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BruderLos: Erben für Anfänger
BruderLos: Erben für Anfänger
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eBook314 Seiten4 Stunden

BruderLos: Erben für Anfänger

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Über dieses E-Book

In meinem Buch "BruderLos" (300 Seiten) geht es im Kern um eine Erbstreitigkeit zwischen zwei Brüdern nach dem Tod der gemeinsamen Mutter.
Einer der beiden beschreibt in Einzelheiten seine Sicht der Dinge und die aktuell empfindlich gestörte Beziehung zum anderen.
Neben der Beschreibung der faktischen Komponenten, die sich im weiteren Verlauf immer verworrener entwickeln, tauchen daneben Erinnerungen auf, die weit zurückgehen. Erinnerungen über prägende Ereignisse, über Familiengeheimnisse und dunkle, nie verbalisierte soziale Strukturen und Rollen einer nach außen intakt wirkenden Akademikerfamilie.
Während der eskalierte Erbkrieg zunächst auf anwaltlicher Seite Fahrt aufnimmt, ist andererseits direkte Kommunikation unmöglich geworden und die Hauptfigur auf eigene Erinnerungen und Erlebnisse angewiesen, um die verworrene Geschichte zu verstehen.
Sind die Ersparnisse der Mutter – immerhin 120.000,- Euro – zu Lebzeiten verschenkt oder nur geliehen, gehören sie zum Nachlass oder nicht? Um diese Frage entbrennt der Streit zwischen den Brüdern und geht vor Gericht.
Dazu gesellt sich noch die Erbin des inzwischen auch verstorbenen Ehemanns der Mutter. Sie habe ebenfalls von einem Sparbuch gehört, derehn hoher Wert sträflicherweise nicht in die Erbmasse gerechnet wurde und leitet ihrerseits ein weiteres Gerichtsverfahren ein.
Unvorteilhaft ist zudem, dass einer der beiden Brüder seit fast zwanzig Jahren in Südamerika lebt und der Erzähler "gemeinschaftlich haftend" allein verklagt wird.
Interessant ist bei diesem Roman, wie sich die Hauptfigur bei all den niederschmetternden Wahrheiten, die sich erst nach dem Tod der Mutter zeigen, trotzdem nicht aus der Bahn werfen lässt, sondern, unterstützt durch eine stabile eigene Familie, den eigenen Weg unbeirrt weiter verfolgt.
Erst nach dem Tod der Mutter ergibt sich die Notwendigkeit, die eigene Ursprungsfamilie genauer anzuschauen, als je zuvor.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum4. Aug. 2016
ISBN9783738079531
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    Buchvorschau

    BruderLos - Martin Pfennigschmidt

    1. Zahnlos

    Manchmal kommt es wirklich sehr seltsam und unerwartet. Meine Liebste und ich liegen gemütlich auf unserer Couch, genießen die gerade angefangene letzte Urlaubswoche. Reine Erholung nach den hektischen Weihnachtstagen und dem lauten, leuchtenden Jahreswechsel.

    Es dauere nur wenige Stunden, bis ich meinen Zahnersatz wiederbekäme, wurde mir von meiner Zahnärztin morgens erklärt, man müsse unterfüttern, da käme ich nicht drum herum. Also ohne Zähne nach Hause, zum Glück niemand bekanntes auf dem Heimweg getroffen und heute bitte keine Termine mehr, bevor ich nicht wieder normal lächeln kann.

    Draußen war es bitterkalt, Schnee, Eis, kriechende Autos in der großen Stadt. Es war so kalt, dass der sonst laute Verkehr direkt vor unserem Haus kaum hörbar schien. Der Schnee schluckte alle Geräusche, ein besonderer Klang in der Stadt. Nur das Knirschen der Reifen im Schnee. Bei Sonnenschein betrachtet sieht so eine Schneelandschaft ja toll aus, Bäume mit großen Wattehaufen, alles nett weiß und scheinbar sauber, gebe ich ja zu, schaue ich mir auch gern an, aber die Kälte konnte ich noch nie leiden. Wäre ich ein Tier, dann gern eins, das Winterschlaf hält und die kalte Zeit einfach gemütlich in der Höhle verschläft. Vielleicht liegt das auch daran, dass ich mit vier Monaten mit Scharlach unter Lebensgefahr mit einem Brückenpanzer in der Schneekatasthrophe `62 ans Festland ins Krankenhaus gebracht wurde. Wir waren eingeschneit, und andere Beförderungswege boten sich nicht an. Das war schon schlimm für ein kleines Wurm, das ich war, und kann einem die kalte Jahreszeit schon gehörig vermiesen. Obwohl ich mit fünfzehn Jahren begeistert im Schwarzwald Ski gelaufen bin - und Schlittschuh laufen fand ich auch immer schon klasse. Trotzdem: Winter ist nicht meins und statt Skilaufen verbringe ich meinen Urlaub immer lieber an irgendeinen warmen palmenbesetzten Strand auf einer Insel im Süden.

