Ilka: Die Geschichte einer Liebe
Von null crodenius
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Buchvorschau
Ilka - null crodenius
KAPITEL I
Diese Julinacht war ungewöhnlich klar, mit einem Himmel voller Sterne. Die Stadt war längst im Dunkel versunken und döste derweil in tiefem Schlummer. Stille herrschte, alles schlief, nur der Platz vor dem Bahnhof wachte noch einsam im grellen Schein der Neonlampen, die ihr kaltes Licht in schrägen Balken herabwarfen. Irgendwo fauchte ein stählernes Ungetüm und rollte, von Dutzenden Waggons gefolgt, über die Brücke. Aus seinem Schlot wallten in rhythmischen, immer kürzeren Stößen weiße Wolken, während die Rohre neben dem pleuelgetriebenen Räderwerk heftige Dampfstrahlen ausbliesen.
Für Sekunden blieb alles im Nebel, feiner Dampf wirbelte herab. Doch bald wurde es wieder klar, das Poltern erstarb und Stille kehrte zurück. Die Stadt mit ihren Gebäuden, Türmen und Dächern, deren flimmernde Silhouette für Momente entschwunden war, tauchte wieder auf und schickte mit dem lauen Nachtwind von Ferne ein dumpfes Grollen herauf.
Ilka stand vor dem Bahnhof, hinter sich die pendelnde Schwingtür, welche unentwegt den muffigen Geruch von feuchtem Stein, Dreck und kaltem Rauch in kurzen Schüben herauswehte und starrte hinauf zum Firmament. Ihr war kalt, doch sie mochte nicht fortgehen, denn nur hier draußen, in der friedvollen Stille der Nacht, fand sie die ersehnte Ruhe. Gedankenverloren und noch immer mit tiefem Schmerz im Herzen betrachtete sie den großen Wagen, den Polarstern, die Kassiopeia, und ihr war, als wäre es Augen der Ewigkeit, die auf sie herabschauten.
Schon immer, solange sie denken konnte, umfing sie ein Gefühl der Unvollkommenheit mit dem vagen Verdacht eines vom Pech Verfolgten, dem nichts blieb, als dieses vorbestimmte Los zu akzeptieren, insbesondere wenn Umstände eintraten, die sie erneut zurückwarfen. Dann litt sie ganz besonders, auch wenn nur Bagatellen den Anstoß dazu gaben. Zurück blieb diese Reizbarkeit, die sie drängte, sich vor aller Welt zu verschließen. Doch seltsam - obwohl ihr auch heute wieder weinerlich zumute war, blieb die erwartete Trübsal aus. Im Gegenteil, bald fühlte sie sich leichter. Die Schwere in ihrem Herzen löste sich und linderte ihren Gram.
Da tönte von drinnen blechern der Lautsprecher. Ja doch, gleich! Nur noch dieser Augenblick. Hastig wischte sie die Tränen fort und sah sich ängstlich um. Zum Glück hatte es niemand bemerkt. Es wäre ihr peinlich gewesen, denn immerhin war sie kein Kind mehr und fühlte sich mit ihren 19 Jahren schon sehr erwachsen. Sie hatte dunkelblondes Haar und ein sympathisches Gesicht mit einer nachdenklichen, zuweilen recht ernsten Physiognomie, die der kühlen Gemessenheit ihres Wesens durchaus entsprach. Unter den geschwungenen Brauen blickten zwei sanfte Augen, die oft von einer traurigen Entrücktheit verklärt waren. Mit ihren regelmäßigen Zügen hätte man sie durchaus als hübsch bezeichnen können, wäre nicht die ungewöhnliche Blässe gewesen, die diesen Liebreiz trübten und jenen kränkelnden Eindruck verriet.
Schweren Herzens nahm sie nun ihre Tasche, stieß die Pendeltür auf und schlurfte, durch die Last ihrer Tasche behindert, gemessenen Schrittes, noch immer unter der Befangenheit ihres Schmerzes, der ihre Ermattung noch steigerte, durch die große Halle.
Als sie eintrat, blendete sie der grelle Lichterkranz der Neonlampen, welcher von der riesigen Deckenkuppel den ganzen Saal wie eine Feuersbrust erhellte. Die Wartehalle war etwa zur Hälfte mit Reisenden gefüllt, von denen einige schläfrig auf den harten Holzbänken lungerten, während andere hinter ausgebreiteten Zeitungen die Nase über die vielen angetrunkenen NVA-Angehörigen rümpften, die nach beendetem Urlaub in kleineren Gruppen zusammenstanden, sich unterhielten, lachten und hin und wieder hustend auf den Boden spuckten. Der kalte Zigarettenrauch machte die ohnehin von Bierdunst reichlich geschwängerte Luft noch muffiger. Vor dem Kartenschalter hatte sich eine lange Schlange gebildet, die mittlerweile weit zurückragte. Ein Bahnsteigfeger klapperte mit seinem Besen zwischen Bänken entlang, und die quietschende Mitropa-Tür gegenüber stand niemals still.
