnes ist ein immer gleich bleibender Vorgang. Der Schiffsjunge und der Matrose müssen zuerst die zahlreichen hölzernen Lukendeckel einzeln von den Laderäumen abheben und seitlich auf den Dächern der Herften stapeln. In den Herften, die zwischen den Laderäumen angeordnet sind, werden üblicherweise Farben, Taue und allerlei Reparaturmaterialien gelagert. Ist die jeweilige Ladung gelöscht, müssen die Straudielen, die dicken Holzbohlen auf dem Boden der Laderäume, gründlich gereinigt werden. Alle diese Tätigkeiten sind gefahrvoll. Man kann in einen leeren Laderaum stürzen oder sich bei der Arbeit Finger, Hände und Beine quetschen. Wenn da nicht Ilse wäre, würde die Zeit in diesem gleichbleibenden Rhythmus ohne bemerkbare Veränderungen weiterlaufen. Aber das Kind überrascht ihre Eltern fast täglich mit neuen Fertigkeiten und Einfällen. Erst kürzlich war Hedwig ganz begeistert, als ihr Töchterchen den Löffel ergriff und sich den vor ihr stehenden Brei selbständig einverleibte. Die Mutter störte es dabei keineswegs, daß bei dieser Prozedur am Ende mehr Brei an Kleidung und Backen von Ilse klebte, als letztendlich in ihrem Magen landete.

    An einem Frühsommertag zieht Hedwig, wie etliche hundert Male zuvor, einen Eimer Spülwasser an Deck. Ilse schaut zu. Unvermittelt deutet die Kleine auf das Wasser im Eimer und lallt deutlich vernehmbar: „Wassa." Hedwig ist begeistert. Sie läßt den Eimer stehen und eilt zum Steuerstuhl, wo

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