    Also schnell hinein in die warme Wohnung zu meiner Liebsten und gemeinsam vor dem Fernseher auf den Anruf der Praxis warten. So wollte ich niemanden sehen, von niemandem gesehen werden. Ohne Zähne höre ich mich erbärmlich undeutlich an und will das niemandem und mir erst recht nicht zumuten, reden zu müssen.

    Wir hatten Sting aufgenommen, eine Übertragung seines Konzertes in einer alten malerischen schottischen Kirche. Wintersongs – bezeichnend, wenn man nach draußen sah. Heißer Kaffee, kuschelige Decke, wir beide – Herrlich.

    Ein besonderes Konzert. Anders als man von Sting gewohnt war. Im krassen Gegensatz zu den irre breiten und tiefen Bühnen, auf denen er sonst so auftrat, war es in der Kirche sehr eng. Mit der Perfektion geschulter Ramp Agents auf Flughäfen, die jeden Zentimeter Frachtraum von Flugzeugen ausnutzen, hat man hier ein ganzes Orchester, die Band, Backing Chöre, Schlagzeug, Perkussion mit samt der erforderlichen Geräte, Instrumente und den Musikern hinein operiert.

    Wirklich besonders schöne Musik. So gar nicht laut, irgendwie fragil alles, zart, empfindsam, wie Schneeflocken. Offene Harmonien, zusammengesetzt aus vier, fünf, sechs und mehr Tönen, nicht nur stupide Dreiklänge. Hier waren es eher volle, schwebende Klänge durch gemeinsames Spiel, die einem Musiker wie mir besonders in den Ohren schmeicheln. Tonartwechsel, Rhythmen, die mich aufhorchen lassen, weil ich sie noch nicht ganz verstehe, sie nicht gleich mitklopfen und trommeln kann.

    Das Telefon klingelt anhaltend, Sven, mein Halbbruder will mit mir reden. Ich will nicht.

    Schöne Lieder, glockenzarte winterliche Impressionen, Kamerafahrten durch die schöne alte Kirche, Sting kann wirklich traumhaft singen. Was für eine Vielfalt in seiner Stimme.

    Das Telefon klingelt immer wieder – gefühlt Tausendmal. Ich will immer noch nicht, bin sogar langsam genervt über die unpassende Störung.

    Nadia ermuntert mich:

    „Du kannst ihn doch heute Abend zurückrufen. Was kann schon so wichtig sein."

    „I must have loved you", singt Sting. Mein Lieblingssong von diesem Konzert. Alles in Blau gehalten, leise, empathisch …

    Unser Telefon klingelt schon wieder. Sven, sagt die Anzeige. Nadia geht plötzlich ran, will es jetzt wissen. Ich bin ebenfalls langsam gespannt, was denn derart wichtig sein muss. Nadia lauscht dem Anrufer, ihr Kinn fällt herunter, Geschockt gibt sie mir den Hörer.

    „Deine Mutter ist tot.", sagt sie. Das Konzert war zu Ende.

    2. Kopfkino

    Meinen Opa habe ich nie kennengelernt, auch den Tod meiner Großmutter habe ich nur am Rande mitbekommen. Ich war völlig unvorbereitet, hatte keinerlei gespeicherte Erlebnisse, die mir halfen mit den vielen entstehenden Gedanken und inneren Bildern klar zu kommen.

    Meine Mutter ist tot.

    Unglaublich.