Unterdes rollte erneut ein dumpfes Grollen durch die Halle, ließ den Boden zittern und erstarb schließlich im Quietschen stählerner Räder. Kurz darauf quoll eine gewaltige Menschenflut die schmale Treppe herab, welche durch die lange Schalterschlange am Fortkommen jäh behindert, ins Stocken geriet, sich aufspaltete, durcheinander drängte und schließlich nach allen Seiten auseinander strömte.
Überall Lärmen und Tönen, welch fürchterliches Gewühl. Ilka drängte zwischendurch und zwängte sich zur anderen Seite. Widerwillig durchquerte sie die Unterführung mit ihren ewig feuchten Kachelwänden, tappte die Treppe hinauf und erreichte schließlich den Bahnsteig. Aber auch hier wimmelte es von Menschen, unter ihnen ebenfalls reichlich Armisten, die in kleineren Gruppen zusammenstanden, tranken, schwatzten und blitzende Blicke umherwarfen.
Während einige, etwas abseits, mit weinenden Mädchen turtelten, zockten andere mit leeren Streichholzschachteln, nuckelten an halbvollen Schnapsflaschen und stachelten sich gegenseitig zum neuen Einsatz an. Wieder andere saßen auf Bänken oder Taschen und starrten mit trüben Augen vor sich hin, bis ihnen irgendwann der Kopf zur Seite fiel und sie schnarchend eindösten. Genervte Urlauber drängten zwischendurch. Andere harrten stumm aus, die Hände in den Taschen und das Kinn nervös in Richtung Einfahrt gereckt. Ein älterer Herr mit weißer Mütze und dem Gesichts eines Hochschullehrers erklärte seiner Frau wiederholt, dass man schon richtig wäre. Diese zweifelte noch immer, was ihn umso mehr erregte.
Ilka stellte sich zögernd neben die Bank. Mit der zusammengerafften Windjacke unter den verschränkten Armen und dem Gefühl eines faden Unbehagens, eines ‘nicht recht Wollens’ und ‘doch Müssens’, hielt sie nun Ausschau nach dem Zug. Dabei fiel ihr, Gott weiß warum, die gegenüberliegende mausgraue Außenwand des riesigen Hallengebäudes auf, die sich unmittelbar hinter dem Bahnsteig auf langer Front erstreckte.
Mit ihren trüben Glaseinsätzen zwischen den maroden Stahlträgern mündete sie oben unter ein gewölbtes Dach, welches die zu beiden Seiten hin offene Bahnsteighalle über die gesamte Länge mit zum Teil von Witterung zerfressenen Wellblechsegmenten überdeckte. Die Scheiben, von Staub und Ruß schon arg getrübt, ließen dabei die äußeren Gleisanlagen mit ihren Lichtern und Signalen nur noch schemenhaft erkennen. Graue Farbfetzen, vom Alter spröde geworden, blätterten von den Verkleidungsblechen, und die eisengenieteten Querspanten waren vom jahrelang angesammelten Dreck schwarz und rostig geworden, so dass ständig der Geruch alten Metalls in der Luft lag.
Plötzlich, inmitten ihrer Gedankenversunkenheit, bemerkte sie einen schwankenden Mann, der einen Schluck aus einer Flasche nahm. Haltsuchend lehnte er sich gegen einen Laternenmast und sah sich mit pöbelhaft geröteter Miene um. Oh Gott, er sah ja herüber! Hastig drehte sie sich weg und schaute verlegen auf die Uhr. Doch zu spät, schon wankte er heran.
„He, du, haste mal Feuer?", lallte er und legte frech den Arm um ihre Schulter.
Erschrocken fuhr sie um. Es war ein Bursche von Anfang 20, in schwarzblauen Jeans und einem karierten Hemd, worüber er einen schäbigen beigen Anorak mit roten Ärmelstreifen trug, der nach Rauch und billigem Fusel stank. Sein schütteres Haar war ihm im Suff über die Stirn gefallen und sein Atem roch wie ein Schnapsfass.
„Nein, Nichtraucher", antwortete sie schroff und entwandt sich seinem dreisten Zudringen. Doch er setzte nach, grabschte nach ihrem Nacken und wühlte in ihrem Haar, wobei er mit seiner hellen Fistelstimme unentwegt auf sie einquatschte, als hätte er wochenlang mit niemandem geredet. Dabei kicherte er immerfort, allein seinen lüsternen Gedanken verhangen, die er mit abschätzig geschürzten Lippen ganz unverhohlen zeigte. Und hatte ihn ihre Abwehr anfangs noch belustigt, wurde er schließlich doch ärgerlich.
„Halt doch endlich still ... Warte, gleich... Na also."
Nun betrachtete er mit riesigen Augen einen winzigen Fussel, den er wie eine unschätzbare Kostbarkeit zwischen Daumen und Zeigefinger hielt.