    Petra, die Frau Svens erklärte mir, dass meine Mutter in ihrer Küche mit einem Herzinfarkt zusammengebrochen sei und dabei gestorben war. Man war alarmiert, weil sie nicht öffnete, als der verabredete Besuch kam.

    Unfassbar zunächst. Tausend Gedanken, tausend Fragen. Wir hatten vor einigen Wochen eine Auseinandersetzung gehabt und uns seitdem nicht mehr gesprochen. Ich war vor einigen Tagen immer noch verärgert und bin nicht ans Telefon gegangen, als sie anrief. Wollte lieber noch warten, ehe wir die Schieflage klären. Wie kindisch, nicht ans Telefon zu gehen, wie nichtig unter den jetzt gegebenen Umständen. Jetzt ist es zu spät. Keine Chance der Klärung mehr. Der Frieden muss sich ohne weitere Kommunikation einstellen, ich muss ihr verzeihen, sie kann sich nicht mehr erklären.

    Mein Vater muss informiert werden, ich muss meinen Bruder sprechen, der in Brasilien lebt, muss alle Leute anrufen und informieren, die Wohnung räumen, alles regeln, was dringlich ist. Ich muss meinen Urlaub verlängern, Zeit organisieren, um alles erledigen zu können. Ich muss da jetzt sofort hin.

    Noch immer Zahnlos rief ich meinen Vater an und lispelte:

    „Hallo Vattern. – Du weißt schon…? – Ja, sie sagen, es muss ganz schnell gegangen sein. – Sie hatte einen Termin und sollte abgeholt werden, hat aber nicht aufgemacht."

    „Meine Thea.", soll er gesagt haben, als er es von Petra erfuhr. Eigentlich verständliche Anteilnahme, sollte man meinen. In diesem Fall war es jedoch besonders. Es ist nämlich so, dass er sich von meiner Mutter, meinem Bruder und mir trennte, noch bevor ich zur Schule gekommen bin. Das ist über vierzig Jahre her. Über all die Zeit gab es nur selten Kontakt. Er hatte eine neue Familie gegründet und drei weitere Kinder gezeugt, meine Halbgeschwister Nele, Sven und Lars. Immer mal wieder sah man sich, hörte telefonisch das Neueste, von Beziehung kann man jedoch nicht reden. Gefühlt war er zwischen meinem sechsten und fünfzehnten Geburtstag zwei Mal da gewesen. Danach sah ich ihn einmal in Reinfeld, und einmal in Bremen, als er mich besuchte, ich war vielleicht zehn Mal bei ihm zu Besuch.

    „Meine Thea…" Die erste Liebe ist eben doch tief.

    Ich lud ihn zur Trauerfeier ein, von der ich noch nicht wusste, wann diese stattfinden würde und wie ich alles organisiere. Ich sagte ihm noch, dass er neben Nadia, Lennard und Harry die wichtigste Person für mich an diesem besonderen Anlass. Von den notwendigen Vorbereitungen der Beerdigung hatte ich nicht den blassesten Schimmer einer Ahnung.

    Endlich kam spätnachmittags der erlösende Anruf meiner Zahnärztin, alles sei fertig und könne abgeholt werden. Wenige Minuten später saßen meine Liebste und ich im Auto.

    3. Mein Vater

    Viel hatte ich ja nicht von ihm mitbekommen. Durch meinen pädagogischen Beruf weiß ich jetzt, dass es im Wesentlichen ausgereicht hat, mich hinreichend zu prägen. Er war mein mir vorgesetztes Männerbild, egal ob wir beide das wollten oder nicht.

    Als junger Mann war er bei der Bundeswehr. Korrigiere: Bundesmarine. Und da auch nicht einfach so ein Soldat, sondern Fregattenkapitän eines Marinefliegergeschwaders. Noch Fragen? Wegtreten!

    Er war schon damals Rudolph der Große, oft tagelang weg, zur Begrüßung überschwänglich gehuldigt. Klar waren wir froh, ihn zu sehen. Aber den Alltagsärger hatte er nicht mit uns, wir nicht mit ihm. Regelmäßig hoher Besuch in schicker Uniform, der gönnerhafte Papa, ein großes Fest, viel Bier, lautes ungehemmtes Lachen der verschiedensten eingeladenen Leute am Abend, aber kaum war er da, musste er auch schon wieder weg.

    Später blieb er länger weg, war alles andere als fröhlich, wenn er da war. Nichts mehr mit Feiern, ausgelassener Stimmung mit Gästen, stattdessen immer mehr Streit mit seiner Thea. Wir Kiddies, drei und fünf, waren in diesen unendlichen Auseinandersetzungen Nebensache und nervten allenfalls. Das Ende war oft, dass Vati wieder weg war und Mutti schlecht drauf. Sie telefonierte dann stundenlang mit unserer Oma, schluchzte und heulte am Telefon, versuchte oft erfolglos, uns gegenüber ihre innere Traurigkeit zu verbergen.

    Zuletzt kam mein Vater gar nicht mehr wieder. Alle seine Sachen waren weg und wir mussten umziehen. Von der Insel runter in irgendein Dorf.

    Die Insel war Heimat. Ich kannte nichts anderes. Strand, Meer und Möwen, deren Geschrei im Gegensatz zu den Wellen nie abebbte. Harald und ich sind immer über die Tetrapoden gesprungen, das sind aus Beton gegossene Gebilde, die vier große Füße in alle Richtungen hatten. Sie waren eingegraben im Dünensand von Westerland. Nur einer der vier Füße ragte nach oben weg, die anderen krallten sich in den Boden und sollten Wellen bei einer Sturmflut brechen. Ich werde es nie vergessen. Harry war schon groß genug, um erfolgreich von Betonspitze zu Betonspitze zu springen. Ich jedoch wollte es ihm nachmachen, hatte aber zu kurze Beine, sprang dementsprechend kürzere Distanzen und fiel immer wieder zwischen die Spitzen und schürfte mir alles auf, was beim Sturz Kontakt mit dem harten Beton bekam.

    Trotzdem war das toll – eine super Freizeitbeschäftigung. Später schaffte ich es dann ja auch. Toll waren auch alles Andere, die Insel, der Strand, das Meer, die Gezeiten, Wattwürmer und Dünen, das ganze Leben da, mit beiden Eltern.

    Kühren dagegen hatte erst mal nichts Schönes. Keine Promenade, Kein Meer mehr. Nur einen See in vier Kilometer Entfernung. Pohnsdorf, was für ein Name! Und viele Bauern. Überall. Jedes zweite Haus war ein Bauernhof.

    Cool dagegen war, dass ich in meiner eigenen Grundschule wohnte. Unten im Haus die Klassenräume, oben Dienstwohnungen für Lehrkräfte, die im Ort unterrichteten. Meine Mutter war eine von ihnen.

    Wir waren anfangs wie Geächtete. 1966.

    „Eine geschiedene Frau. – „Allein. - „Mit zwei Kindern. - „In unserem Dorf? - „Und die soll auch noch hier unterrichten?"

    In den ersten Jahren gab es ziemlich schlimmes Gerede im Dorf. Zum Glück war meine Ma eine redegewandte und freundliche Frau, bei den Schülerinnen und Schülern sehr beliebt, und konnte sich und uns im Dorf integrieren. Später gehörten wir dazu.

    Vattern, wegen dem wir von „unserer" Insel mussten, tauchte Jahre nicht mehr auf. Er hatte eine neue Familie, wie es hieß und keine Zeit mehr für uns. Um Unterhalt wollte meine Mutter nicht kämpfen, sie war zu stolz. Sie hat es nie gemacht und er konnte finanziell unbelastet ein neues Leben mit einer neuen Familie starten.

    Zwei Mal bekamen wir Besuch von meinem Vater in Kühren. Beim ersten Mal hat er mir als neunjährigem eine Melodika geschenkt. Ein Tasteninstrument, bei dem durch Hineinblasen Harmonika ähnliche Töne entstehen. Damit begann mein Interesse an Musik erneut aufzuflammen. Vorher hatte ich eine Blockflöte wie alle, aber dieses Teil war schon richtig klasse, weil man wie auf einem Klavier auch mehrere Töne gleichzeitig spielen konnte.