„Und wenn ich noch mal... vielleicht..."
„Oh nein, danke, nicht nötig." Sie lächelte gequält, nahm ihre Tasche auf und wich weiter zurück.
„Mach ich aber gern."
„Kann ich mir vorstellen. Aber bemühen Sie sich nicht, ich warte hier auf jemanden. Er muss bestimmt gleich kommen."
Doch obwohl er sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte, drängte er erneut an sie heran, legte den Arm um sie, was er wohl witzig fand, denn er zischte, den Finger an die feuchten Lippen gelegt, im sichtlichen Bemühen, seinen Worten eine gewisse wärmende Vertraulichkeit zu geben: „Pssst Lütte, musst keine Angst haben, ... aber du sollst nicht lügen."
Erneut nahm er einen Schluck, wobei ihm die Hälfte über Kinn sabberte und versicherte, nicht besoffen zu sein.
Aber warum half denn niemand? Ilka versuchte sein lästiges Zudringen abzuwehren, indem sie sich brüsk entwand, doch niemand beachtete sie. Selbst der ältere Herr neben ihr blieb stumm. So ein Feigling! Anstatt ihr zu helfen, wie es sich gehörte, guckte er weg, nur um nicht in Verlegenheit zu kommen.
„Aber Schnucki, ich will doch nur..."
Schon wieder grabschte dieser freche Kerl sie an. Er sollte das lassen, sonst ... Und gerade als sie sich etwas losmachen konnte, um ihm eine zu kleben, wurde er plötzlich zurückgerissen.
„Schon gut, Gukki, sagte ein Matrose in dunkelblauer Uniform, den sie zuvor gar nicht bemerkt hatte und der ihn nun sanft aber bestimmt zur Seite führte. „Setz dich – hier ... So ist’s besser.
Daraufhin plumpste der Betrunkene wie ein Sack auf die nebenstehende Bank, wo er mit seinem verschobenen Schafsgesicht entgeistert zu ihm aufschaute, ohne sich im Geringsten zu widersetzen.
Sogleich entschuldigte der sich für das Benehmen seines Kameraden, der wohl zu viel getrunken habe. Nun ja, wenn der Urlaub zu Ende ginge, komme so etwas schon mal vor, aber deswegen wäre er bestimmt kein schlechter Kerl, versicherte er und suchte immer wieder das Ganze zu verharmlosen.
Ilka indes, noch immer vom Schrecken gelähmt, fand diese Ausflucht reichlich deplaziert, zumal ihr jedes Verständnis für solche Taktlosigkeiten fehlte. Und da er es merkte, zurrte er schließlich verlegen, mehr aus Befangenheit denn Notwendigkeit, seinem Kumpel den Reißverschluss zu, nahm ihm die Flasche aus der Hand und stopfte sie kopfüber in die nebenstehende Mülltonne.
Doch seltsam, - obwohl sie noch immer so verbittert und gereizt war und sich in ihrem gekränkten Stolz wie eine Schildkröte in ihren Panzer verkroch, beruhigten sie seine Worte, ja machte ihr der Umstand, dass er sie gleich duzte, gar nichts aus. Im Gegenteil, anstatt beleidigt zu sein, fand sie eine derartige Vertraulichkeit sogar drollig. Was blieb, war eine sonderbare Komik, in der es ihr bestimmt nicht schwergefallen wäre, ihn jetzt lachend einen Dummkopf zu nennen, der wohl noch immer glaubte, sie hätte ihn nicht längst durchschaut.
Einen Augenblick wusste sie nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Aber dann gab sie ihm unmissverständlich zu verstehen, dass sie keinen Wert auf irgendwelchen Beistand lege und durchaus alleine klarkäme.
Er sah sie daraufhin verwundert, gleichsam bedauernd an, zuckte die Achseln, was sie wiederum düpierte und meinte trocken: „Dann eben nicht."
’Blöder Affe!’ dachte sie, den Blick stur an ihm vorbei gerichtet.
Er wollte weggehen, kam jedoch noch mal zurück und sagte dann mit kalter Sachlichkeit: „Dort vorn findest du die Militärstreife. Sie haben immer das erste Abteil. Setz dich in ihre Nähe, und es wir dich niemand mehr belästigen."
Und dann kehrte er wieder zu seiner Gruppe zurück, während der Betrunkene noch immer auf der Bank saß, die Beine weit fortgereckt, das Kinn auf die Brust gesenkt und zufrieden vor sich hin döste.
Oh, wie graute ihr bei dem Gedanken an die folgende Fahrt, die vollen Abteile, die schlechte Luft und die vielen betrunkenen Kerle. Und wenn sie ihr Freund, dieser verdammte Holm-Hendrik, nicht im Stich gelassen hätte, wäre das auch nicht passiert!
Einen Moment fühlte sie ihre Einsamkeit in ganzer Härte, was ihre Bitterkeit gegen alle Welt nur noch steigerte. Sie war verzweifelt, hätte schreien können, so dass