    Beim zweiten Besuch meines Vaters war ich etwa dreizehn und gerade beim Klauen in Plön erwischt worden. Ich hatte gerade nach meinem Klavierunterricht im Kaufhaus diesen riesigen Schieber-Schlepper mit Anhänger und Zubehör geklaut. Wieder aus dem Laden in Sicherheit packte ich alles aus und bemerkte eine verbogene Achse, die das gesamte Spielzeug unbrauchbar machte. Beim zweiten Versuch einen heilen Schlepper zu „organisieren" hatte man mich schließlich doch erwischt.

    Man rief meine Mutter an. Sie sollte mich abholen. Es kam dann aber mein Vater in den Laden und löste mich aus den Fängen des Ladendetektivs. Am liebsten wäre ich im Boden versunken, weil ich ihn nicht gern unter diesen Umständen nach Jahren wieder traf.

    Später, mit vierzehn Jahren, besuchte ich ihn in Geesthacht. Ein schönes großes Haus, viele Zimmer, ein riesiges Wohnzimmer mit Terrasse und Garten, großes Auto, drei Kinder und die neue Frau Heike, die ich sehr mochte. Im Keller seine „Kellerbar, in der er seine Partys zu feiern pflegte. Ich bin einige Male zu diversen Festivitäten hingefahren. Dann waren alle seine Kollegen da und seine „Nebenfrauen, wie er seine weiblichen Gäste scherzhaft nannte. Schon früh am Nachmittag knallten die Korken und zischten die Bierflaschen. Spät in der Nacht ging es dann hoch her. Ähnlich wie auf unseren Dorffesten von der Landjugend. Einziger Unterschied war, dass man sich zum Erbrechen und Pinkeln auf die Toilette verzog.

    Besonders beeindruckt hat mich damals, wie sehr Menschen an Glanz verlieren, wenn sie betrunken sind. Irgendwas hat mich vielleicht auch an frühere Zeiten erinnert. Vieles von dem, was ich in Geesthacht an Partys erlebt habe, hat mich eher abgestoßen. Und mein Vater mittendrin, grinst, lässt sich feiern und findet sich toll. Ich nicht.

    Das einzige Mal, dass ich meinen Vater unsicher und erschüttert erlebte, ich war noch Jugendlicher, war nach dem Tod von Heike nach langem Krebsleiden. Ich war noch nicht 18. So am Boden zerstört kannte ich ihn nicht. Nie. Auch nicht früher, als meine Mutter und er sich so stritten.

    Heikes Trauerfeier war ergreifend. In dem Moment, als der Sarg von ihr ins Grab gelassen wurde, öffnete sich die sonst dichte Wolkendecke und ließ einen hellen Sonnenstrahl auf uns scheinen. Sehr besonders.

    Als ich Mitte dreißig war, Ende der 90er, kam mein Vater an und sagte, er wolle meinen Bruder und mir jetzt schon unser Erbe auszahlen. Er hatte seine Sandkastenliebe Monika wiedergetroffen, war wieder mit ihr zusammengekommen und lebt nun mit ihr gemeinsam in einem Haus in Bremerhaven. Meine Halbgeschwister aus der zweiten Ehe, sollten wie Harald und ich ausgezahlt werden. Hierdurch wollte er im Falle seines Todes absichern, dass Monika im Haus bleiben könne und sich nicht um Erbstreitigkeiten kümmern müsse.

    Unser Vater zahlte meinem Bruder und mir jeweils fünfzehntausend Mark und wir verzichteten auf zukünftige Erbansprüche. Notariell beglaubigt, urkundlich festgehalten. Sven erklärte mir vor einigen Jahren jedenfalls, dass Nele, Lars und er keine Erbteile übertragen bekommen hätten oder aber abgefunden wurden, wie mein Vater uns weismachen wollte. Wir waren draußen, alle anderen drinnen.

    Ein weiteres befremdliches Erlebnis hatte ich, als ich bei einem Besuch auf die Familienchronik der Markmanns gestoßen bin. Ein 100 Seiten dicker Wälzer, voll mit Geschichten rund um die Familie, die mein Vater nach der Scheidung von meiner Mutter gründete. Neben all den schwärmerischen, liebevollen Blicken auf seine zweite Familie verlor er über Harald und mich kein Wort. Lediglich meine Mutter fand in wenigstens einem Satz Erwähnung: „Thea war ein Fehltritt, der zum Glück nach wenigen Jahren korrigiert werden konnte." So oder ähnlich. Am liebsten hätte ich das Buch verbrannt.

    In all den Jahren entwickelte sich leider keine emotionale Bindung mehr, keine Tiefe. Immer blieb es zwischen meinem Vater und mir auf eine gewisse Art oberflächlich und distanziert, eine unüberbrückbare Barriere.

    Mein Bruder ist dagegen als Achtzehnjähriger dort hingezogen. Er hatte die Drähte meines Vaters genutzt, um gleichsam seinen Wehrdienst bei der Marine absolvieren zu können und lebte zwei oder drei Jahre im Haushalt meines Vaters. Er lernte auch unsere drei Halbgeschwister besser kennen als ich.

    Hier in Bremen hat mich mein Vater auch einmal besucht. Er war in der Nähe und kam einmal tatsächlich hier an. Ich war schon über Vierzig.

    Ein großer Teil der Gespräche während seines Besuches drehte sich um den Stadtteil in dem wir lebten. Er war nicht davon abzubringen, seine längst überholten Vorurteile über problematische Brennpunkte zum Besten zu geben, die in Großstädten entstehen.

    Ich erinnere dann auch nur schwerlich nette Gesten, angenehmen gegenseitigen Austausch und solche Dinge. Eher fallen mir dann seine Fragen ein wie: „Ja und beruflich bist du ja jetzt hoffentlich auch mal aufgestiegen oder?, „Kinder- und Jugendnotdienst? So eine Art Kinderheim? Passt du da auf die Kinder auf?

    Auf Kinder aufpassen! Im Leben hatte ich keinen stressigeren Job als dort. 36 traumatisierte Kinder und Jugendliche, drei Gruppen à 12, alle in extrem unklarer Lage. Gewalt und Aggression ohne Ende und höchst anstrengende Schichtdienste. Er erkennt nicht den Wert meiner Arbeit, sieht mich nicht.

    Ich hätte entgegnen können, dass er auch nur ein besserer und überbezahlter Busfahrer mit einem extrem teuren Bus ist. Flugkapitän hin, Pilot her.

    Er war dann auch schnell wieder weg mit seinem goldenen Mercedes Coupé.

    Bedeutsam war auch sein 70. Geburtstag. Standesgemäß wurde Schloss Glücksburg gebucht und alle seine Gefolgschaft, ich war einer davon, und er nebst seiner Monika feierten einen mittelalterlichen Geburtstag im Kellergewölbe mit Geschichtenerzählern, Gauklern und Musikern in alten heruntergekommenen Klamotten neben mittelmäßiger, eher lustlos und automatisiert aufgetragener Verköstigung. Nein, Getränke mussten diesmal nicht selbst übernommen werden, alles war gegeben vom alten Herrn. Die Situation war wirklich grotesk. Mein Bruder Harald kam aus Brasilien, alle drei Kinder aus der zweiten Ehe, Sven mit Petra und Nachkommenschaft, Nele mit Thorsten und Kindern, Lars mit seiner damaligen Partnerin auf der einen Seite, dann die drei Kinder von Monika aus ihrer ersten Ehe mitsamt Kindern und einigen weiteren Freunden kamen zusammen, um den Schöpfer des Ganzen zu feiern, meinen alten Herrn. Er fühlte sich gut, prahlte mit seinen vielen Nachkommen erster und zweiter Generation.

    Ich dagegen fühlte mich nicht zugehörig, fremd wie ein Besucher, trank nur Kaffee, habe mich nicht wirklich amüsiert und war froh, als ich wieder auf dem Heimweg war. Zu meiner Familie. Nach Hause.

    Schon blöd, wenn man sich nicht zuhause fühlt bei den eigenen Eltern. Wenn alles so fremd ist bei Besuchen, wenn man steif bei denen im Wohnzimmer sitzt, sich nicht anlehnen möchte und zudem Hinweise erhält, wie man die gute Tasse in der Hand zu halten hat und wofür der Henkel ist.

    Zuletzt, das war Anfang 2008, schenkte er seinen hiesigen Kindern – Harry war in Ipanema und zu weit weg – eine Dreitageskreuzfahrt von Kiel nach Oslo und zurück.

    Ich habe mir tatsächlich gewünscht, in den drei Tagen auf dem Luxusdampfer mal mit ihm in ein persönliches Gespräch zu kommen, mal das eine oder andere an und auszusprechen. Vielleicht auch eine blöde Idee. Es hat ohnehin nicht geklappt. Einerseits habe ich mir vorgenommen, einen geeigneten Moment zu erkennen, in dem es sich vielleicht lohnen könnte, andererseits hatte ich auch nicht den Schneid, ihm zu eröffnen, dass ich Interesse an einem Gespräch unter vier Augen hätte. Ich kann ihm nicht vorwerfen, dass er nicht mit mir reden wollte. Er wusste ja nichts von meinen Vorüberlegungen.

    Aber es kam zu nix. Alle Zusammenkünfte während der Fahrt blieben auf schmerzlich oberflächlichem Geplänkel hängen. „Na Michael, Ha, ha, ha, das ist mal ein feines Boot oder? Amüsierst du dich auch? Ja? Schön." Eine Antwort war nicht nötig. Er feierte sich, seine super Idee, uns mal die Welt des Luxus zu zeigen und betonte mehrfach, wie großartig er seine Idee fand, uns so was Tolles bieten zu können. (fünf Tickets à Hundertfünfzig Euro) Getränke mussten wir diesmal selbst zahlen.

    Eine wirklich blöde Kurzreise. Das Schiff war natürlich beeindruckend. Alles sehr schick, teure Läden, eine „Einkaufsstraße" an Bord. Vierzehn Ebenen zum Erkunden. Ich war überall, wo man mich nicht sofort wieder weggeschickt hat. Durchgangsverbote, mit einer Kordel versehen, habe ich ignoriert und übersprungen in der Erwartung, noch mehr Interessantes zu entdecken. Zuletzt habe ich mich an Deck zu weit in den Wind über die Reling gehängt. Neptun war offenbar beim Augenarzt gewesen und brauchte eine neue, teure Gleitsichtbrille. Zack, war die meine durch eine plötzliche Windböe in Bruchteilen einer Sekunde von der Nase weg auf dem Weg zur Nase des Königs der Meere.

    Wirklich eine blöde Reise. Wir blieben uns fremd. Irgendwie. Aber ich liebe das Meer, Schiffe und die Seefahrt wie er. Und Fliegen ist das Größte. In dem Punkt sind wir beide eins. Uns menschlich nah kommen hatte dagegen keine Chance.

    4. Kalte Reise durch die weiße Nacht

    Ohne Nadia wäre ich völlig kopflos. Es tat so gut, von allem nur die Hälfte denken zu müssen, weil sie die andere Hälfte übernahm. Gut, dass sie so ruhig ist, so besonnen und so nah. Es war spät geworden, vier Uhr nachmittags und schon zappenduster. Mir war elendig kalt, als wir losfuhren. Erst vor wenigen Tagen kam der Winter kalt und überraschend.

    Trotz Heizung zitterte ich am ganzen Körper. Es war aber mehr als frieren. Ich war höllisch aufgeregt, wusste nicht, was mich erwartet. Immer wieder schüttelte es mich. Immer wieder spürte ich zum Glück die Nähe Nadias, die mich auf dem Boden hielt, mir unglaublich viel Kraft gegeben hat, alles Kommende durchzustehen.

    So besonnen wie möglich, feinfühlig in der Lenkung, im Schneckentempo über Land zu der seit heute leerstehenden Wohnung meiner Mutter…

    Ständig rollten mir die scheiß Tränen runter. Die konnte ich jetzt am wenigsten gebrauchen.

    Abgerissene Kurzgespräche.

    „Ich fasse es nicht. Fällt einfach um und ist nicht mehr. Was sollen wir denn jetzt alles machen?!"

    „Kriegen wir schon hin, das wird schon alles. Erst mal ruhig ankommen, Schlüssel holen und rein. Dann in Ruhe alle anrufen, Infos holen, Zettel machen, Abhaken."

    Ihre warme Hand auf meinem Rücken. Sie hatte recht. Wird schon irgendwie.

    „Scheiße. Sie hat vorgestern zwei Mal versucht, anzurufen. Ich Arsch bin nicht rangegangen."

    „Das war eben so, Michi. Man kann das nicht ändern und vielleicht hättet ihr euch dann

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